Eine Collage zeigt verschiedene Fotos aus der Krautreporter-Redaktion

© Krautreporter/Martin Gommel

Gute Nachrichten

Wir streiten uns jetzt besser

Stress mit den Kolleg:innen? Will niemand. Aber wir haben gelernt: Konflikte müssen in den Mittelpunkt.

Profilbild von Martin Gommel
Reporter für psychische Gesundheit

Von außen wirken Redaktionen und ihre Magazine und Nachrichtenseiten harmonisch. Niemand kann reingucken, weil der Büroalltag nicht ins Internet gestreamt wird. Du siehst das Krautreporter-Logo, unsere Texte und Bilder, das wars. Aber wenn Reporter:innen täglich zusammenarbeiten, flammen auch Konflikte auf.

Da ist die Kollegin, die sich über chronisch verspätete Antworten auf dringende Anfragen ärgert; der Reporter, der den Kommunikationsstil eines anderen als unangemessen empfindet; oder die Redakteurin, die sich wochenlang übergangen fühlt. Von allen.

„Na dann redet doch!“, könntest du einwerfen. Und du hättest recht. Wenn da nicht diese schräge Angewohnheit wäre, die du sicher kennst: zu schweigen, wenn man reden sollte.

Wir mögen Harmonie mehr als Zoff. Das hat nichts mit unserem Beruf zu tun, das empfinden die meisten Menschen. Manche haben sogar Angst vor einer Konfrontation. Kleine Probleme schieben wir lieber weg, sagen uns, dass es nicht so schlimm ist, aber wenn Micha sich erneut im Ton vergreift, kracht es.

Konflikte sind wie Kaugummis im Haar. Wenn man sie ignoriert, verhärten sie sich. Das gilt nicht nur für den Zwist zwischen Partner:innen, Freund:innen oder Schwiegersöhnen und -eltern, sondern erst recht für den Arbeitsplatz.

Das kann dazu führen, dass sich Leute konsequent aus dem Weg gehen, nicht mehr miteinander sprechen. Wir bei Krautreporter sind überzeugt, dass Konflikte geklärt werden sollten. Dafür benutzen wir seit einem Jahr einen Trick.

Einander in den Kopf schauen

Der Beziehungsraum ist ein Treffen im Drei-Wochen-Rhythmus, bei dem die gesamte Redaktion vor Ort ist. Dieses Treffen hat keinen anderen Zweck als dass wir zwischenmenschliche Probleme ansprechen, die wir im redaktionellen Miteinander erleben.

Mit „wir“ meine ich alle. Von den Praktikant:innen über Volontär:innen, Redakteur:innen, feste Freie bis hin zur Geschäftsleitung. Jede:r hat das Recht, zu sagen: Ich möchte heute ein Problem besprechen und es betrifft Frank.

Wir Menschen sind füreinander wie das Schlafzimmer der Queen. Niemand kann in uns hineinsehen. Was in unseren Köpfen geschieht, bleibt (Gottseidank!) unser Geheimnis.

Aber bei einem Konflikt können wir nicht davon ausgehen, dass die andere Person weiß, was wir denken. Wir müssen es sagen, unsere Bedürfnisse und Wünsche äußern.

Es erfordert Mut, so etwas zu sagen und ist womöglich riskant. Weil wir nicht wissen, was im Kopf der anderen Person dann geschieht. Sie könnte Scheußliches über uns denken und uns infolgedessen meiden. Wer will das schon?

Mit der stärksten Spannung beginnen

Wenn wir im Beziehungsraum über Probleme sprechen, haben wir klare Regeln, an die wir uns halten. Dabei hilft uns Esther, die jedes Meeting moderiert.

Zu Beginn setzen wir uns in einen Stuhlkreis und starten den sogenannten Deep Check-in. Der Reihe nach erzählt jede:r, wie es ihm:ihr gerade geht. Dabei helfen auf dem Boden ausgelegte Karten. Ich könnte also sagen: Mein Bedürfnis nach Produktivität ist gerade gestillt, aber das nach Ruhe nicht, weil ich mich im Großraumbüro kaum konzentrieren kann.

Auf dem Bild sind zahlreiche gelbe Karten zu sehen, die in scheinbar zufälliger Anordnung auf einer Oberfläche verstreut liegen. Jede Karte trägt ein anderes Wort, wie zum Beispiel Schönheit, Bewegung, Ordnung, Autonomie und Fairness. Diese Worte vermitteln verschiedene Konzepte und Werte, die möglicherweise zur Selbstreflexion oder als Impuls für Diskussionen und Aktivitäten verwendet werden könnten.

Foto: Krautreporter

Vor dem Meeting macht sich jede:r Gedanken, ob er:sie mit jemandem im Beziehungsraum etwas besprechen möchte. Das nennen wir eine Spannung. Dieser Spannung gibt man eine Stärke: eins ist schwach, zehn ist sehr dringend. Die Person mit der stärksten Spannung beginnt, hierzu ein Beispiel:

Björn hat eine Spannung mitgebracht und sie auf einer Acht einsortiert. Weil sonst niemand eine Spannung hat, darf er loslegen. „Hanna, letzte Woche hatten wir ein Gespräch über meine Texte und das war nicht gut für mich.“ Björn hat es richtig gemacht, er hat erst einmal neutral die Situation geschildert.

Im nächsten Schritt beschreibt Björn, wie er sich gefühlt hat und sagt – in einer perfekten Welt – zu Hanna: „Mich hat es irritiert, dass du dir dafür nur fünf Minuten Zeit genommen hast und dann schnell gehen musstest. Hinterher war ich frustriert.“

Danach kann er sein Bedürfnis, das in diesem Moment nicht erfüllt wurde, nennen: „Ich habe mich nicht wertgeschätzt und ernst genommen gefühlt.“ Und dann holt er noch einmal Luft und formuliert einen Wunsch: „Für mich wäre es gut, wenn du dir für solche Treffen mindestens 20 Minuten Zeit nimmst.“

Miteinander redend sich in die Augen schauen

Ich muss dazusagen, dass unser fiktiver Björn eine Bilderbuchversion geleistet hat. In unseren Meetings laufen solche Gespräche nicht so glatt ab, weil, nunja, Gefühle dazwischenkommen. Bin ich nervös, wird es mir schwerfallen, mein Bedürfnis auszudrücken.

Meine Community auf Twitter habe ich gefragt, ob sie Konflikte mit Kolleg:innen fürchtet. Knapp 1.000 Menschen nahmen daran teil. Jede:r Dritte klickte meistens an, etwas weniger als die Hälfte hat manchmal Schiss davor. Es ist also normal, vor und während eines Konfliktes angespannt zu sein.

Screenshot: Martin Gommel stellt auf Twitter eine Umfrage mit der Frage: "Fürchtest du Konflikte mit Kolleg ?" Von den insgesamt 978 abgegebenen Stimmen geben 32 % der Teilnehmer an, dass sie meistens Konflikte mit Kollegen fürchten. Eine Mehrheit von 44,1 % gibt an, dass sie manchmal solche Konflikte fürchten, während 23,9 % der Befragten angeben, dass sie nie Angst vor Konflikten mit Kollegen haben. Die Umfrage hat noch sechs Stunden Laufzeit und zeigt damit ein breites Spektrum an Einstellungen gegenüber Konflikten am Arbeitsplatz.

Meine Umfrage auf Twitter Screenshot: Krautreporter

Was wir lernen mussten, Björn hat es vorgemacht, ist die sogenannte Gewaltfreie Kommunikation. Das ist eine bestimmte Art, in Konflikten miteinander zu sprechen und sich hinterher in die Augen schauen zu können.

Bevor Hanna auf Björn antworten kann, muss sie etwas tun: Das, was er gesagt hat, so lange zusammenfassen, bis er damit zufrieden ist. Dann kann sie dazu Stellung nehmen, und danach muss Björn spiegeln, was sie gesagt hat. Das wiederholen die beiden so lange, bis sich der Konflikt beruhigt. In vielen Fällen ist er dann auch gelöst.

