Der Bach muss idyllisch wirken, wenn man an seinem Ufer steht. Vermutlich gurgelt das Wasser, während es um die Steine wirbelt. Vielleicht hört man Vögel. Oder Rascheln, wenn der Wind durch die Blätter strömt. Doch nichts könnte einer Idylle ferner sein als der Ort auf diesem Foto.
An diesem Bach ist eine Frau getötet worden. Weil sie eine Frau ist. Sie starb, als sie ihrem Ehemann hinterherlief; die wenigen Meter von der Straße, wo er das Auto geparkt hatte, die Kinder auf dem Rücksitz. Der Mann habe im Wald pinkeln wollen, sagt Zen Lefort, der die Geschichte recherchiert hat. Als ihr Ehemann nicht wieder zurückkam, sagte die Frau den Kindern: Bleibt im Auto. Sie ging in den Wald, zu dem Bach. Fand ihren Mann, der erschoss sie.
Eines Tages stand Lefort an dieser Stelle, baute seine Kamera auf, linste durch das Objektiv, drückte ab. Um zu dokumentieren, was fehlt: eine Frau. Um als Fotograf auf etwas aufmerksam zu machen, das beinahe täglich passiert: ein Femizid. Aber vor allem, um zu zeigen: Femizide finden an den alltäglichsten Orten statt. „Überall und nirgendwo“, sagt Lefort. So heißt auch seine Fotoserie.
1976 führte die Soziologin Diana Russell den Begriff des Femizids erstmals ein und definierte ihn als: „Die Tötung einer oder mehrerer Frauen durch einen oder mehrere Männer, weil sie Frauen sind“. Zwar wird seither dieser Begriff verwendet, doch wann genau ein Femizid ein Femizid ist, wann eine Frau getötet wird, weil sie eine Frau ist, darüber ist man sich uneinig. Nicht jede Tötung einer Frau ist ein Femizid. Forscher:innen stellen aber fest, dass Femizide meist passieren, weil es ungleiche Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen gibt und Männer ihre Dominanz behaupten wollen.
In Deutschland wurden im Jahr 2023 360 Mädchen und Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Fast jeden Tag eine. Das zeigt eine Auswertung des Bundeskriminalamts zu Partnerschaftsgewalt. Und noch etwas wird deutlich: Die Gewalt an Frauen ist seit 2021 stetig gestiegen. Was nicht zuletzt an der Pandemie lag.
Als Corona die Welt stillstehen ließ, Lockdowns die Menschen in ihre Wohnungen verbannte, schnellten die Zahlen partnerschaftlicher Gewalt nach oben. Das Zuhause war kein sicherer Ort für so manche Frau.
Berichte und Zahlen erschienen, die schockieren: Alle drei Minuten erlebt eine Frau häusliche Gewalt. In Zeitungen waren Schlagzeilen, die fassungslos machen, von Frauen, die von Partnern umgebracht wurden, die bei der Polizei bereits als gewalttätig bekannt waren. Auch in Frankreich gab es diese Berichte. Sie erschütterten Zen Lefort, der in Paris lebt. Beinahe täglich las er davon und entschied, zu handeln: Orte zu fotografieren, wo Frauen gewaltsam getötet wurden. Er sammelte Berichte über Femizide aus seiner Heimat in Frankreich, vermerkte die Stellen auf der Karte, plante seine Route.
Das erste Foto nahm er vor rund zwei Jahren auf. Es zeigt eine Brücke. „Ich kenne diese Brücke sehr gut, fast jedes Wochenende komme ich hier vorbei, wenn ich mit meinen Kindern von Paris raus in die Natur fahre”, sagt er.
Weil sie ihm so vertraut ist, zeigt diese Brücke für ihn das, was er mit den Bildern erzählen will: Ein Mord an einer Frau kann im direkten Umfeld geschehen. Im Haus oder der Wohnung nebenan oder eben an der Brücke, über die man jeden Tag fährt.
Ein Jahr lang fuhr Zen Lefort für sein Projekt durch Frankreich. Er fotografierte Wohnhäuser und Häuserblocks, Straßen und Wege, Flüsse und Wälder. Sobald er dort ankam, lud er seine Plattenkamera, wie man sie aus dem 19. und 20. Jahrhundert kennt, aus dem Auto. Stellte die Kamera auf, warf sich den Vorhang über die Schultern und nahm drei oder vier Bilder auf. „Das war eine beschwerliche Art, zu fotografieren und genau das wollte ich”, sagt Lefort. Er wollte diesen scheinbar banalen Orten mit einer anspruchsvollen fotografischen Technik begegnen. Durch diese Technik schränkte er sich bewusst ein, er zwang sich, einen festen Standpunkt zu wählen – ohne die Möglichkeit, schnell nach links oder rechts auszuweichen. So musste er sich klar entscheiden: für einen bestimmten Blickwinkel, eine Komposition und einen Bildausschnitt.
Zwischen einem Femizid und dem Zeitpunkt, an dem Lefort mit seiner Kamera anrückte, konnten zwei Jahre vergehen. Manchmal reiste er nur wenige Wochen nach der Tat hin. „Ich fühlte mich jedes Mal extrem unwohl. Man sieht dem Ort nichts an, aber man spürt, was dort geschehen ist”, sagt er. Diesen Kontrast wollte er einfangen – und die Leere, die sich in der Mitte des Bildes zeigt.
Wer seine Bilder anschaut, sieht zunächst ein ansprechend fotografiertes Haus, einen Kiefernwald oder einen Gehweg. Die Stellen, an denen die Frauen getötet wurden, wirken auf den ersten Blick wie gewöhnliche Orte. Wer weiß, was hier passiert ist, erkennt: Es sind Tatorte.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Rico Grimm, Fotos: Zen Lefort