„Tür defekt“ steht auf dem Schild an Eingang B vor dem langgezogenen Backsteingebäude. Jetzt muss Blue wieder zurück zu Eingang E, wo er hergekommen ist. Als wäre das alles nicht eh schon kompliziert genug.
Blue möchte endlich seinen Geschlechtseintrag anpassen lassen, heute am 21. November in Hannover. Es ist der Termin. Der 26-Jährige musste lange darauf warten. Bei seiner Geburt wurde er als Mädchen eingetragen. Seit mehr als fünf Jahren fühlt er sich schon als Mann. So möchte er von anderen wahrgenommen und angesprochen werden. Und sein Ausweis und seine Papiere sollen das endlich zeigen.
Die Änderung ist in Deutschland erst seit wenigen Wochen möglich. Anfang November trat das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Seither können Menschen ihren Geschlechtseintrag und ihre Vornamen ohne psychologische Gutachten und richterlichen Beschluss ändern. Bisher brauchte man das. So sah es das alte, das sogenannte Transsexuellengesetz vor. Sechs Mal wurde dieses Gesetz aus den 1980er Jahren vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft. Trotzdem wurde es lange nicht reformiert, auch, weil konservative Parteien die Neuregelung jahrelang blockiert und als „Woke-Wahnsinn“ oder „Gender-Gaga“ abgetan haben. Selbst am 1. November, als das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft trat, gab es noch Gegendemos.
Das Gesetz regelt eine zentrale Frage neu: Wer bestimmt, wer ich bin? Bisher taten das die Erwachsenen bei der Geburt. Nicht der Mensch, den es betraf. Fühlt sich jemand aber nicht mit dem zugeteilten Geschlecht wohl, musste diese damals getroffene Entscheidung langwierig rückgängig gemacht werden. Das war häufig ein erniedrigender Prozess. Jetzt ist der Wunsch des Menschen entscheidend. Er hat das letzte Wort.
Darum kann Blue heute endlich aufs Amt gehen. In Sprachnachrichten hält er fest, was er dort erlebt. Und auf Zoom erzählt er von seinem Weg, sich selbst kennenzulernen und zu verstehen, wer er wirklich ist.
Lange Haare und gut in Mathe
Als Blue in die Schule kam, lebte er noch als Mädchen. Damals trug er eine Weile seine Haare kurz. Viele hielten ihn darum für einen Jungen. Also fing er an, sich die Haare wachsen zu lassen, um mädchenhafter zu wirken. Er wollte nicht gemobbt werden. „Ich habe mich dafür entschieden, ein richtiges Mädchen zu sein“, sagt er heute. Blue passte sich an und gewöhnte sich an seine Rolle.
Dass sie nicht mehr so ganz passt, versteht Blue mit 13 Jahren. Wenn er Händchen mit anderen Mädchen hält, merkt er, dass er auch sexuelle Gefühle für sie hat. „Damals wurde mir klar, was in meinem Herz eigentlich los ist“, erinnert er sich. Ab jetzt bezeichnet er sich als queer. Er erzählt es noch niemandem. Weil er befürchtet, dass andere Mädchen denken könnten, er würde auf sie stehen. Er hatte gute Freundinnen, erzählt er, und wollte nicht, dass Freundschaften durch seine Queerness belastet werden. Als er einen Mathe-Wettbewerb gewinnt, wird er im Zeitungsbericht dazu als Junge bezeichnet. Das mag an seinen kurzen Haaren liegen. Gleichzeitig wird er häufig gefragt, wie es ist, als Mädchen so gut in Mathe zu sein. Selbst sein Schulleiter fragt ihn das beim Abiball. Er ärgert sich. Warum ist das Geschlecht immer so wichtig?
Einige Jahre später, er studiert und wohnt mittlerweile in Hannover, lernt Blue über die Community des Online-Tauschspiels „Magic: The Gathering“ neue Leute kennen. Viele sind queer oder trans. In den Gesprächen mit seinen neuen Bekannten bemerkt Blue wieder, dass das Thema Geschlecht ihn nicht loslässt.
Die meisten Menschen denken darüber nicht nach: Ihr wahrgenommenes und biologisches Geschlecht passen für sie zusammen. Das Geschlecht scheint für viele eine der wenigen Ordnungen zu sein, die man nicht anzuzweifeln hat. Es ist die Grundlage für alles, gibt Sicherheit und verortet einen in der Gesellschaft. Die Idee, dass Menschen sich ihr Geschlecht nun scheinbar selbst aussuchen können, verwirrt scheinbar.