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Der Sinn des Spiegelns ist, dass Björn sich von Hanna verstanden fühlt und mit Sicherheit weiß, dass sie nichts in seine Worte hineinlegt oder interpretiert, was er nicht gesagt hat. Somit werden Missverständnisse immer an der Stelle aus dem Weg geräumt, an der sie meistens entstehen. Das Spiegeln kann es schaffen, dass sich Björn gesehen fühlt und auch tatsächlich gesehen wird.

Eine Freundin hat vor vielen Jahren mal gesagt: „Lob vor anderen zählt doppelt.“ Und das Beste am Beziehungsraum ist der Schluss, die sogenannte Wertschätzungsrunde. Wer will, kann eine andere Person wertschätzen, das heißt ihr sagen, was sie ihr gut findet. Das fühlt sich an, wie in den Arm genommen werden.

Es ist, wie jemandem beim Ausziehen zuzuschauen

Bei harten Konflikten ist es intensiv. Für alle. Wir hatten vor ein paar Monaten einen Fall, bei dem ich feuchte Hände bekam, weil ich vom Zuschauen nervös wurde. Da saßen sich zwei gegenüber, und ich konnte spüren, wie es zwischen ihnen brodelte. Würde einer von beiden gleich schreiend aufstehen und türballernd den Raum verlassen?

Ich habe die neuen Reporter:innen gefragt, wie sie den Beziehungsraum empfinden. Lea sagte: „Es ist manchmal komisch, bei einem Konflikt zuzusehen, wenn man selbst nicht beteiligt ist.“ Man wolle eigentlich wegsehen, sagte Isolde. Lars spürt manchmal Angst davor, im Meeting angesprochen zu werden: „… und dass dann öffentlich verhandelt wird.“

Aber: Alle halten es für sinnvoll, dass es den Beziehungsraum gibt. „Das Gute ist, dass fachliche Gespräche und Konflikte nicht miteinander vermischt werden“, sagte Katrin. Nabieha meinte: „Das Meeting nimmt die Hemmung, einen Konflikt anzusprechen, weil alles moderiert wird und man sich gegenseitig spiegeln muss, was man gesagt hat.“

Oder Däumchen drehend beim Theater zuzusehen

Ich glaube, dass der Beziehungsraum eine hervorragende Möglichkeit ist, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass zwischenmenschliche Konflikte Teil der Arbeit sind und davon nicht getrennt werden sollten. Stattdessen stellen wir sie alle drei Wochen in den Mittelpunkt.

Das Beisein aller Anwesenden hat zudem einen lindernden Effekt, was die Intensität des Konfliktes betrifft. Es ist schwerer, aus der Haut zu fahren und Türen zuzuschlagen, wenn der Rest der Redaktion drumherum sitzt. Schließlich macht man sich damit sofort unbeliebt. Gleichzeitig ist so ein Treffen auch ein wenig „Theater“. Wer nicht betroffen ist, kann die Beine übereinanderschlagen und däumchendrehend dabei zusehen, wie sich zwei Leute vor Publikum zanken. Aber dieses Theaterstück kann auch ein Wegweiser sein.

Man kann zum Wohlbefinden beitragen

Weil sich die Betroffenen an die Regeln der gewaltfreien Kommunikation halten, lernen wir beim Zusehen, wie ein Konflikt ohne „Du Trottel!“, „Jetzt hast du mich aber getriggert!“ oder „Selber!“ angesprochen und gelöst werden kann.

Marshall Rosenberg, der das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation entwickelt hat, schrieb 1999: „Je mehr wir auf diese Weise üben, desto mehr erkennen wir eine einfache Wahrheit: Hinter all den Botschaften, von denen wir uns haben einschüchtern lassen, stehen einfach Menschen mit unerfüllten Bedürfnissen, die uns bitten, zu ihrem Wohlbefinden beizutragen.“

Auch wir bei Krautreporter sagen nach jedem Beziehungsraum-Meeting: Wie gut, dass wir diese Möglichkeit haben!


Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos