Probleme sollen ja angeblich dornige Chancen sein. Die anstacheln zu höher, weiter, schneller. Ganz nach dem Motto: Kann ja nur besser werden und wieder was gelernt. Wem da das Frühstück wieder hochkommt, angesichts der nervtötenden Positivität, der kann froh sein, dass es jetzt einen anderen Blick auf diese dornigen Chancen gibt: Alexander Krützfeldts Buch „Gib mir das. Ich kann das. So, jetzt ist es kaputt“.
Diesen Buchauszug hat Astrid Probst ausgewählt
Ich schreibe bei Krautreporter über Menschen mit Problemen und Lösungen – und will dabei zeigen, wie Menschen Herausforderungen begegnen. Hier begründe ich, warum du diesen Buchauszug lesen solltest.
Darin erzählt er vom Scheitern, vom Hinfallen und kurz mal Liegen bleiben, vom Aufrappeln und Weitermachen. Und natürlich auch davon, was man daraus lernt.
Weil er sich so mutig, offen und witzig ins Leben schmeißt, schaut man ihm gerne zu. Etwa bei dem Versuch, die Kinderwelt mit der juristischen Welt zu vereinen und so einen Streit zu lösen.
Als Kind fühlte ich mich immer wahnsinnig ungerecht behandelt. Und das ist vielleicht so eine Kindererkenntnis, aber mir ging das lange sehr nahe, dass ich – vermeintlich – immer die Schuld an allem bekam. Dass mein Bruder nur weinen musste, und schon bekam ich den Ärger. Allein deshalb war ich mit meinen Kindern immer sehr sensibel im Hinblick auf die Gleichbehandlung. Ich dachte, Kinder muss man schon gleichbehandeln. Dass zwischen fair und Gleichbehandlung ein Unterschied besteht, diese Erkenntnis kam mir erst nach dem Tag, an dem wir unser kleines Experiment machten.
Es war ein Dienstagnachmittag. Meine beiden Söhne hatten es gerade wieder mal geschafft, sich beim Spielen innerhalb von fünf Minuten so grausam zu zerstreiten, dass es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, weshalb ich den Kohlrabi nicht weiter vom Strunk befreien konnte, sondern auf das Schneidebrett legte, einmal ganz tief durchatmete und dann beschloss, den Rechtsstaat zu stärken. Mein kleiner Sohn kam mir, ein Gesicht voller Tränen, über den Flur entgegen. Ich war natürlich nicht dabei gewesen, also beruhigte ich erst mal alle, bat sie, für fünf Minuten in getrennte Zimmer zu gehen. Vielleicht war es Hilflosigkeit, keine Ahnung. Aber plötzlich schoss mir so ein Gedanke ein: Meine Mutter, ihre Oma, war Richterin gewesen. Ich hatte also viele meiner Nachmittage im Gerichtsgebäude verbracht. Also dachte ich ganz spontan; versuchen wir mal was. Ich hatte wiederholt diese Konflikte erlebt, sie aber nie für immer schlichten können.
Also bat ich beide ins Wohnzimmer, wo ich zwei Stühle aufgestellt hatte, während ich auf der Couch Platz nahm. „So“, sagte ich. „Dann wollen wir mal. Was also ist passiert?“
Mein Jüngster begann, links sitzend, und berichtete unter Tränen, er habe – sinngemäß – gar nichts gemacht; dann, also daraufhin, sei es zu einem Kopfstoß seines Bruders gekommen. Er habe sich natürlich infolgedessen und aufgrund dieser hinterhältigen Attacke wehren müssen, um weitere Gefahr für Leib und Leben abzuwenden.
„Aha“, sagte ich, notierte und nahm zur Kenntnis. Ob dieser Vorfall in einer Vorgeschichte begründet liegen könnte, wollte ich wissen. Möglicherweise sei vorher etwas passiert, ein Auslöser, über den er gern sprechen würde.
„Ja“, sagte mein Kleinster und knetete auf dem Stuhl nervös seine Hände. Also, seiner Meinung nach habe es diese Auseinandersetzung nur gegeben, weil die Frage im Raum stand, wem der Zug gehöre.
„Welcher Zug?“, fragte ich.
