Monbijoupark in Berlin, direkt neben der Museumsinsel, 15 Uhr. Es ist doch noch ein heißer Sommertag geworden. Der Park ist voller Leute. Ich habe mich hier mit „King Sergej“ verabredet. Der Fitnessinfluencer heißt eigentlich anders, hängt und turnt an Ringen, verkauft „Männerseifen“ und posiert mit nacktem Oberkörper und Sixpack im Internet. Und er war mal Teil einer Gruppe junger Männer, die im Wald eisbadet, Sport macht und halbnackt durch die Gegend bellt.
Ich mache all das nicht. Mein Verhältnis zu Sport und vermeintlich typischen Männerhobbys ist kompliziert. Mit Bro-Culture kann ich wenig anfangen. Mit dem also, wofür Influencer wie King Sergej stehen, für Hypermännlichkeit, ein konservatives Verständnis von Mann und Frau und der Idee, dass unser Wert von unserer Stärke abhängt. Wir haben uns heute in einer Outdoor-Sport-Area verabredet, um zu trainieren und darüber zu sprechen: Was ist ein moderner Mann? Bin ich es oder ist es King Sergej, dem mehr als 40.000 Leute auf Instagram folgen?
Als Sergej über die Wiese geht, wirkt er, als kenne er sich aus. Er trägt schwarze Birkenstock-Sandalen, ein offenes Hawaiihemd, Sonnenbrille, die blonden Haare wippen in der Luft. Mit den weißen Zähnen und dem Schnauzbart sieht er genauso aus wie auf Instagram. Ein fleischgewordenes Fitness-Reel. Zur Begrüßung schlagen wir ein, als seien wir Freunde.
Für das Training hat er seine eigenen Ringe mitgebracht. Die beiden Holzreifen hängen an roten, breiten Bändern an den Stangen eines Klettergerüsts. Dann erklärt er mir, was ich machen soll. Ringe festhalten, nach hinten lehnen, um die Schultern ein wenig zu belasten. Ich lerne: Das Wichtigste ist, dass Arsch und Bauch angespannt sind. Die Ringe (und meine Arme) zittern. Ich quäle mich durch ein paar Wiederholungen und vergesse ständig, meinen Körper anzuspannen. Sergej lobt mich trotzdem. Ich keuche, er lacht.
Ich: Sergej, was bedeutet Männlichkeit für dich?
Sergej: Für mich beschreibt das Maskuline den extrovertierten Teil im Menschen. Als Mann stehe ich vor dem Dorf und schlage alle zusammen, die rein wollen. Männlichkeit und Weiblichkeit sind wie Yin und Yang, es besteht eine asymmetrische Harmonie. Maskulinität beschützt und Feminität behütet. Das Feminine ist emotional, will fühlen und präsent sein. Jeder Mensch vereint beide Seiten in sich, das Maskuline und Feminine. Es gibt niemanden, der 100 Prozent maskulin ist.
Ich: Bist du ein „echter“ Mann?
Sergej: Ich denke schon. Ich stelle mir einen echten Mann wie einen Superhelden vor, der bereitwillig in das brennende Gebäude rennt, um die Familie zu retten. Das würde ich auch tun.
Letzte Tipps von „Ring King“ Sergej | Foto: Philipp Sipos
Ich: Du hast über die sozialen Medien und über deine Seifenfirma viel Kontakt mit jungen Männern. Wie geht es denen?
Sergej: Für junge Männer ist es gerade echt hart. Objektiv geht es uns allen besser als Königen vor 100 Jahren. Alle unsere Grundbedürfnisse sind erfüllt. Aber subjektiv geht es uns allen scheiße. Den meisten fehlt eine Aufgabe, die sie mit dem Ernst des Lebens konfrontiert. So eine Erfahrung würde einen dankbar machen. Und dann erst die ganzen Reize durch die Medien, das überfordert komplett. Aber dem kannst dich gut entziehen, indem du etwas machst, das außerhalb der Komfortzone liegt. Indem du Schmerz erleidest. Aber das fehlt den meisten heranwachsenden Männern. Ich habe kürzlich mal Fortnite gespielt. Und war schockiert. Da passiert so viel gleichzeitig und blitzschnell! Das alles zu verarbeiten, ist eine Herausforderung. Danach bist du ja verkorkst, was deinen Dopaminhaushalt angeht.
Ich: Glaubst du, dass junge Männer ein Problem mit Männlichkeit haben?
Sergej: Mit Identifikation im Allgemeinen. Junge Männer sind komplett orientierungslos. Es gibt zu viele Einflüsse und zu wenige echte Erfahrungswerte, weil viele nur am Handy oder vorm Computer hängen. Auch darum wissen junge Männer nicht, was sie machen oder wer sie sein sollen.
Ich: Toxische und fragile Männlichkeit kommt mir jeden Tag im Netz unter. Junge Männer hören also heutzutage viel darüber, wie sie zu sein und nicht zu sein haben. Klassische „Männer“ werden schnell als Sündenböcke abgetan. Spürst du den Veränderungsdruck, den viele beschreiben?
Sergej: Safe. Es gibt viele Ansichten, die als kontrovers dargestellt werden. Was ist daran kontrovers, wenn ich sage: Ich bin ein maskuliner Mann und ich hätte gerne eine feminine Frau. Das eckt heute an. Ich verstehe dieses ganze Toxische-Maskulinität-Thema gar nicht. Wenn ein Hund in die Straßenbahn scheißt, ist der schlecht erzogen, unabhängig von seinem Geschlecht. Es gibt Menschen, die sich falsch benehmen. Bei maskulinen Männern äußert sich das mehr, weil die Energie extrovertierter ist. Es fällt also einfach mehr auf.
Ich: Bei toxischer Männlichkeit geht es um Männer, die sich ihrer privilegierten Stellung in der Gesellschaft nicht bewusst sind. Darunter leiden vor allem die, die keine Männer sind.
Sergej: Männer haben darunter auch gelitten. Ich glaube nicht, dass man als Bauer früher ein geiles Leben hatte. Männer in Machtpositionen und die Kirche unterdrückten die Menschen. Ich bezweifle, dass man sagen kann, dass das ganze System Männer bevorteilt.
Sergej sagt oft: „Weißt du“ und wirkt kumpelig. Er zeigt mir mühelos Übungen – auch wenn ich zum x-ten Mal nachfrage, wie etwas funktioniert. Wir versuchen einen Klimmzug. Ich greife nach den Ringen, spanne an und schaffe es nicht. Sergej steht hinter mir und schiebt mich die letzten Zentimeter nach oben. „Easy Digger!“, sagt er und klingt erfreut. Ich ziehe mich ein zweites Mal hoch, es klappt ein wenig besser. Gott sei Dank! Eigentlich lehne ich diese hypermännliche Welt komplett ab. Trotzdem möchte ich es so aussehen lassen, als fiele mir das alles wahnsinnig leicht.
Mit Hilfe gehts, aber nur ein Stückchen | Foto: Philipp Sipos
Ich: Wie lange würde es dauern, bis ich körperlich fit bin?
Sergej: In drei Monaten kannst du schon sehr viel verändern. Aber um nachhaltig sportlich zu werden, deinen Körper und deine Ernährung zu verstehen, dauert es Jahre. Du wirst Rückschläge erleben und musst ausprobieren, was für dich funktioniert. Und du musst etwas finden, das dir Spaß macht. Nehmen wir Inlineskaten. Wenn du regelmäßig fährst, kannst du dir Ziele setzen. Zum Beispiel, stärkere Oberschenkel zu bekommen. Dafür machst du Kraftsport. Also hast du beim Trainieren ein klares Ziel. Die meisten Leute trainieren einfach nur, um besser auszusehen. Aber dein Aussehen verändert sich sehr langsam. Vor allem die jungen Leute fangen an, weil sie einen Sixpack haben wollen. Wichtig ist aber, dass du dir messbare Ziele setzt.
Ich: Auf Youtube und Instagram machst du Tutorials und gibst Tipps, wie man mit Ringen trainiert. Wie kamst du eigentlich zum Sport?
Sergej: Ich habe schon immer gerne möglichst viele Sportarten ausprobiert: Skifahren, Kiten, Segeln, Wandern, Bergsport. Ich spiele dreimal die Woche Volleyball. Alle anderen Ballsportarten finde ich ziemlich scheiße. Im Fußball bin ich richtig kacke, beim Basketball breche ich mir immer die Finger. Ich habe kein gutes Ballgefühl.