Noch drei Monate warten
Kurz nachdem die Termine für die Änderung des Geschlechtseintrags im Sommer möglich waren, hat sich Blue dafür angemeldet. Als er das Formular für die Terminvergabe endlich fand, erinnerte es ihn zuerst an einen Onlineshop. In die leeren Felder schrieb er seine Daten und bemerkte kurz vorm Absenden, dass er statt seines bisherigen Namens zweimal seinen Wunschnamen angegeben hatte. Er begann nochmal neu. Unterschreiben musste er aber mit seinem alten Namen. „Das hat sich hart weird angefühlt. Und das ist doch so unnötig!“, sagt er. Mindestens drei Monate wird er auf seinen Termin warten müssen, weil das konservative Politiker so wollen. Sie nennen es Bedenkzeit. Bald bekam er eine Mail mit seinem Termin: der 21. November.
Am Morgen des Termins wacht Blue mit Kopfschmerzen auf. Er war wohl sehr angespannt, sagt er, aber er freut sich, dass es endlich soweit ist. Er zieht seinen Lieblingspullover an. Der ist bunt, beide Ärmel haben eine andere Farbe. „Ich kann es auch nicht lassen, Farbe zu zeigen, wenn ich im Amt bin“, sagt er.
„Personalausweis und Geburtsurkunde, bitte“
Eine Stunde vor dem Termin, um 15 Uhr, fährt er mit der Straßenbahn zum Standesamt. Sein Tag war anstrengend, erzählt er später. So anstrengend, dass er sich gar nicht richtig auf den Termin freuen konnte. Langsam wird er nervös.
Als er das Gebäude betritt, erinnert ihn die Atmosphäre an einen Flughafen, lange Flure und viele Menschen, die auf Termine warten. Er muss in den ersten Stock. Auch hier wartende Menschen. Als Blue sich umschaut, hat er das Gefühl, der einzige zu sein, der hier seinen Geschlechtseintrag ändern möchte.
Er nimmt vor dem Raum auf einem der grauen Vierer-Plastikstühle Platz, die scheinbar in jedem Bürgeramt stehen. Zehn Minuten hat er noch, neben ihm wartet seine Sozialarbeiterin, die ihn beim Termin unterstützt. Blue registriert sich über einen QR-Code und wartet. Die Anzeige mit den Nummern bimmelt, wenn jemand aufgerufen wird. Aus dem Flur nebenan hört man die Ansagen des Aufzuges „Lift going up, Lift going down.“ Um 16.03 Uhr wird seine Nummer aufgerufen. T-509.
Er soll ins Büro von Herrn Neuwirth. Darin ein junger Mitarbeiter, vielleicht Mitte 30. Blue ist überrascht. Irgendwie hatte er sich jemand Älteren vorgestellt. „Was kann ich für Sie tun?“, fragt er Blue.
„Ich bin hier, um meinen Vornamen und meinen Geschlechtseintrag nach dem Selbstbestimmungsgesetz ändern zu lassen.“
„Okay, dann brauche ich bitte Ihren Personalausweis und Ihre Geburtsurkunde.“
Die Original-Urkunde hat Blue nicht. Die wollte ihm sein Vater nicht geben. Er sagte, er solle sich eine Kopie besorgen. Zwar stehe sein Vater hinter seiner Entscheidung, sagt Blue, aber eigentlich finde er auch, dass ein Kind seinen Namen nicht ändern solle. Darum nennt er Blue als einziger nicht Blue, sondern „das Kind“. Manchmal mache er auch blöde Sprüche, weil er gerne provoziere.
Das Verhältnis zu seinen Eltern sei gemischt, erzählt Blue. „Gemischt“ sagt er oft, wenn er etwas beschreiben soll. „Mir fällt es schwer, mich ihnen gegenüber zu öffnen und über meine Gefühle zu sprechen.“ Er hat erst mit seiner Mutter über sein trans Sein gesprochen. Sie war überrascht und konnte seine Situation nicht richtig einordnen, erzählt er. Ein richtiges Gespräch mit seinen Eltern über seine Queerness gab es nie. Blue hatte sich aber auch nicht versteckt, sondern brachte irgendwann einfach eine Partnerperson mit nach Hause. Er wusste, dass seine Eltern kein allzu großes Problem damit haben würden.
Geschlechtseintrag: männlich. Vorname: Blue
Im Standesamt scannt Herr Neuwirth Blues Dokumente und trägt Daten in das Computersystem ein. Um die Daten abzugleichen, geht der Mitarbeiter auf Blues Profil im System. Von Weitem sieht Blue, dass in seiner Kartei das Icon einer Frau angezeigt wird. Er fragt sich, ob das Icon nach der Änderung im Geburtenregister wohl auch aktualisiert wird, traut sich aber nicht zu fragen.
Der Mitarbeiter fragt nochmal den neuen Geschlechtseintrag und die Namen ab. Geschlechtseintrag: männlich. Name: Blue. So nennt er sich seit Sommer 2020, weil er für lange Zeit blaue Haare hatte. In einem Vornamenbuch aus den Fünfzigerjahren suchte er nach seinem Wunschnamen. Er fand ihn darin tatsächlich und war erleichtert. Demnach kann der Name männlich und weiblich genutzt werden.
Mit den Unterlagen rollt der Mitarbeiter mit seinem Bürostuhl wieder zu Blue. Er räuspert sich und liest vor: „Ich bin hier, um meinen Geschlechtseintrag zu ändern. Ich weiß, dass ich dann auch passend zum Geschlecht meine Vornamen ändere. Ich bin mir der Folgen der Änderungen bewusst.“
Die Folgen sind diese: Für ein Jahr darf Blue den Geschlechtseintrag nicht wieder ändern. Außerdem muss er seine Papiere aktualisieren und überall die neuen Daten eintragen. Blue nimmt das alles gerne in Kauf.
Am Ende soll Blue unterschreiben. Er zögert. Wie denn? Mit dem alten oder dem neuen Namen? In den letzten Jahren wurde es immer seltsamer für ihn, seinen bisherigen Namen zu benutzen. Er findet es belastend, wenn der Name irgendwo auftaucht oder Menschen ihn nutzen. „Das bin einfach nicht ich“, sagt Blue. Wenn Blue seinen Ausweis, Führerschein und andere Papiere aktualisiert hat, ist sein alter Name, der „Dead Name“, nirgends mehr zu sehen. Das neue Selbstbestimmungsgesetz verbietet sogar, ihn zu nennen.
Doch bis er seinen Ausweis erhalten wird, werden noch Monate vergehen. Da Blue nicht in Hannover geboren wurde, werden die endgültigen Unterlagen in Blues Heimat in Nordrhein-Westfalen ausgestellt. Die Erklärung zur Änderung des Geschlechtseintrags soll er mit seinem alten Namen unterschreiben, empfiehlt ihm Herr Neuwirth. „Das war komisch, weil ich das nur noch selten mache. Ich frage mich, ob das jetzt wirklich das letzte Mal war?“ Dann ist alles schon vorbei.
Als Blue aus dem Büro kommt, ist er ein wenig enttäuscht. Er hat so lange auf diesen Termin gehofft, sich Gedanken gemacht und abgewogen, was ein guter Name ist und welcher Geschlechtseintrag zu ihm passt. Und hat jetzt gar nichts in der Hand, nur den Zahlungsbeleg über 30 Euro. Keine Erklärung oder Urkunde. Irgendwie hatte er es aber nicht anders erwartet, sagt er, „wir kennen ja alle die deutsche Bürokratie!“
Die Bürokratie nervt ihn, Sorgen macht ihm anderes. Die Gesundheitsversorgung für trans Menschen ist problematisch und die Union hat angekündigt, das Selbstbestimmungsgesetz wieder zurücknehmen zu wollen, sollte die CDU an der nächsten Regierung beteiligt sein.
Endlich gesehen werden
Draußen vor der Tür bekommt Blue eine kleine Tüte von seiner Sozialarbeiterin überreicht. Er zieht eine Tasse mit einem großen „B“ heraus, für seinen neuen Namen. Und ein Bastelset für Namens-Freundschaftsbänder und Süßigkeiten in weiß, hellblau und hellrosa, den Farben der trans Flagge. „Diese Würdigung! Ich freue mich, gesehen zu werden.“
Am Abend geht Blue froh und erleichtert ins Bett. Seinen Freund:innen hat er ein Bild von der Geschenkübergabe nach dem Termin geschickt. Bald wollen sie gemeinsam anstoßen.
Denn Blue hat nächste Woche Geburtstag und möchte da seinen neuen Geschlechtseintrag feiern. Er plant eine Art Gender-Reveal-Party, wie es vor allem in den USA seit einigen Jahren üblich ist. Dabei laden werdende Eltern ihre Freund:innen ein und verkünden bei der Feier das Geschlecht ihres Kindes, oft mit hellblauen oder rosafarbenen Torten. Aber Geschlecht hat viele Farben, sagt Blue. Wenn er seine Torte anschneidet, sollen darum keine blauen, sondern bunte Schokolinsen herausfallen.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger