5 Frauen in bunten Kleidern stehen zusammmen.

© Michael Matus

Geschlecht und Gerechtigkeit

Es gibt kein Matriarchat – doch Juchitán ist ziemlich nah dran

Friederike Oertel hat an einem Ort gelebt, an dem die Frauen das Sagen haben. Hier berichtet sie, was sie dabei fürs Leben in Deutschland gelernt hat.

Profilbild von Nina Roßmann
Freie Reporterin

Friederike Oertel ist Journalistin und hat drei Monate im mexikanischen Juchitán verbracht, das als eines der letzten Matriarchate bezeichnet wird, als Gesellschaftsordnung also, in der Frauen die zentrale Stellung einnehmen.

Matriarchale Kulturen, die anders funktionieren als unsere patriarchalen, findet man in allen Teilen der Welt. Da wären zum Beispiel die rund drei Millionen Minangkabau auf der indonesischen Insel Sumatra, die Khasi in Nordindien, die Mosuo in China oder eben die Zapotek:innen in Juchitán. Nur in Europa sieht es mau aus, allein die estnische Ostseeinsel Kihnu wird teilweise als Matriarchat beschrieben. Matriarchal geprägte Gesellschaften nehmen weltweit ab, patriarchale dagegen zu.

Juchitán befindet sich im südlichen Bundesstaat Oaxaca, einem der ärmsten Bundesstaaten Mexikos. Hier bestimmen die Frauen das Stadtbild, halten die wirtschaftliche Macht in ihren Händen, können Kinder und Erwerbsleben bestens vereinbaren und vererben ihren Besitz an ihre Töchter. Was können wir von Juchitán lernen? Sind im Matriarchat die Männer von den Frauen abhängig? Und leben Frauen im Matriarchat wirklich besser? Im Interview spricht Friederike Oertel darüber, warum auch im Matriarchat nicht alles perfekt läuft.

Eine junge Frau mit halblangen Haaren blickt in die Kamera. Sie trägt eine Jeans und ein blaues Oberteil.

© Fiona Körner

Mit Ende 20 bist du zu deiner Reise nach Juchitán aufgebrochen. Welche Erwartungen hattest du?

Friederike Oertel: Damals war ich in einer handfesten Lebenskrise. Ich habe sehr viel mit mir gehadert, aber auch mit meiner Rolle als Frau in der Gesellschaft. Ich hatte auch das Gefühl, auf der Stelle zu treten, festzustecken. Ich musste dringend mal raus. In einem Antiquariat hatte ich ein paar Monate zuvor das Buch „Juchitán, Stadt der Frauen“ gekauft. Seit ich es gelesen hatte, wollte ich dorthin. Nun war der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich wollte wissen: Wie kann es anders gehen? Wie ist es, wenn die Frauen das Sagen haben? Das war das Versprechen, das ich im Kopf hatte. Es hatte etwas sehr Hoffnungspendendes.

Was war denn in Juchitán anders als bei uns?

Das Erste, was einem auffällt, wenn man ins Stadtzentrum von Juchitán fährt, ist der große Marktplatz. Und der ist in Frauenhand. Die Männer fahren raus in die Periphere, betreiben Landwirtschaft oder Fischerei. Die Frauen verarbeiten weiter, was sie ihnen liefern und verkaufen es auf dem Markt. Aus Obst wird Saft, aus Maismehl werden Tortillas, die Hühner werden geschlachtet, gerupft und zerlegt. Auf den ersten Blick scheint es, als würden die Frauen die sichtbare Arbeit erledigen, die Männer die unsichtbare. Frauen sind es, die das Geld einnehmen, verwalten und innerhalb der Familie entscheiden, wofür es ausgegeben wird. Die Männer arbeiten im Hintergrund.

Bedeutet das, dass die Männer von ihren Frauen abhängig sind?

