Die Schwärze verschluckt das grelle Tageslicht, im Innern des Gebäudes ist es kalt und feucht. Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Der Geruch von Abwasser und Urin hängt in der Luft.
Die Stufen, die in den ersten Stock führen, lassen sich nur erahnen. “Das ist mein erstes Mal in diesem Gebäude”, sagt Pamela Chakuvinga. Sie klingt verunsichert. “Es ist einfach zu gefährlich.” Chakuvinga weiß um die Zustände in den sogenannten Dark Buildings, den dunklen Gebäuden Johannesburgs. Sie hat einst selbst als Sexarbeiterin in solchen Häusern gearbeitet.
Sie bleibt im ersten Stock stehen. Durch eine heruntergerissene Balkontür am Ende des Ganges fällt schwaches Licht. Auf einem Tisch liegt ein Stapel blauer Kondome, von dem sich eine junge Frau routiniert zwei Kondome greift, ohne hinzusehen, und rechts ins erste Zimmer verschwindet. Gefolgt von einem Mann im Anzug.
“Zehn Minuten Maximum dauert das Ganze”, sagt die 25-jährige Ntathu*, die uns auf das Dach das Gebäudes lotst. Sie ist eine von den rund 20 Frauen in Leggings und engen Tops, die unten an der Straße auf alten Stühlen und Kisten sitzend auf Kundschaft warten. Die Frau trägt schwarze Leggings, ein blaues, eng sitzendes Top, die große Schleife auf dem Kopf kann das wilde Haar nicht zähmen.
Als die Rassentrennung abgeschafft wurde, veränderte sich die Zusammensetzung der Johannesburger Innenstadt radikal: Die weiße Oberschicht, die das Zentrum und die umliegenden Viertel bewohnte, zog aus, und die schwarze Unterschicht zog ein. Hunderte Gebäude wurden von Menschen besetzt, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben ins kommerzielle Zentrum des Landes strömten, von Flüchtlingen, illegalen Einwanderern, Arbeitsuchenden und Kriminellen. Die Besitzer der „Dunklen Gebäude“ verschwanden in dem Chaos.
“Kein Küssen, kein Lecken, kein Ausziehen. Rein und raus.”
Und manche, wie dieses in der östlichen Innenstadt, wurden zu illegalen Bordellen, in denen man schnellen, billigen Sex kaufen kann.
Die Leggings der Ladys sind Strategie: Für ein bisschen mehr als 2,30 Euro ziehen sich die Sexarbeiterinnen nicht aus. “Meistens streife ich nur ein Bein der Leggings runter”, sagt Nthatu. “Kein Küssen, kein Lecken, kein Ausziehen. Rein und raus.”
30 Rand, umgerechnet 2,30 Euro, nehmen Frauen wie Ntathu in den dunklen Gebäuden für Sex. Das ist eine Klasse höher als der Preis der Straßenprostituierten, die sich für unter zwei Euro anbieten. In den Hostels und Hotels, die in Hillbrow, einem Viertel in der Innenstadt, als Bordelle fungieren, ist der Preis ein bisschen höher. “Zwischen 60 und 150 Rand pro Stunde kostet es dort”, sagt Nthatu, je nach Etablissement. “Manche sind posh, manche weniger. In manchen arbeiten die schlanken, hellhäutigeren Frauen, in anderen die fülligeren.” Oft haben die Frauen in den Hotels Zuhälter. Nthatu will lieber „frei“ arbeiten.
Vor acht Jahren zog Nthatu nach Johannesburg. Sie kommt aus Soweto, den Townships im Südwesten der Stadt. Seit vier Jahren arbeitet sie in der Dunkelheit, vorher war sie auf der Straße. Nach dem Tod ihrer Mutter sei sie von zu Hause weggelaufen. “Ich belauschte ein Gespräch zwischen meiner Großmutter und meiner Tante, die sich darüber unterhielten, was sie mit mir anfangen sollen.”
Sie packte ihre Sachen und floh in die wenige Kilometer entfernte Großstadt. Eine Gruppe Gleichaltriger nahm sich ihrer an. “Sie gaben mir Kleidung und ein paar Kondome”, sagt Nthatu. Sie sei jung und verzweifelt gewesen und habe deshalb begonnen, ihren Lebensunterhalt durch Prostitution zu verdienen.
Nthatu zeigt auf ihre Schläfe: “Als ich 18 war, wurde ich mit einer Flasche angegriffen, es gibt keinen Schutz, weder auf der Straße noch hier.” Sie inspiziert den abblätternden blauen Nagellack auf ihren Fingern. “Es ist wirklich nicht gut.”
„Die Frauen sind Missbrauch und Gewalt ausgesetzt“
Prostitution ist verboten in Südafrika. Zwar wird seit Jahren eine Debatte über die Entkriminalisierung geführt, doch bisher wurde kein Gesetz verabschiedet. Obwohl der Oberste Gerichtshof 2002 feststellte, dass die Gesetze, die Sexarbeit kriminalisieren, diskriminierend und somit verfassungswidrig seien. Das Verfassungsgericht verwarf diese Entscheidung und urteilte, das Parlament solle in dieser Sache entscheiden.
„Die Frauen in diesen Gebäuden sind Missbrauch, Gewalt und wirklich furchtbaren Arbeitsbedingungen ausgesetzt“, sagt Mariette Slabbert vom Wits Reproductive Health & HIV Institute in Johannesburg. Das im Herzen von Hillbrow gelegene Zentrum sendet jede Woche mobile Kliniken in die dunklen Gebäude, damit die Frauen sich auf Krankheiten testen lassen können und kostenlos Kondome bekommen.
„Sie sind hier in Südafrika unglaublich stark stigmatisiert“, sagt Slabbert. „Sexarbeit ist ein Tabu, die Menschen wollen nichts damit zu tun haben.“ Dieses kulturelle Problem werde nicht ausreichend thematisiert.
Dabei sei Sexarbeit allein unter dem Gesundheitsaspekt für viele relevant: 20 Prozent aller neuen HIV-Infektionen in Südafrika sind direkt oder indirekt auf Prostitution zurückzuführen. Das steht im nationalen Gesundheitsplan der südafrikanischen Regierung. In dem Programm wird die Entkriminalisierung von Prostitution seit Jahren thematisiert.
“Jeder, der diese Zahl ignoriert, ist dumm und kurzsichtig”, sagt Mariette Slabbert.
Statistiken belegen, dass rund 60 Prozent der geschätzten 150.000 Sexarbeiterinnen in Südafrika HIV-positiv sind**.** Für Experten wie Slabbert und ihre Kollegen von der Nichtregierungsorganisation SWEAT, der Sex Worker Education and Advocacy Taskforce, ist die Entkriminalisierung ein Muss, um das Gesundheitsrisiko für die gesamte Bevölkerung zu mindern. Auch gibt es seit Jahren eine Diskussion darüber, den Frauen Arbeitsrechte zu gewähren. Sie erreichte ihren Höhepunkt 2010, im Jahr der Fußballweltmeisterschaft, als geplant war, Prostitution zumindest für den Monat des internationalen Ereignisses zu legalisieren. “Entkriminalisierung war Teil des Entwurfs für den 2012 – 2016 HIV-Plan der Regierung, aber in der Endfassung war dieser Punkt plötzlich nirgends mehr zu finden“, sagt Pamela Chakuvinga, die inzwischen für SWEAT in Kapstadt arbeitet. “Nichts ist passiert, keine Versprechen wurden eingehalten.”
Dabei hat sich die Entkriminalisierung in anderen Ländern bewährt. Studien zeigen, dass sie keine negativen Auswirkungen hat hinsichtlich sexuell übertragbarer Infektionen, im Gegenteil: In Neuseeland beispielsweise und in Australiens Provinz New South Wales sind diese Krankheiten auf einem historischen Tiefstand, seit 2003 die Arbeit von Prostituierten anerkannt wurde.
„Ohne Kondome - wenn ein Freier mich bedroht oder mehr zahlt“
Für die ehemalige Sexarbeiterin Pamela Chakuvinga ist die Entkriminalisierung eine Frage von Menschenrechten. Sie sitzt neben Nthatu auf einer Holzbank auf dem Dach des Gebäudes. “Die Frauen können nirgendwo anders hin, sie müssen sich verstecken”, sagt Chakuvinga, die sich vor ein paar Jahren zunächst Sisonke anschloss, einer Bewegung von Sexarbeiterinnen in Johannesburg. Jetzt kämpft sie mit SWEAT für die Rechte von Prostituierten.
“Es gibt keinen legalen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen”, sagt sie und blickt zu Ntathu, die nickt. Ntathu sagt, sie würde immer auf Kondome bestehen. “Nur wenn ein Kunde mehr zahlt oder mich bedroht, mache ich es ohne.” Ihrer Meinung nach würde die Entkriminalisierung dieses Problem lösen: “Frauen könnten zu nichts mehr gezwungen werden.”
Prostituierte gehören zu den Risikogruppen für die Verbreitung von HIV/Aids, nicht nur in Südafrika, wo die Epidemie die dritthäufigste Todesursache ist und wo im Jahr 2013 rund 500.000 Menschen daran starben.
Laut UN und Weltgesundheitsorganisation WHO erhöht illegale Sexarbeit das Ansteckungsrisiko, vor allem, weil sich Frauen oft nicht zu Ärzten oder in Kliniken trauen.
„Es ist absurd“, sagt Mariette Slabbert: “Das Gesundheitsministerium gibt den Sexarbeiterinnen Kondome – und die Polizei verhaftet sie, weil sie dadurch als Prostituierte identifiziert werden können.” Das führe dazu, dass manche keine Kondome bei sich tragen – womit sich das Risiko für Neuinfektionen erhöht.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann so ende“
Die dunklen Gebäude sind ein Sonderfall. Sie sind eine Brutstätte für Krankheiten aller Art – und zwar nicht nur für Geschlechtskrankheiten. Weil Wasser und sanitäre Anlagen fehlen, herrschen in den Häusern katastrophale hygienische Bedingungen. Man riecht das beim bloßen Vorbeigehen auf der Straße.
Die meisten Bewohner sind einst hoffnungsvoll in die Stadt des Goldes gekommen. Wie Joe, der sagt: “Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann so ende.” Als er vor mehr als 20 Jahren nach Johannesburg kam, gab es noch einen Besitzer, Joe zahlte Miete.
Zusammen mit seiner Frau lebt der 60-Jährige schräg gegenüber der beiden Räume, in denen die Prostituierten arbeiten. Er öffnet die Tür zu seinem Zimmer und macht eine einladende Handbewegung. Ein Bett steht darin, an der Wand ist eine improvisierte Küche, eine große Batterie steht auf dem dreckigen Boden. Es riecht nach dem Benzin, das die Menschen hier zum Kochen benutzen.
Joe hustet ununterbrochen. In der Woche zuvor habe er sich auf Tuberkulose testen lassen, erzählt er. Die Krankheit grassiert ständig in dem Gebäude. In Deutschland ist sie zwar noch nicht ausgerottet, aber fast vergessen, in Südafrika noch immer eine Epidemie. Ein Prozent der Bevölkerung leidet an Tuberkulose, 500.000 aktive Fälle wurden 2011 berichtet.
Südafrika hat die meisten Tuberkulose-Fälle nach China und Indien. Die Zahl der Infizierten hat sich in den vergangenen 15 Jahren vervierfacht.
Wie die meisten in seinem Haus kam Joe nach Johannesburg, um Arbeit zu finden. Doch für ihn wie für die meisten ging der Plan nicht auf. “1998 verschwand der Besitzer, und Wasser und Strom wurden abgestellt.” Die Bewohner gründeten eine Hausgemeinschaft, um die Rechnungen zu zahlen, doch irgendwas ging schief. Joe erzählt von jemand namens Ali, der kurz darauf ankam und behauptete, der neue Besitzer zu sein. “Wir wurden über den Tisch gezogen, er kassierte all unser Geld ab!” Ohne, dass die Bewohner es ahnten, wurde das Gebäude überfallen und von einer privaten Sicherheitsfirma evakuiert.
„Dieser Ali behauptete, er sei der Besitzer des Gebäudes, und wir müssten es verlassen“, erinnert sich Joe. Nach ein paar Tagen auf der Straße kehrten die Bewohner wieder zurück in das Haus - aus Mangel an alternativen Wohngelegenheiten.
Dann kamen irgendwann die Frauen, sagt er. Die Bewohner schlossen mit ihnen einen Deal: Sie begannen, zwei Zimmer an die Ladys zu vermieten. 50 Cent pro Kunde. So erschufen sich die arbeitslosen Hausbesetzer eine Einnahmequelle.
Joe stellt kurz sicher, dass die Luft rein ist, dann öffnet er die Tür zu dem ersten Zimmer. Außer einer Matratze ist nichts darin. Sie ist ein Skelett aus Feder und Schaumstoff, ein paar aufgerissene Kondompackungen liegen darauf, die benutzten Inhalte kleben in der Zimmerecke. Der Boden ist dunkel vom Dreck, die Fenster sind zersplittert, die Balkontür fehlt, die Tür zum Zimmer schließt nicht richtig.
“Enter at your own risk”, ist mit Edding an die Wand geschmiert. Eintritt auf eigene Gefahr.
„Kopf ausschalten, flach hinlegen und warten, bis der Typ fertig ist“
Ntathu hat inzwischen wieder ihre Position eingenommen: Sie sitzt auf einem Bierkasten direkt neben dem Eingang des Gebäudes, dessen rosa Wandfarbe vor Schmutz kaum mehr erkennbar ist. Entlang der Fassade auf dem Gehsteig sitzen ihre 20 Kolleginnen.
Sie sagt, zwischendrin habe sie versucht, andere Jobs zu machen. Sie bewarb sich als Küchenhilfe in einem Schnellimbiss. „Doch die Bezahlung war viel schlechter, manchmal wurden wir gar nicht bezahlt.“ Ihre Familie war daran gewöhnt, dass Ntathu jeden Monat einen bestimmten Betrag nach Hause bringt. „Meine Großmutter weiß nichts von meiner Arbeit hier“, sagt sie. Sie wusste nicht, wie sie erklären soll, wenn sie plötzlich viel weniger verdient.
Ntathu kehrte zurück auf die Straße.
Die 25-Jährige wünscht sich einen Führerschein, das erhöht die Chancen auf einen Arbeitsplatz, der ähnlich viel Geld bringt wie die Sexindustrie. 300 Euro kann sie an einem guten Wochenende machen.
Sie sagt, sie wolle sparen. „Bis dahin muss ich eben meinen Kopf ausschalten und mich flach hinlegen und warten, bis der Typ fertig ist.”
*Name geändert
Aufmacherbild: Jonathan Wood