„Die Märklin-Bahn“, sagte mein Ältester, weshalb ich ihn postwendend ermahnte, er sei jetzt nicht dran, ich wartete noch auf die Einlassung des Zeugen, möglicherweise Geschädigten in der Sache. Die Vokabeln kannte ich noch, weil meine Mutter, als ich klein war, ihre Urteile immer neben dem Kinderzimmer diktierte oder nachmittags auf dem Sofa. Ich liebte die Redewendungen, die durch die Stopptaste des Handdiktiergerätes unterbrochen wurden.
„Was ist ein Zeuge?“, will mein Jüngster wissen.
Ich sagte, dass ein Zeuge ist, wer etwas gesehen haben und zur Aufklärung beitragen könnte.
„Ah“, sagte mein Sohn und schaute mich unschuldig an, was einen kurzen Tumult auslöste, als mein ältester Sohn den Zeugen der Lüge bezichtigte, generell und hier im Speziellen. „Er guckt immer so lieb und will dann, dass du auf seiner Seite bist“, schrie mein Ältester, jetzt praktisch den Tränen nahe. „Papa, er will nur deine Aufmerksamkeit!“
Beweismittel A lieferte wichtige Hinweise
Ich ermahnte ihn und sagte, dass ich das zur Kenntnis nehme und selbst wisse, dass das eine Möglichkeit sein könnte. Immerhin bin ich auch ein älterer Bruder, mein jüngerer, sein Onkel, hatte mir seinerzeit einen Badmintonschläger auf dem Kopf zertrümmert und anschließend die Mutter, also seine Oma, geholt, um den Fall umgedreht zu schildern. Ich sei, sagte ich, also sehr wohl im Bilde.
Er beruhigte sich daraufhin, musste aber auch mal kurz seinen Plüschhund nehmen, weil das, verstand ich, war alles ein bisschen viel.
Ich fragte, ob ich nun fortfahren dürfe, und als dies mit beidseitigem Nicken quittiert wurde, fragte ich den Zeugen, meinen jüngsten Sohn, wem – seiner Ansicht nach – der betreffende ICE der Märklin-Bahn gehöre.
„Mir“, sagte er.
„Nein, mir!“, schrie mein ältester Sohn und war kaum auf dem Platz zu halten. Ich mahnte, dass es zur Ruhe kommen müsse, ansonsten sähe ich mich gezwungen, ein Ordnungsgeld zu verhängen, zu zahlen in vier Tagessätzen à zwei Euro von seinem Taschengeld. Und nächste Woche sei Kirmes in der Stadt, das sollte hier jeder bedenken.
„Okay, ihm“, sagte mein Jüngster – und ich bemerkte das zufriedene Grinsen auf seinem Gesicht.
„Aha“, sagte ich. „Darf also dein Bruder entscheiden, ob du damit spielst?“
„Nein“, sagte er.
„Doch!“, schrie mein Ältester – und dann: „Papa!“
„Er hat mir vorher gesagt“, sagte mein Jüngster, „dass ich damit fahren darf.“ Danach habe man ihn ansatzlos geschlagen. Er schaute wie ein Unschuldslamm.
„Aber nicht auf dem Fußboden“, rief mein Sohn und brach in Tränen aus. „Der Teppich mit seinen Fusseln macht doch meinen Zug kaputt!“
Ich sagte dem Zeugen, er möge mir das Beweismittel A bitte bringen: den betreffenden Zug. Ich inspizierte den Zug und fand tatsächlich feine, dünne Härchen zwischen die Räder gewickelt.
Mein Jüngster stritt dies mit der Bemerkung ab, es könne sich um jede Art von Fussel handeln, auch um Haare der Hunde, die neulich zu Besuch gewesen seien.
Ich zog eines heraus und zeigte es beiden; es waren eindeutig Fusseln unseres Teppichs.
Mein Ältester atmete einmal tief durch, wie zur Entlastung.
Ich hörte mir seine Schilderung an, die in etwa so ging: Sein jüngerer Bruder habe unbefugt mit dem Zug gespielt. Daraufhin habe er ihn darauf hingewiesen, dass dieser Zug ihm gehörte und er schon damit spielen dürfe, aber nur, wenn er ihm verspreche, dass er nicht auf dem Teppich fahren würde. Ein Versprechen, das sich so schnell als gebrochen wie ausgesprochen herausgestellt habe. Er habe daraufhin, auch nachdrücklich, versucht, den Zug zu entreißen, wobei es zu kleineren, aber eher unbedeutenden Handgreiflichkeiten gekommen sei, die aber keinesfalls in einem Schlag oder Stoß gemündet hätten. Vielmehr habe der jüngere Bruder den Zug daraufhin frustriert auf den Boden gedonnert – mein Jüngster auf seinem Stuhl zählt dabei auffällig seine Finger – weshalb er ihn – leicht – zurückgestoßen habe, was der Jüngere zum Anlass genommen hätte, bei mir petzen zu gehen. Er sei sich, sagte mein Ältester dann, also keiner Schuld bewusst und bitte das Gericht demütig um Freispruch. Weitere Einlassungen in der Sache könne er nicht machen.