Genau wie bei uns gibt es eine große Co-Abhängigkeit. Bei uns können Männer ihre Arbeit auch nur machen, weil Frauen den Großteil der Carearbeit erledigen. Wenn sich die Frauen hier plötzlich nicht mehr um Kinder, alte Menschen und den Haushalt kümmern würden, hätten die Männer ebenso ein Problem wie die Frauen in Juchitán, wenn ihre Männer keine Rohstoffe mehr anliefern würden. Was man auch nicht vergessen darf: Die politische Macht liegt in Juchitán vor allem bei den Männern. Doch als die Stadtverwaltung in Juchitán einmal versucht hat, die Fläche des Marktes zu verkleinern, haben sich die Frauen gewehrt und am Ende wurden die Pläne nicht umgesetzt.

Was genau versteht denn die Forschung unter einem Matriarchat?

Der Begriff setzt sich zusammen aus „Matri“, also Mutter, und „Arché“, was mit Herrschaft übersetzt werden kann. Eine solche „Mutterherrschaft“ darf man sich aber nicht spiegelbildlich zum Patriarchat vorstellen. Die Wissenschaft ist mittlerweile zu dem Schluss gekommen: Ein „echtes“ Matriarchat hat es nie gegeben und gibt es auch heute nicht – zumindest, wenn mit „Matriarchat“ das Gegenteil von „Patriarchat“ gemeint ist. Trotzdem gibt es Kulturen, die deutlich von patriarchalen Strukturen abweichen. Um sie zu beschreiben, verwendet man die Begriffe matrilinear, matrilokal und matrifokal. Matrilinear bedeutet, dass der Besitz von den Müttern an die Töchter weitergegeben wird. In matrilokalen Kulturen bleiben die Töchter im Haus der Eltern wohnen und der Ehemann zieht zu ihnen. Das ist ein wichtiger Punkt, denn wenn eine Frau andersherum ins Haus der Schwiegermutter umziehen muss, büßt sie an Status ein und verliert ihr Netzwerk. Matrifokal bezieht sich auf die Position, die Frauen in der Gesellschaft haben. Juchitán wird als matrifokal beschrieben, weil es dort die Frauen sind, die die Hüterinnen der Kultur sind und sie über die Feste weitertragen. Gleichzeitig erben in Juchitán die Töchter matrilinear von den Müttern, die Söhne von den Vätern. Und das Haus geht immer in den Besitz der jüngsten Tochter über.

Dass Juchitán kein perfektes Matriarchat ist, erfahren deine Leser:innen gleich in der ersten Szene deines Buches „Urlaub vom Patriarchat“: Du beschreibst eine Feier, die du besuchst. Hier empfängt eine zukünftige Braut ihre Gäste liegend aufgebahrt auf einem Bett, neben ihr auf einer Kommode ein Stofftaschentuch mit rosafarbenem Fleck: ein Brautraub mit Jungfräulichkeitstest. Warst du geschockt?

Ja. Zumal ich über diesen Brauch schon in „Juchitán. Stadt der Frauen“ gelesen hatte. Dort wurde dieser Brauch aber geschönt und umgedeutet, im Sinne von: Eigentlich ist die Jungfräulichkeit das Kapital der Frau. Sie gibt ihnen Macht, um besser verhandeln zu können. Für mich hatte das aber wirklich gar nichts Positives. Die Braut wird nicht als eigene Person gesehen, ihre Wünsche und ihre körperliche Selbstbestimmung spielen überhaupt keine Rolle.

Wie genau läuft der Brauch denn ab?

Die Braut wird in das Haus der Schwiegermutter, also das ihres zukünftigen Mannes, entführt. Dort findet dann ein „Jungfräulichkeitstest“ statt. Die Schwiegermutter, so hat die Braut es mir erzählt, steht im Türrahmen und ist Zeugin, wie ihr Sohn seine zukünftige Braut mit dem Finger entjungfert und das Blut, das dabei angeblich fließt, auffängt.

Die Schwiegermutter sieht zu, wie die Schwiegertochter entjungfert wird!? So habe ich mir das Matriarchat nicht vorgestellt. Könnte man nicht sogar sagen: Hier hält eine Frau, die Schwiegermutter, einen zutiefst patriarchalen Brauch aufrecht?