Ich: Dann macht es ja auch keinen Spaß, weil die anderen immer viel besser sind!
Sergej: Es gibt immer bessere Leute. Du kannst dich trotzdem verbessern.
Ich: Das macht doch keinen Spaß!
Sergej: Das macht am meisten Spaß! Ich habe eine Zeit lang in Kanada gelebt und in einem Hotel gearbeitet. Fast jeden Tag war ich Skifahren, bis ich auf einem sehr guten Level war. Mit Rückwärtssalto und so. Dort habe ich gemerkt, wie geil es ist, wenn du zu den Besten gehörst. Der Unterschied zu den Allerbesten ist nicht mehr so groß. Selbst der weltbeste Skifahrer würde dir Respekt zollen.
Ich: Du musst auf dem Siegertreppchen also nicht ganz oben stehen, aber das Treppchen zu sehen, ist dir wichtig?
Sergej: Um auf dem Treppchen ganz oben zu stehen, musst du alles andere aufgeben. Will ich der beste Ringathlet sein, könnte ich gar nichts anderes machen. Und das möchte ich nicht.
Zähne zusammenbeißen und durch | Foto: Philipp Sipos
Ich: Wie wichtig ist es dir, dich mit anderen zu messen?
Sergej: Alles, was du machst, muss messbar sein – nicht nur im Sport. Ist etwas nicht messbar, ist es Freizeit.
Wir beschließen, noch eine Übung am Barren zu machen. Sergej bahnt sich den Weg durch die Leute, sein Sixpack gehört hier auf dem Platz auf jeden Fall zu den Top-1-Prozent. Ein Geruch, der mich an meine einzige Fitnessstudio-Erfahrung erinnert, liegt in der Luft. Nachdem ich letztes Jahr mit einem Trainer Sport gemacht hatte, habe ich mich Anfang dieses Jahres im Fitnessstudio angemeldet. Als ich kurz darauf zum ersten Mal hinging, roch es so stark nach Schweiß und süßlichem Deo, dass ich am liebsten wieder gegangen wäre. Ich quälte mich durch Übungen, ohne zu wissen, was ich da mache, und ging nach ungefähr einer Stunde. Das ist sechs Monate her; ich war nie wieder dort. Sergej riecht weiterhin frisch (vielleicht ja „herbe Vanille“, einer seiner Seifendüfte), als er über den weichen Sportboden geht. Die Metallstangen am Barren sind klebrig und abgegriffen.
Und 1, und 2, und 3 … | Foto: Philipp Sipos
Sergej: Pass auf, jetzt kommt eine easy Übung. Wir hängen uns hier rein und ziehen einfach nur die Knie hoch.
„Easy.“ Ich springe und halte mich mit ausgestreckten Armen oben. Langsam ziehe ich die Knie hoch und lasse sie wieder runter. Sergej zählt mit.
Sergej: Nice, let’s go! 1. 2. Spannung oben beibehalten. Und atmen. 3. 4. Sehr gut. 5. Und jetzt einmal oben halten. 6. Halten. Und runter. Weiter!
Ich will diese Übung durchziehen, ohne zu scheitern. Mich nervt, dass ich nicht abliefern kann.
Sergej: 8. 9. 10. 11. 12.
Ich lasse mich auf den Boden fallen. Mir brennen die Arme, mein Genick tut weh. Pause. Luft holen. Einen Satz mache ich noch. Sergej ruft: „Spannung!“ „Nice!“ Und: „Genieße den Schmerz! Gib alles, sonst fühlst du dich später schlecht.“ Fertig. Wir klatschen uns ab. Mir ist schlecht. Während ich mich bedauere und ein wenig mit den Armen rudere, um die Übelkeit und das ausgeleierte Gefühl loszuwerden, macht Sergej Fotos. Er springt an die Geräte und posiert ohne Probleme für die Kamera. Währenddessen kommt ein Sportler näher und fragt, was wir hier machen. Sergej stellt sich vor und fragt ihn, ob er seine Seifen kenne. Während er ihm eine Seife schenkt, macht er noch ein kurzes Video für die Insta-Story. Dann gehen wir in das Café vom Monbijou-Theater. Was trinkt ein Fitness-König? Mineralwasser.
