Vielleicht wird man in ein paar Jahrzehnten sagen, dass die Geschichte darüber, wie das Menstruationstabu in Indien gebrochen wurde, entscheidend mit der Liebe zweier Männer zu tun hatte: mit der von Arunachalam Muruganantham, einem ungebildetem Arbeiter aus dem Süden, und der von Tuhin Paul, einem Designstudenten in der Großstadt Ahmedabad im Westen des Landes. Beide haben unabhängig voneinander etwas getan, das Männern in Indien eigentlich verboten ist. Sie wollten wissen, wie es ihren Partnerinnen ging, wenn sie menstruieren. Die Antworten, die sie bekamen, waren der Auslöser für zwei Projekte, die das Leben von Millionen Frauen in Indien ändern könnten.
Arunachalam hatte seinen Aha-Moment schon 1998, als er Ende zwanzig und frisch verheiratet war. Eines Tages bemerkte, wie seine Frau Shanti einen dreckigen Lappen vor ihm verstecken wollte. Entsetzt begriff er, dass sie mit dem Stofffetzen ihr Blut auffing. „Ganz ehrlich, ich hätte das Ding noch nicht einmal benutzt, um meinen Roller sauberzumachen“, erinnert er sich. Er fragte seine Frau, warum sie sich denn keine Binden kaufte. Und bekam die Antwort, dass die so teuer waren, dass sie dann nicht mehr genug Geld für Milch haben würde.
Alle paar Wochen von einem Fluch heimgesucht
Tuhin wiederum fragte seine Freundin erst vor ein paar Jahren während des Studiums neugierig, wie sich diese Menstruation, die er nur aus Biologiebüchern kannte, für sie anfühlte. Er sei, sagt er, „total schockiert“ gewesen, als Aditi ihm erzählte, wie viel Vorurteile und Verbote den Prozess umgaben. Sie war zwölf, als sie ihre erste Blutung bekam, niemand hatte sie vorgewarnt. Dann erklärte ihre Mutter, dass sie ihre Periode vor allen geheim halten müsste, selbst vor ihrem Vater und ihrem Bruder. Sie durfte sich nicht auf das gleiche Sofa wie andere Familienmitglieder setzen, keine Pickles (sauer eingelegtes Gemüse) anfassen, nicht an Festen teilnehmen und keine Tempel betreten. Selbst in der Schule wollte der nette Biologielehrer das Kapitel über den weiblichen Zyklus nicht durchnehmen, sondern bat die Schüler, es alleine zu lesen. Aditi bekam das Gefühl, dass sie alle paar Wochen von einem Fluch heimgesucht wurde, der sie zu einer Aussätzigen machte. Auch als Erwachsene fühlte sie sich jeden Monat wie beschmutzt.
Beide Männer zogen aus den Gesprächen mit ihren Frauen Konsequenzen, gingen dabei jeweils aber in eine völlig andere Richtung.
Arunachalam ist ein Erfindertyp, der ans Zupacken gewohnt ist. Einer, der sich in eine Sache reinfuchst, bis er eine Lösung gefunden hat. Nachdem er den Schock über Shantis scheußlichen Lappen überwunden hatte, beschloss er, einfach selbst eine preiswerte Damenbinde zu entwickeln. Es dauerte mehrere Jahre, in denen er einige wilde Experimente mit Baumwolle und Ziegenblut trieb. Aber schließlich schaffte er es: Er fand nicht nur heraus, wie er ordentliche Binden herstellen konnte, die ein Drittel des Ladenpreises kosteten, sondern baute auch gleich eine einfache Maschine, mit der es jeder hinbekommen konnte. Mittlerweile hat er tausende davon hergestellt und verkauft. Seine Kunden sind meist arme Frauen in ländlichen Regionen.
Die Bedeutung seiner Erfindung ist viel größer, als man denkt, wenn man die besonderen Verhältnisse in Indien nicht kennt. Shantis Problem war bei weitem keine Ausnahme. Laut einer Studie der NGO Plan India sind 355 Millionen Frauen in Indien in einem Alter, in dem sie menstruieren. Die wenigsten kennen Binden oder können sie sich leisten. 88 Prozent versuchen das Blut mit Stofffetzen, Asche, getrockneten Blättern und Zeitungspapier aufzufangen.
Die Stofffetzen wären die einzige hygienische Alternative in dieser Liste, wenn die Frauen sie ordentlich waschen könnten. Genau das geht aber nicht, weil es das Tabu um die Blutung gibt. Niemand darf sie sehen. Häufig bekommen sie Infektionen von den verkeimten Lappen, und es gibt sogar Vermutungen, dass die schlechten Menstruationshygiene schuld daran sein könnte, dass so viele indische Frauen an Gebärmutterhalskrebs sterben (laut Weltgesundheitsorganisation WHO sind es 27 Prozent der weltweiten Fälle). Mehr noch: Fast ein Viertel der indischen Mädchen gehen nicht mehr zur Schule, wenn sie ihre Tage bekommen haben. Selbst wenn sie Binden haben, stehen sie immer noch vor dem Problem, dass es in vielen Schulen keine Toiletten gibt.
Ein gewaltiges, totgeschwiegenes Problem
Bei Tuhins Freundin lag die Sache anders. Sie hatte kein Versorgungsproblem, ihr machten die Scham und das soziale Stigma zu schaffen. Tuhin, daran gewöhnt, Probleme intellektuell zu lösen, las im Internet erst einmal alles, was er an Informationen über Menstruation finden konnte. Danach sprach er mit Aditi. Und stellte fest, dass sie viele grundlegende Fakten über diesen Vorgang, der in ihrem eigenen Körper stattfand, nicht kannte. Aditi, eine gut ausgebildete junge Frau, die in einer Großstadt lebte und sehr gut wusste, wie sie an Informationen herankam. Sie hatte sich einfach zu sehr geschämt, um mehr wissen zu wollen. Wenn aber schon sie so schlecht Bescheid wusste, wie erst musste es ungebildeten Frauen gehen? Den beiden dämmerte, dass sie es mit einem gewaltigen, totgeschwiegenen Problem zu tun hatten, und dass sich das ändern musste.
Was sich aus dieser Erkenntnis entwickelt hat, ist weniger handfest und greifbar als die Bindenmaschine, aber vielleicht nicht weniger einflussreich: Das Paar hat ein Comicbuch entwickelt, das Mädchen und Frauen aufklären soll. In “Menstrupedia” erklärt eine Ärztin ihrer Schwester und deren Freundinnen, was während der Pubertät mit ihrem Körper passiert. Auf dem dazugehörigen Informationsportal bildet sich eine wachsende Community, in der junge Frauen über ihre Erfahrungen bloggen. Eine zum Beispiel, wie sie am ersten Tag ihrer Blutung dachte, dass sie innere Verletzungen oder Krebs hatte. Andere schreiben Gedichte über ihre Periode. Aber auch junge Männer, die das Comic gelesen haben, hinterlassen nachdenkliche Kommentare.
Für ihre Familien, sagt Aditi, sei es am Anfang schwierig gewesen, dass ihre Kinder ausgerechnet über dieses Thema in der Öffentlichkeit sprachen. Mittlerweile aber seien sie stolz. Immerhin stand das Paar bereits für einen Ted-Talk auf der Bühne (Video auf Englisch):
https://www.youtube.com/watch?v=bpROqmb5I8k
100.000 Besucher besuchen die Seite jeden Monat. Das erste Kapitel kann man auf Englisch und Hindi online lesen, bald soll es auch in regionale Dialekte übersetzt werden. Das 88-seitige Buch kostet 475 Rupien oder 6,45 Euro. Inzwischen haben 15 Schulen in Indien den Comic auf ihren Lehrplan gesetzt. Es ist ein kleiner Anfang, aber die Reaktionen, sagt Aditi, seien überwältigend. Und überwiegend positiv, weil es keine drastischen Zeichnungen im Buch gibt, die konservative Leser brüskieren könnten - alles ist sehr mädchenhaft, hübsch und harmlos.
Illustration: Menstrupedia
Arunachalam ist da schon viel weiter - und sein Weg war härter. Er hat heftige soziale Demütigungen hinter sich, zwischendurch hatte ihn sogar seine Frau verlassen, weil es ihr zu viel wurde, als ihr Mann „zu Forschungszwecken“ gebrauchte Damenbinden von Studentinnen mit nach Hause brachte. Mittlerweile ist Shanti aber längst wieder bei ihrem Mann. Schließlich ist er nicht mehr der Verrückte aus dem Dorf, sondern ein bekannter sozialer Held, dessen Bindenmaschine in fast allen indischen Staaten steht. Das Time-Magazin hat ihn 2014 zu einem der 100 einflussreichsten Menschen der Welt gekürt. Und seit der Filmemacher Amit Virmani einen Dokumentarfilm über ihn gedreht hat, kennt man ihn noch unter einem anderen Namen: „Menstrual Man“, der Menstruations-Mann, so wie der Titel des Films. „Das nimmt er locker“, meint der Regisseur.