Das Bild, das sich mir in Juchitán präsentiert hat, war voller Ambivalenzen. Juchitán wird zwar als Matriarchat bezeichnet, aber auch hier gibt es patriarchale Strukturen. Und ja, man kann sagen, dass die Schwiegermutter diese aufrechterhält. Damit tut sie aber genau das, was man auch hier bei uns ständig beobachten kann. Wir sind alle Teil des Systems und halten es durch unsere Handlungen am Laufen. Mit der Geburt des ersten Kindes verfallen Paare zum Beispiel oft in alte Rollenmuster – auch dann, wenn sie das eigentlich gar nicht wollten und ähnlich viel verdienen. Wir alle, auch Frauen, fügen uns in unsere Rollen, weil es schwer ist, es nicht zu tun. Es ist eben nie so eindeutig: Auch Frauen tragen dazu bei, dass patriarchale Macht erhalten bleibt und auch matriarchale Gesellschaften stehen unter dem Einfluss von patriarchalen Gesellschaften.

Mehrere Frauen sitzen beieinander und blicken in die Kamera.

© Michael Matus

Ist dir während deiner Reise denn irgendetwas passiert, wo du sagen würdest: Das wäre hier im Patriarchat nicht passiert?

Besonders eindrücklich sind mir die sogenannten Velas in Erinnerung geblieben. Das sind Straßenfeste, zu denen Hunderte, manchmal Tausende Menschen kommen. Allein jetzt im Mai gibt es über 80 solcher Velas. Die Frauen organisieren die Feste, eröffnen sie und bestimmen mit ihren opulenten buntbestickten Trachten und weiten Röcken das Bild. Bei den Velas tanzen Frauen mit anderen Frauen und Muxen, dem dritten Geschlecht in Juchitán, biologischen Männern, die sich aber nicht als Mann identifizieren, sondern eine dritte, oft weiblich konnotierte Geschlechterrolle einnehmen. Die Männer sitzen erst einmal nur am Rand und sind sehr schlicht gekleidet. Irgendwann mischt sich das. Die Velas sind wichtiger Bestandteil der zapotekischen Kultur und die Frauen stehen folglich im Zentrum dieser Kultur. Das ist schon sehr anders.

In deinem Buch beschreibst du, wie der jugendliche Sohn deiner Gastgeberin nachts betrunken in dein Zimmer kommt und versucht, dich zu begrapschen. Du schreist ihn an und er hört auf. Anscheinend hat seine Mutter etwas davon mitbekommen, auf jeden Fall staucht sie ihn am nächsten Tag für alle hörbar im Hof des Hauses zusammen. Ist das nicht ein starkes Beispiel für die Solidarität unter Frauen?

Es wäre Spekulation zu sagen, dass so etwas im Matriarchat eher vorkommt. Auf jeden Fall aber war das ein sehr starker und wichtiger Moment. Zu merken: Das wird jetzt nicht weggewischt und es wird auch nicht darauf gewartet, dass ich den Mund aufmache. Ich war völlig überrumpelt von ihrer Direktheit. Sie hatte gar keine Scheu, das anzusprechen.

Wie du eben schon erwähnt hast, gibt es in Juchitán ein drittes Geschlecht, die Muxe, biologische Männer, die aber nicht als Mann oder Frau leben, sondern sich jenseits dieser Zweigeschlechtlichkeit bewegen. Welche Rolle spielt das dritte Geschlecht?

Muxe können sowohl weibliche als auch männliche Jobs ausüben, haben aber auch ihre eigenen Tätigkeitsbereiche. Sie stellen zum Beispiel die kunstvoll bestickten Trachten her. Oft arbeiten sie auch in Friseursalons oder im Catering.

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Es ist aber nicht so, dass Juchitán für nicht-binäre und trans Personen das Paradies auf Erden ist und sie vollständig akzeptiert sind. Akzeptiert sind sie nur, solange sie die für sie vorgesehene Rolle erfüllen. Sobald sie daraus ausbrechen und weitere Rechte einfordern, zum Beispiel zu heiraten, Kinder zu adoptieren oder überhaupt offiziell Beziehungen zu führen, geraten sie an eine Grenze. All das ist nämlich traditionell nicht vorgesehen. Muxes bleiben im Haus der Eltern leben und helfen der Mutter im Haushalt. Die Rollen in Juchitán sind anders, aber nicht unbedingt flexibler.

Du hast für dein Buch viel zu Matriarchaten weltweit recherchiert. Hast du ein „Lieblings-Matriarchat“, in dem es keine solchen bitteren Pillen gibt?

Keine dieser Formen ist perfekt und das sind auch keine Konzepte, die man einfach so übertragen könnte. Aber am Ende geht es darum zu verstehen, dass es eine Riesenvielfalt gibt. Rollen sind kulturell bestimmt und sie lassen sich auch ganz anders ausfüllen. Was ich zum Beispiel besonders interessant fand, war das Konzept des Avunkulats wie es die Khasi in Nordindien leben. Hier nimmt nicht der biologische Vater die soziale Vaterrolle ein, sondern der Onkel, also der Bruder der Mutter. Das weicht schon sehr stark ab vom Konzept der Kleinfamilie aus Mutter, Vater, Kindern.

Hast du bei deinen Recherchen eine Kultur gefunden, bei denen der Mann mehrheitlich die Carearbeit übernimmt?

Nein. Aber in anderen Bereichen gibt es durchaus umgedrehte Rollen. Bei den Hopi im US-Bundesstaat Arizona ist es zum Beispiel so, dass für uns klassisch weiblich konnotierte Tätigkeiten, etwa Stricken und Weben, männlich konnotiert sind.

Schade, aus der Kinder-Nummer kommen wir wohl nicht raus.

Das perfekte Matriarchat gibt es nicht, aber das habe ich nicht als frustrierend empfunden, sondern als befreiend. Kultur ist nichts Festgeschriebenes, sondern ein Konstrukt, das sich immer verändert. Mutterschaft wird in verschiedenen Gesellschaften völlig anders gelebt. Mal nimmt der Onkel die Rolle des Vaters ein, mal benennt die Mutter mehrere Väter, wie bei den Bari in Venezuela. Und man muss gar nicht immer ans andere Ende der Welt schauen. Auch in unserer eigenen Vergangenheit sah Mutterschaft einmal anders aus. Lange war es zum Beispiel in gehobeneren Kreisen üblich, dass Frauen ihre Kinder in die Obhut von Ammen gaben. Ich weiß noch nicht, ob ich einmal Kinder haben will. Aber meine Recherche hat mir geholfen loszulassen und mir zu sagen: Ich kann es auch ganz anders machen. Auch wenn ich meine Prägung natürlich nicht einfach so abschütteln kann.

So wie die Braut in deinem Buch. Du fragst sie, ob sie den Brauch bei ihrer Tochter oder Schwiegertochter fortsetzen würde. Sie sagt, ihr sei es nicht egal, was die anderen Leute von ihr denken. Gleichzeitig ist sie sich nicht sicher, ob sie die Tradition weitertragen will.

Genau. Diese Ambivalenzen möchte ich mit meinem Buch auch gar nicht auflösen. Es ist nicht einfach zu sagen: „Ich mach mein Ding und schüttele meine Prägungen einfach so ab.“ Vielleicht ist mein vermeintlich eigener Wunsch auch nur Produkt meiner Prägung.

Daher auch das Tocotronic-Zitat am Anfang deines Buches: im Zweifel für den Zweifel?

Genau. Mir hat es weitergeholfen anzuerkennen, dass es verschiedene Anteile in mir gibt: meine Prägungen und den Teil von mir, der ausbrechen will. Widersprüchliche Gefühle zu haben, ist okay. Und es ist auch mal okay, den Rollenerwartungen zu entsprechen. Denn wer die vorbestimmten Rollen verlässt, wird bestraft. Das ist bei den Muxe in Juchitán genauso wie bei uns. Ich bin nun mal Teil dieser Kultur. Und Kultur ist träge, die ändert sich nicht von heute auf morgen. Es geht nicht darum, alles perfekt zu machen, sondern erst einmal nur darum, Dinge aufzubrechen, zu hinterfragen und in kleinen Schritten dagegen anzuarbeiten.


Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Florian Walter

Es gibt kein Matriarchat – doch Juchitán ist ziemlich nah dran

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