Kinder kann man vermutlich nicht gleichbehandeln
Gut, sagte ich. Ich würde mich nun für eine kurze Beratung mit der Kammer zurückziehen (insgeheim wünschte ich mir in diesem Moment Schöffinnen und Schöffen), danach würde ich das Urteil verkünden. Sie dürften so lange spielen, aber nur auskömmlich. Ich erhob mich und bat sie, dass sich beide erheben, wenn ich den Platz verlasse; das sei ein ehrwürdiges Schwurgericht und kein Kasperletheater.
Ich setzte mich aufs Bett und schloss hinter mir die Tür. Und plötzlich wurde mir alles schlagartig klar. Dass man Kinder vielleicht nicht gleichbehandeln kann, weil Kinder unterschiedlich sind, und alles andere in Gleichmacherei enden würde. Dass Kinder transparente Regeln brauchen, aber einen Ermessensspielraum. Dass meine Eltern mich nie ungleich behandelt haben. Sondern mich hinsichtlich meiner individuellen Fehler, meiner Bedürfnisse und Vorstellungen nur anders angepackt hatten. Dass Recht nicht die Rechtsverletzung wiedergutmachen, aber das Gerechtigkeitsgefühl im besten Falle wiederherstellen kann. Dass es im Idealfall schlussendlich zu Versöhnung kommen kann.
Als ich zurückkam, saßen beide schon auf ihren Stühlen.
Gib mir das. Ich kann das. So, jetzt ist es kaputt. Geschichten über das Leben, das Scheitern und das Weitermachen. Von Alexander Krützfeldt. MAXIMUM Verlag
Ich sagte, dass ich den Jüngsten schuldig spreche, den Zug eigenmächtig und entgegen vorheriger Absprache über den Teppich gezogen zu haben. Dass er dann, als er nach einem kurzen Streit nicht die Möglichkeit sah, anders zu seinem Recht zu kommen, in Tränen ausgebrochen sei, um mir einen vermeintlichen Kopfstoß glaubhaft zu machen. Es stünde zwar Aussage gegen Aussage, aber anhand der Indizien wie den Haaren im Zug und des sehr kurzen Weinens, das unmöglich einer ernsthaften Verletzung entsprang, sei ich zu dem Schluss gekommen, dass der Jüngste schuld sei. Ich verurteile ihn hiermit zur kompletten Wiederinstandsetzung des Zuges samt einer Ausgleichszahlung, einer Fahrt oder Pommes auf der Kirmes. Die Kosten des Verfahrens habe er ebenfalls zu tragen, die würde ich ihm aus Mangel von ausreichend Taschengeld erlassen. Beantragung von Gerichtskostenhilfe folgt.
Ob er dieses Urteil annehme?
Der Jüngste nickte.
„Was, wieso?“, fragte ich.
„Na ja“, antwortete er. „Weil ich es gewesen bin. Es ist genauso passiert. Und lügen will ich nicht. Ich würde jetzt genau so lieber mit meinem Bruder weiterspielen.“
Auch mein Ältester nickte ganz aufgeregt. „Komm, wir holen die anderen Züge, dann spielen wir Achterbahn.“
„Gut“, sagte ich. „Es steht dir frei, in Berufung zu gehen. Aber nur heute Nachmittag noch, danach hab ich keine Lust.“ Beide sprangen augenblicklich von ihren Plätzen.
„Papa“, sagte der Jüngste noch beim Hinausgehen. „Können wir beim nächsten Streit noch mal Gericht spielen?“
„Ja“, sagte ich. „Aber besser wäre, ihr streitet erst gar nicht. Denn ansonsten holen wir für das nächste Gerichtsverfahren nämlich die Oma aus dem Ruhestand zurück.“
Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger
Was passierte, als ich einen Streit meiner Kinder wie einen Strafprozess anging