https://www.youtube.com/watch?v=S3567Hx_U98
Hier könnte die Geschichte der indischen Menstruationspioniere ein vorläufiges Happy End haben - wenn es nicht noch einen dritten Protagonisten gäbe. Den entdeckt man, wenn man sich das Menstrupedia-Comic etwas genauer ansieht. Auf Seite 25 greift die Ärztin Priya ins Badezimmerregal nach einer Bindenpackung, deren Marke klar erkennbar ist: Es sind keine No-Name-Einlagen, sondern “Whisper Ultra Clean“. Die grüne Verpackung und das Logo sehen den “Always”-Packungen, die man in deutschen Drogerien kaufen kann, verdächtig ähnlich. Und tatsächlich werden sowohl “Whisper” als auch “Always” von Procter & Gamble produziert. Zwischen den Projekten des Menstruations-Manns und dem der beiden Studierenden gibt es also einen entscheidenden Unterschied: “Menstrupedia” wird von einem milliardenschweren Konsumgüterriesen gesponsert.
Illustration: Menstrupedia
In dieser Tatsache offenbart sich ein Mentalitätsunterschied, der vielleicht auch eine Generationsfrage ist. Aditi und Tuhin sind zwanzig Jahre jünger als Arunachalam. Sie verkörpern genau das, was man sich unter der Zukunft Indiens vorstellt: Sie sind smart, urban, gebildet, jung. Sie mögen Ideale haben, aber das heißt nicht, dass sie den Kapitalismus nicht verstanden hätten. Arunachalam dagegen ist ein Typ, der jetzt schon ein bisschen wie ein Relikt der Vergangenheit wirkt: ein in armen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsener Schulabbrecher, bei dem man deutlich hört, dass er sich selbst Englisch beigebracht hat.
Der sich bis heute weigert, seine Erfindung an größere Unternehmen zu verkaufen, weil seine Bindenmaschinen Frauenprojekten in ländlichen Regionen helfen sollen, die damit selbst zu Produzentinnen werden können. Der sagt, dass ihm Geld nicht wichtig sei: “Wenn man reich wird, hat man eine Wohnung mit einem extra Schlafzimmer - und dann stirbt man.”
Aditi wird ein bisschen defensiv, wenn man sie nach dem „Whisper“-Sponsoring fragt. “Menstrupedia” könnte sich auch allein über die Buchverkäufe und Anzeigen halten, sagt sie. Immerhin hätten sie und Tuhin ihre gesamten Ersparnisse in das Projekt investiert und dann noch einmal 516.230 Rupien (ca. 7.200 Euro) per Crowdfunding eingesammelt.
https://www.youtube.com/watch?v=xlhdrcR2D9M
Aber Aditi ist auch klar, dass Unterstützung durch den Milliardenkonzern ihrem Projekt eine viele größere Reichweite gibt. Zumal Procter & Gamble in Indien in Schulen eigene Aufklärungsprogramme über menstruelle Hygiene betreibt, die 3,5 Millionen Mädchen im Jahr erreichen und in die “Menstrupedia” genau hineinpasst. Das Unternehmen nimmt auch in Youtube-Videos indische Menstruationsmythen auf die Schippe, wie in der “Touch The Pickle”-Kampagne (in der die Mädels, wie in jeder Bindenwerbung der Welt, mit weißen Röcken und Hosen durch die Gegend springen).
Auch Procter & Gamble hat also ein Interesse daran, dass indische Frauen mit ihrer Periode leichtherziger umgehen. Denn der Markt für Damenhygiene-Produkte ist in Indien noch so unerschlossen, dass jedem Marketing-Strategen beim Anblick der Zahlen das Herz aufgehen würde: Nur zwölf Prozent der indischen Frauen, die menstruieren, nutzen Binden. Das heißt, es gibt etwa 312.400.000 potenzielle Whisper-Kundinnen. Eine Packung mit sieben Binden, wie sie im “Menstrupedia”-Comic gezeigt wird, kostet auf Amazon India 65 Rupien - also knapp ein Euro. Man muss die genaue Gewinnmarge des Herstellers nicht kennen, um zu wissen, dass das ein Riesengeschäft ist. Das Wachstum im Bereich von Damenhygiene-Produkten, steht im Jahresbericht 2013/2014 des Unternehmens, sei zweistellig, der Aktienwert von “Whisper” habe einen Höchstwert erreicht.
Vielleicht wird man also, wenn man in ein paar Jahrzehnten davon erzählt, wie das Menstruationstabu in Indien in die Brüche ging, doch nicht von der Liebe Arunachalams zu Shanti oder von Tuhin zu Aditi erzählen. Sondern davon, wie ein Unternehmen mit einer schlauen Strategie einen riesigen Markt in Indien eroberte.
Aufmacherbild: Aus dem Comic „Menstrupedia“