Ich: Auf deiner Instagram-Seite schreibst du: „Fitness soll dein Leben bereichern, nicht konsumieren.“ Nimmst du wahr, dass Menschen von Fitness und Sport konsumiert werden?
Sergej: Auf jeden Fall. Fitness ist ja nicht nur eine Sportart. Sondern hat auch viel mit dem Aussehen zu tun. Manche 16-Jährige sind nur am Pumpen. Ich denke: Geh halt mal auf eine Party! Auf Instagram oder Tiktok sieht man nur starke Bauchmuskeln und breite Kreuze. So verändert sich langsam deine Normalität. Du siehst nur Leute, die krasse Leistungen bringen. Ein Zwölfjähriger, der auf Skiern einen dreifachen Backflip macht, ist etwas anderes als ein 17-Jähriger, der sich bis oben hin zustofft, aber dadurch krass aussieht. Da denken andere 17-Jährige, das muss ich auch machen, um glücklich zu sein.
Ich: Findest du, jeder Mann sollte Sport machen?
Sergej: Jeder Mensch sollte Sport machen, auch Frauen. Über Sport kannst du viel lernen, auch in Bezug auf deinen Alltag oder deine Erfahrung als Mann in der Gesellschaft. Alles, was ich über mich gelernt habe, kam ursprünglich aus dem Sport. Dadurch lernst du, leidensfähig zu sein. Das ist für Männer extrem wichtig.
Ich: Warum?
Sergej: Als Mann durchläufst du verschiedene Erfahrungen in deinem Leben. Ein 18-jähriger Mann, dem das Leben noch bevorsteht, gilt als Loser in unserer Gesellschaft. Nur wenn er was erreicht, wird er von anderen respektiert. Und dieser Respekt kommt von Schmerz und Leid. Die Leute, die du respektierst, haben dafür einen Preis bezahlt. Die haben gelitten. Als heranwachsender Mann muss dir also klar sein, dass du gewisses Leid durchlaufen musst. Sport ist der einfachste Weg, das zu lernen. Ich selbst versuche immer, ein bisschen außerhalb meiner Komfortzone zu sein. So mache ich Fortschritte.
Ich: Wie war es für dich, 18 Jahre alt zu sein?
Sergej: Ich hatte eine chillige Jugend, habe sehr viel gekifft und gefeiert. In der Schule war ich eine Niete. Wegen meines ADHS fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Und in der Schule meldete ich mich ungerne. Damals war ich sehr schüchtern. Schule war für mich aber sozial eine geile Erfahrung. Ich konnte mich für alles Mögliche begeistern. Und ich glaube, die meisten mochten mich. Ich war keines der coolen Kids, aber auch kein Außenseiter. Ich habe eine Zeit lang andere gemobbt. Bis ich gemerkt habe, dass das nicht so geil ist. Dann habe ich mich auf deren Seite gestellt.
Ich: Wurdest du selbst gemobbt?
Sergej: Es gab Leute, die das versucht haben. Ich hatte mit Hautproblemen zu kämpfen. Manche sagten, dass ich dreckig sei. Als ich gezockt habe, war ich der Suchti. Heute denken Leute, dass ich ein Fuckboy sei. Dabei bin ich das gar nicht.
Ich: Auf Instagram hast du erzählt, dass du eine Essstörung hattest.
Sergej: Ich habe schon immer sehr viel gegessen. In Ägypten habe ich mal bei einem Burger-Wettessen mitgemacht. Irgendwann hatte ich deshalb ein kleines Bäuchlein und noch mehr Hautprobleme. Weil ich mich so sehr limitiert habe, um abzunehmen, habe ich Fressattacken bekommen. Manchmal nahm ich 6.000 bis 8.000 Kalorien am Abend zu mir. Danach fühlte ich mich tagelang scheiße.
Ich: Wie hast du das überwunden? Warst du beim Arzt?
Sergej: Nein, ich habe mit Leuten aus meinem Umfeld darüber gesprochen. Was mir geholfen hat, war ein strenger Ernährungsplan und über drei Monate konsequent im Kalorienüberschuss zu essen, um meinen Körper umzugewöhnen.
Wenn Sergej darüber spricht, wie er gemobbt wurde oder seine Essstörung überstanden hat, klingen diese Erfahrungen heute wie Hindernisse, die er längst hinter sich gelassen hat. Es sind Erfolgsgeschichten.
Endlich wieder sitzen: King Sergej und ich im Gespräch | Foto: Philipp Sipos
Ich: Du verrätst auf Social Media wenig über deine Kindheit und Jugend. Dein Alter willst du nicht nennen. Erzähle mir, wie du aufgewachsen bist.
Sergej: Ich hatte eine sehr schöne Kindheit und Jugend. Früher war ich ein Nesthocker und wollte nie in den Urlaub. Was jetzt genau umgekehrt ist. Als Jugendlicher war ich nie wirklich zielstrebig. Nach der Schule habe ich erst in einer Bank gejobbt. Als ein Kollege nach Kanada gegangen ist, bin ich mit und habe in einem Hotel im Housekeeping gearbeitet. Ich habe trainiert und gefeiert und wollte damals viele Erfahrungen sammeln. Ich wusste damals schon: Ich werde kein normales Leben mit einem 9-to-5-Bürojob führen. Ich habe auch nicht studiert.
Ich wollte früher auch nie in den Urlaub, sondern am liebsten zuhause sein, in meinem eigenen Umfeld und bei meinen Freunden. Im Gegensatz zu Sergej finde ich neue Erfahrungen bis heute oft noch zu aufregend. Das Verlassen meiner Komfortzone fällt mir schwer. Er hat das Ausprobieren und Erfahrungen sammeln zu seiner Marke gemacht. Den Gedanken, durch Leid zu wachsen, finde ich erst absurd. Das klingt so animalisch, so patriarchal. Wenn ich genauer darüber nachdenke, kann ich dem Gedanken aber etwas abgewinnen. Eigentlich ist es banal, aber auch ich bin durch die Herausforderungen in meinem Leben krass gewachsen. Da gibt es große Erlebnisse, wie den Tod meiner Eltern, als ich gerade mal Mitte 20 war oder kleinere Dinge, wie das Sportmachen in der Öffentlichkeit. So sehr ich meine Komfortzone liebe, das Leben findet halt doch außerhalb davon statt.
Für junge Männer gibt es mittlerweile Gruppen, die dabei helfen, über sich selbst hinauszuwachsen. Eine dieser Gruppen wird von einem Freund von Sergej geleitet, sie heißt „Das Rudel“. Auf Instagram zeigt das Rudel Videos von Männern, die am Lagerfeuer sitzen, Kanu fahren, durch den Wald joggen, Feuer machen und Tiere essen. T-Shirts tragen die Typen dabei eigentlich nie.
Ich: Was suchen die Leute in einer Gruppe wie dem Rudel?
Sergej: Als Mann solltest du raus in die Welt und unkomfortable Erfahrungen machen. Und das am besten mit anderen zusammen. In Communitys wie dem Rudel haben alle Bock, diese unkomfortablen Erfahrungen zu machen und wollen das Gemeinschaftsgefühl erleben.
Ich: Mit unkomfortablen Erfahrungen meinst du, gemeinsam zu leiden?
Sergej: Genau! Es geht darum, maskuline Eigenschaften zu stärken. Bei einem Event haben wir sehr viel Sport gemacht. Das ist ein bisschen wie Pfadfinder für Erwachsene. Wir haben zusammen gekocht. Das erlebst du in unserer Gesellschaft gar nicht mehr so oft. Zusammen etwas erleben, ohne Digitales.
Ich: Du hast vorhin gesagt, 18-jährige Männer seien in unserer Gesellschaft Loser. Gehen sie also zum Rudel, um weniger als Loser zu gelten?
Sergej: Du sammelst auf jeden Fall neue Erfahrungen. Bei dem Rudel spielt der Community-Effekt eine große Rolle, viele finden hier Gleichgesinnte. Leute, die dir den Rücken stärken, auch außerhalb dieser Veranstaltung. Wenn du etwas mit anderen gemeinsam machst, hat das einen großen psychologischen Effekt. Jeder leistet seinen Teil, man ist ein Team. Man muss sich überwinden. Das stärkt dein Sein als Mann.
Ich: Wie wichtig ist Gemeinschaft für junge Männer?
Sergej: Sie ist das Wichtigste. In der männlichen Erfahrung wird dir sehr viel Leid und Schmerz begegnen. Um von anderen respektiert zu werden, musst du da durch. Es ist natürlich viel geiler, das mit anderen Leuten zu machen und sich gegenseitig zu pushen.
Als schwuler Mann kenne ich die Wichtigkeit von Gemeinschaft. Queere Menschen schließen sich oft in Wahlfamilien und eigenen Communitys zusammen, weil sie von der Gesellschaft oder ihren eigenen Familien abgelehnt werden. Das Verbünden hilft gegen Angriffe von außen. Leider ist die LGBTQIA-Community sich oft untereinander nicht so einig, wie sie es gerne wäre. Auch da gibt es Generationenkonflikte und Streit. Es wirkt, als herrsche in einer Gruppe wie dem Rudel mehr Einigkeit, weil alle ungefähr gleich alt sind und an einem Ziel arbeiten: Respekt zu erlangen.
Ich: Deine Follower loben dich auf Instagram für deine sportlichen Erfolge und deinen Körper. Macht dir die Anerkennung, die du bekommst, Druck?
Sergej: Ich möchte Entscheidungen treffen, die mich stolz machen. Das macht mir Druck. Aber lieber machen und komplett verkacken, als gar nichts tun. Und auch da zeigt sich: Alleine kommst du nicht weit. Du brauchst Leute mit anderen Stärken, um deine Schwächen auszugleichen. Ich habe irgendwann gemerkt, jeden sportlichen Fortschritt, den ich hatte, habe ich durch jemand anderen erreicht.
Ich: Muss man es sich verdienen, ein Mann zu sein?
Sergej: Ja. In allen Naturvölkern gab es immer Mutproben, die einen Jungen zum Mann machten. Das ist das, was ich mit Schmerz und Leid meine. Wenn du eine männliche Person beschreibst, ist die Frage: Wie gestanden ist diese Person? Was hat er geschafft?
Ich: Bist du zufrieden?
Sergej: Ich bin stolz, aber nicht zufrieden. Es geht immer besser.
Andere wären zufrieden mit sich, wenn sie solche Kunststücke könnten. King Sergej ist aber höchstens stolz. Foto: Philipp Sipos
Die Sonne steht tief, wir haben vier Flaschen Mineralwasser getrunken. Sergej und ich klatschen ab. Als ich nach Hause gehe, komme ich wieder an der Outdoor-Sport-Area vorbei. Auf dem kleinen Platz wimmelt es von Menschen. Da sind Rentner, die trainieren, noch mehr Männer ohne Shirts und Leute, die einen Handstand probieren. Eine lustige Community, wenn auch eher eine zufällige Gruppe.
Für mich ist das vermeintliche klassische männliche Gehabe immer schon absurd gewesen. Ich finde Begrüßungen mit Einschlagen unter Männern peinlich und umarme viel lieber. Sergej bewegt sich entspannt durch diese Rituale. Er tritt selbstbewusst auf, läuft über den Sportplatz, als wäre er jeden Tag hier und kommt mit Leuten gelassen ins Gespräch, während ich noch daneben stehe und nach Luft schnappe. Vermutlich verkörpert er so die Form eines „echten“ Mannes, der viele junge Männer in Gruppen wie dem Rudel oder im Fitnessstudio nacheifern. Auch ich wäre vermutlich manchmal gerne mehr dieser Mann, kann mich aber schon mit dem Wort „Mann“ nicht so richtig identifizieren.
Ich kann seine Gedanken über das „Mann werden“ und die Situation junger Männer besser nachvollziehen, als ich vor unserem Gespräch gedacht habe. Auch wenn ich mir mit 18 nicht besonders verloren vorkam, machen junge Männer auf mich oft den Eindruck, dass sie kein klares Ziel hätten. Das ist nicht schlimm, ich hatte das auch nicht. Aber ich glaube, viele suchen das. Vielleicht würde ich mich heute auch selbstbewusster über einen Sportplatz bewegen, wenn ich früher angefangen hätte, fit zu werden oder schon früher Zugang zu Sport gehabt hätte. Für mich war aber schon der Sportunterricht eine grausame Herausforderung, weil ich gar nicht wusste, wie Fußball oder die ganze Turnerei funktionieren. Ich wollte nur schnell weg und nie wieder hin. Dadurch wurde ich auch nie besser. Ich frage mich nach dem Gespräch mit Sergej, ob meine Flucht der beste Umgang damit war.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger