Collage: Der Kopf eines Mannes klappt an der Stirn auf, im Inneren seines Kopfes befindet sich ein Tortendiagramm.

Alyona Grishina, Marjan Blan/Unsplash

Internet und Technologie

So erkennst du virale Fake-Grafiken

Das sind die gängigsten Tricks, die dich in die Irre führen sollen.

Profilbild von Svenja Schlicht
Reporterin

Hundewelpe gegen Zinskurve, neuestes Taylor-Swift-Gerücht gegen Migrationszahlen oder auch Gaming-Livestream gegen Armutsbericht. Das sind kuriose Paarungen. Sie sind aber nicht zugespitzt, sondern Alltag im Internet, wo alles mit allem um die Aufmerksamkeit der Menschen konkurriert. Wer jeweils Siegerin in den drei Duellen ist, ist so eindeutig wie die deutsche Fußballmeisterschaft der Männer. Auf dem Rasen gewinnen immer die Bayern – und im Internet immer die Unterhaltung.

Das ist menschlich. Aber für Leute, die die Welt unbedingt von ihrer eigenen politischen Sichtweise überzeugen wollen, ist es ein Problem. Denn die Welt hört einfach nicht zu!

Deswegen begegnen uns im Internet jeden Tag Grafiken. Grafiken haben einen Vorteil: Sie machen Zahlen und Texte anschaulicher. So werden komplexe Themen auf einmal auch für Klicks verwendbar. Ihre meist nüchterne Optik, wissenschaftlich anmutenden Titel und zackigen Linien verleihen Aussagen und Zahlen eine gewisse Seriosität. Das aber reicht nicht. Um nicht unterzugehen, nutzen die Verbreiter:innen von Grafiken ähnliche Tricks, wie wir sie auch von schrillen Videos kennen: Dramatische Aussagen, steile Kurven und überraschende Zusammenhänge sind die Statistikantwort auf laute Musik, bunte Lichter und Jumpcuts.

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Aber genau wie bei viralen Videos stellt sich auch bei Grafiken die Frage: Kann das sein? Auch wenn sich in den vergangenen Jahren viele Dinge schnell verändern – die meisten großen Phänomene wie Mietpreise, Armut und Umweltveränderungen sind schleichende Prozesse. In der Wissenschaft gilt deswegen die Regel: Herausragende Behauptungen brauchen herausragende Belege. Und unglaubliche Fakten sind oft genau das: nicht glaubwürdig.

Themen wie Migration, Sexismus, Kriminalität, Armut und Mietkosten sind beliebt bei viralen Fake-Grafiken. Denn diese Themen sind emotional. Viele Menschen haben starke Meinungen dazu. Deshalb musst du sehr aufmerksam hinschauen, um Fehler oder Fakes zu erkennen. Als kleine Hilfe habe ich zusammengetragen, wie du virale Grafiken prüfen kannst.

1. Wurde die Grafik schon widerlegt?

Wenn viele Leute eine Fake-Grafik teilen, verbreiten sich einerseits die falschen Zahlen, aber es weckt auch die Aufmerksamkeit von Expert:innen. Gerade auf X dauert es meist nicht lange, bis sich Historiker:innen, Ökonom:innen oder Wissenschaftler:innen in den Kommentarspalten zu Wort melden. Schau’ dir also die Kommentare oder Zitate des Posts an. Die „Community Notes“ bei X machen es dir noch leichter, einen Überblick über die Kritik an einer Grafik zu gewinnen. Natürlich schleichen sich auch hier Fehler ein, aber meistens kannst du dir mit einem Blick in die Community Notes viel Zeit sparen.

Auch Fact-Checking-Portale wie Correctiv oder Politifact haben sich oft schon mit solchen viralen Grafiken auseinandergesetzt. Wenn klassische Medien dir nicht helfen, ist Reddit eine praktische Anlaufstelle. Besonders brisante Grafiken werden aber auch von Zeitungen aufgegriffen.

Das sogenannte Ravallion-Diagramm sorgt online seit Jahren immer wieder für Diskussionen. Der amerikanische Ökonom Martin Ravallion stellt darin eine steile These auf: Seit es den Kapitalismus gibt, gibt es weniger arme Menschen auf der Welt. Das ist die von uns leicht abgewandelte Grafik.

Die Grafik zeigt den Anteil armer Menschen an der Weltbevölkerung. Sie scheint immer weiter abzunehmen.

Sind wirklich immer weniger Menschen extrem arm? Diese Grafik behauptet das Krautreporter

Die taz hat sich die Grafik und ihre Daten genauer angeschaut und herausgefunden, dass Ravallion seine Aussage überwiegend auf das Bruttoinlandsprodukt stützt – ein Wert, der keine Aussagen über die Vermögensverteilung innerhalb eines Landes treffen kann. Auch andere Armutsfaktoren werden von Ravallion nicht bedacht. „Wenn im Zuge der Kolonisierung auf vormaligen Maisfeldern nun Baumwolle angebaut wird, schlägt sich das im BIP als wachsender Umsatz des Grundbesitzers nieder. Die Nahrungsmittelversorgung der Bauern verschlechtert sich aber eher“, so Jonas Waack in der taz.

2. Was genau wird hier gemessen?

Die Antwort auf diese Frage beginnt beim Titel einer Grafik. Gerade wissenschaftliche Studien und Grafiken glänzen selten mit knackigen Titeln. Trotzdem solltest du immer verstehen können, was die Grafik messen soll. Wenn aber die Maßeinheiten nicht zur vermeintlichen Aussage der Grafik passen, solltest du stutzig werden. Ein Beispiel: Eine Grafik trägt den Titel „Spektakulärste Bundesliga-Saison aller Zeiten”, zeigt aber nur die Zahl der gefallenen Tore. Dann weißt du jetzt zwar, dass die Torhüter viel beschäftigt waren. Wie spannend das eine Saison macht, ist aber streitbar. Außerdem stellt sich die Frage: Wie willst du messen, wie spektakulär ein Fußballspiel ist? Und wenn nicht klar ist, was die Grafik misst, dann ist auch unklar, was eine Grafik eigentlich sagt.

Auch die Achsen sorgen oft für Missverständnisse. Das größte Warnzeichen: An einer oder – noch schlimmer – an beiden Achsen fehlt die Beschriftung. Wie willst du so wissen, was hier gemessen wird?

Aber veränderte Achsenabschnitte sind der gängigste Weg, eine Grafik zu manipulieren.

Das hier ist die deutsche Kriminalitätsstatistik des Bundeskriminalamts von 1991 bis 2022. Wenn du mit diesen Zahlen eine dramatische Grafik bauen willst, hast du verschiedene Möglichkeiten.

Die Grafik zeigt die Anzahl registrierter Straftaten in Deutschland 2010 bis 2022. Hier schwankt die Zahl der registrierten Straftaten stark

Zwischen 1991 und 2022 schwankte die Zahl der registrierten Straftaten enorm… Krautreporter

Ein Weg, die Entwicklung anders darzustellen, ist, den X-Achsenabschnitt gezielt zu beschränken.

In dem ausgewählten Zeitabschnitt nimmt die Zahl der registrierten Straftaten in Deutschland stark zu

… aber diese Grafik vermittelt, die Zahl der registrierten Straftaten sei seit 2010 stark angestiegen Krautreporter

Mit dieser Grafik könntest du argumentieren, dass es einen Zusammenhang zwischen Geflüchteten und Kriminalität gibt. Dass die meisten Geflüchteten 2017 immer noch in Deutschland waren und die Kriminalität signifikant abgefallen ist, sieht man ja jetzt nicht mehr.

Wenn du aber sichergehen willst, dass diese Botschaft auch wirklich viel Aufsehen erregt, änderst du die Skala auf der senkrechten Y-Achse. Es gibt immer wieder fehlerhafte Grafiken, in denen sich die Zahlensprünge in unregelmäßigen Abschnitten bewegen und so die Kurve steil nach oben geht. Es kann auch bei seriösen Grafiken sinnvoll sein, die Y-Achse nicht bei null anfangen zu lassen. Bei manchen Statistiken verfälscht das aber den Eindruck.

Ein sehr prägnantes Beispiel für eine manipulierte Y-Achse war in den USA auf einem lokalen Ableger von Fox News zu sehen.

Auf dem Bild ist eine Grafik zu sehen, die „New Cases Per Day“ darstellt und anscheinend von dem Nachrichtensender FOX präsentiert wird. Es zeigt die täglichen neuen Fälle einer nicht näher bezeichneten Erkrankung über einen Zeitraum vom 18. März bis zum 1. April. Die Gesamtzahl der Fälle ist mit 3,342 angegeben. Die Datenpunkte zeigen Schwankungen in der Anzahl der täglichen neuen Fälle. Es fällt auf, dass die Skalierung der Y-Achse nicht linear zu sein scheint, was zu einer visuellen Verzerrung führen könnte.

190, 240, 250: Die Abstände in der Y-Achse schwanken stark Reddit

3. Die gängigsten Darstellungstricks

Bei irreführenden Grafiken sind das Problem nicht immer die Daten. Oft reichen schon kleine Kniffe, um Zahlen größer erscheinen zu lassen oder Entwicklungen zu dramatisieren.

Das hier sind die Ergebnisse der Landtagswahlen in Baden-Württemberg 2001.

Wahlergebnisse aus Baden-Württemberg

Ganz neutral: Die Ergebnisse der Landtagswahl in Baden-Württemberg Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 2/2006

Die Zahlen sind verlässlich und auch die Darstellung ist neutral. Mit den folgenden Tricks lassen sich aber aus diesen verlässlichen Zahlen ganz andere Eindrücke kreieren.

Eine beliebte Methode ist bestechend einfach: kleine Zahl, großer Balken. Zahlen prägen sich nicht so gut ein wie Bilder. Auch wenn die Zahlen stimmen, prägt sich der Eindruck von dramatischen Unterschieden ein.

Ein anderes Mittel sind dreidimensionale Grafiken. Auch hier stimmen die Zahlen meist. Aber je nachdem, wo der Schatten platziert wird, wirken Balken oder Anteile einer Tortengrafik auf einmal größer, als sie eigentlich sind.

Ein Kuchendiagramm, dass Wahlergebnisse aus Baden-Württemberg zeigt. Die Darstellung ist in 3D und dadurch verzerrt.

Als Kuchendiegramm wirkt der Anteil der kleinen Parteien größer Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 2/2006

4. Vorsicht bei diesen Kennzahlen

Um eine Grafik richtig einzuordnen, musst du die Werte verstehen, die sie abbildet. Ausgerechnet bei sehr gängigen Kennzahlen und Einheiten schleichen sich aber immer wieder Missverständnisse ein. Ich habe dir hier noch einmal die häufigsten Fehler zusammengetragen

Inflationsbereinigt versus nicht-Inflationsbereinigt

Einfach gesagt: Inflation führt dazu, dass ein bestimmter Geldbetrag weniger wert ist. Nach einem Jahr Inflation, mit zwei Prozent, müssen Preise also von 100 auf 102 Euro angehoben werden, um die gleiche Kaufkraft zu erhalten – diese angepasste Zahl ist inflationsbereinigt. In Grafiken werden manchmal inflationsbereinigte Zahlen und nicht bereinigte Zahlen verwendet, um Entwicklungen dramatischer darzustellen.

Prozent versus Prozentpunkte

Prozent beschreibt die relativen, Prozentpunkte die absolute Änderung zwischen zwei Zahlen. Die AfD hat bei der Landtagswahl 2023 in Bayern 14,6 Prozent geholt. Vorher bekam sie dort 10,2 Prozent der Stimmen. Das ist entweder eine Steigerung um 4,4 Prozentpunkte oder um 43,1 Prozent im Vergleich zur Landtagswahl 2018.

Median versus Durchschnitt

Durchschnitte sind vor allem praktisch, wenn Daten keine großen Ausreißer haben. Wenn eine 70-jährige Oma ihren 3-jährigen Enkel mit nach Rügen nimmt, senkt er den Altersdurchschnitt des Kurhotels gewaltig. Der Mittelwert – also der Median – des Kurhotels wird aber weiter bei 72 Jahren liegen.

5. Prüfe die Quellen

Ist bei einer Grafik keine Quelle angegeben, sollten bei dir die Alarmglocken angehen. Wenn Quellen angegeben sind, geben diese Anhaltspunkte darüber, wie verlässlich die Daten sind.

Sind Ministerien, Ämter oder staatliche Universitäten die Quelle, sind die Daten meist sehr verlässlich. Auch in diesen Datensätzen gibt es natürlich Annahmen und Tendenzen. Die Mitarbeitenden in Ministerien, Unis und Ämtern sind aber im Umgang mit Daten erfahren, arbeiten gründlich und unterliegen keinem Parteienzwang.

Sei skeptisch bei Stiftungen und politischen Parteien und prüfe ihre Agenda. Aber Vorsicht: Nur weil die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD nahesteht, müssen ihre Daten und Studien nicht schlecht sein. Du solltest bei jeder Grafik abwägen, ob die Quelle für das jeweilige Thema qualifiziert ist. Vorsichtig solltest du sein, wenn die Daten aus einer Quelle stammen, die ein eindeutiges Interesse an genau dieser Grafik hat, zum Beispiel, wenn Lebensversicherer zeigen wollen, wie groß das Rentenloch wirklich ist.

6. Sind die Daten verlässlich?

Auch seriöse Quellen arbeiten gelegentlich mit mangelhaften Daten. In vielen Fällen reichen simple Nachfragen, um Fehler zu finden.

Um wen geht es hier? Wer wurde gefragt? Wie viele Leute wurden gefragt oder wie viele Leute haben an der Studie teilgenommen? Wie wurden die Leute gefragt? Und vor allem: Was genau wurden sie gefragt?

Vor einigen Monaten machte diese Grafik die Runden: „Ein Drittel der Männer findet Gewalt gegen Frau akzeptabel“ titelten MDR, Spiegel und Zeit Online. Gerade in den sozialen Medien sorgte die Meldung für Wirbel. Mit den Daten gibt es aber Probleme.

Zum einen handelt es sich nicht um eine Studie, sondern um eine Onlineumfrage der Organisation „Plan International“. Die Autor:innen der Umfrage stellen selbst heraus, dass vor allem Menschen mit „einer etwas höheren Bildung, einer gewissen Computer-Affinität und einer natürlichen Neugierde und Mitteilungsbereitschaft“ an solchen Onlineumfragen teilnehmen. Um das zu korrigieren, haben sie eine Bildungsquote eingeführt, die ausreichend Teilnehmer ohne Schulabschluss, mit Hauptschul- oder mittlerem Schulabschluss garantieren soll. Die Faktoren Neugierde, Mitteilungsbereitschaft und Computeraffinität haben jedoch nichts mit Bildungsgrad, Alter oder Wohnregion einer Person zu tun.

Außerdem wurden in der Darstellung Angaben wie „eher ja“ mit „stimme voll zu“-Antworten zusammengerechnet, was die Überzeugung noch einmal verzieht.

Bei Marktforschung und Umfragen sind Institute immer von der Bereitschaft der Leute abhängig, mit ihnen zu reden – und einige tun das eher als andere. Auch die sehr saloppe Formulierung der Antworten und Tendenzen der Teilnehmenden ist ein Hinweis auf weniger wissenschaftliches Arbeiten. Gerade bei repräsentativen Umfragen kommt es aber auf Gründlichkeit an.

Es wird immer Grafiken geben, die du ohne das nötige Fachwissen nicht durchdringen kannst. Bei viralen Grafiken ist dein aufmerksames Auge aber das beste Werkzeug. Wenn dir Twitter also demnächst wieder eine Steilkurve über den Zusammenhang zwischen Taylor Swift und der Weltwirtschaft in den Feed spült: Quellen checken, Achsen prüfen und in die Kommentare schauen.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Rebecca Kelber, Fotoredaktion und Grafiken: Philipp Sipos