Die großen Meilensteine der queeren Geschichte werden häufig mit schwulen Männern erzählt: Magnus Hirschfeld, Harvey Milk, Freddy Mercury, Klaus Wowereit – alle schwul. Wann hast du zuletzt etwas über Emily Dickinson, Frida Kahlo und Eleanor Roosevelt gehört? Lesbische Geschichte ist oft unsichtbar.
Diesen Buchauszug hat Lars Lindauer ausgesucht.
Lars schreibt über queere und gesellschaftliche Themen. Hier begründet er, warum er dieses Buch ausgewählt hat.
Die amerikanische Aktivistin und Autorin Joan Nestle will das ändern. Die 84-jährige Jüdin, Feministin und Lesbe schrieb politische Essays über Sex, Community, linken Widerstand und queere Geschichte. Nestle hatte ihr Coming-out 1958. In einer Zeit, als es alles andere als sicher war, lesbisch oder queer zu sein. Zum Vergleich: Erst ab 1969 gab es nach den Stonewall-Aufständen in der New Yorker Christopher Street nach und nach regelmäßige Demonstrationen für queere Rechte – die Christopher Street Days und Prides, die wir heute noch feiern.
In ihrem Text „Stimmen aus der lesbischen Geschichte“ von 1982, der nun in dem Essayband „Begehren und Widerstand“ erschienen ist, lässt Joan Nestle Menschen aus fast 100 Jahren lesbischer Geschichte zu Wort kommen. Du musst gar nicht alle Namen, Orte und Ereignisse kennen, um zu verstehen: Lesbische und queere Frauen waren schon immer da. Wir lesen nur viel zu selten etwas über ihre Geschichte.
Ein Leben ohne Geschichte bedeutet, wie ein Kind zu leben, das ständig von einer seltsamen, namenlosen Welt verblüfft und herausgefordert wird. Es liegt ein tiefes Staunen in dieser Form der Existenz, eine vitale Neugier und ein Abenteuersinn, die wir am besten unser ganzes Leben lang lebendig halten. Doch eine Gemeinschaft, die gegen eine Welt ankämpft, die sie als obszön verurteilt hat, braucht festeren Boden unter ihren Füßen.
Wir brauchen das Wissen darum, dass wir nicht zufällig existieren; dass unsere Kultur im Laufe der Zeit gewachsen ist und sich verändert hat; dass wir, wie andere, eine soziale Geschichte haben, die aus individuellen Leben, Kämpfen der Community und einem bestimmten Gebrauch von Sprache, Kleidung und Verhalten besteht – kurz, dass wir die Geschichte einer Gemeinschaft zu erzählen haben. Mit Geschichte zu leben, bedeutet, eine Erinnerung nicht nur an unsere eigenen Leben zu haben, sondern auch an die Leben anderer, an Menschen, die wir nie getroffen haben, deren Stimmen und Handlungen uns jedoch mit unserem kollektiven Selbst verbinden.
Eine Geschichte zu haben, kann härter sein, als keine zu haben: Die Realität einer zeitlichen Kontinuität kommt mit ihren eigenen Bürden. Wir Lesben in den 1980ern werden in Schwierigkeiten kommen, wenn wir uns wie in den 1950ern verhalten würden oder so, als ob es die 1920er nie gegeben hätte. Dank der Arbeit von nationalen und internationalen lesbischen und schwulen Graswurzel-Historiker:innen entdeckten wir Muster, sowohl in unserer Unterdrückung als auch in unseren Antworten darauf. Wir können anfangen zu analysieren, was schlecht lief und was gut lief. Wir können die Geburt neuer Wege aufzeichnen und dabei zusehen, wie alte sterben. Geschichte lässt uns gleichzeitig Teil einer Community sein und allein mit Blick auf die kommenden Veränderungen. Eine Geschichte zu haben, verkompliziert diese Fragen sicher noch, weil vereinfachende Positionen ihr selten gerecht werden.
Ich bin 42 Jahre alt (1982) und ich hatte mein Coming-out 1958. Ich habe schon oft diese Erklärung abgegeben, doch erst jetzt beginne ich, meine eigene historische Komplexität zu begreifen. Während ich die lesbische Community beobachte und ein Teil von ihr bin, habe ich viele Echos in meinem Kopf. Ich höre die Stimmen anderer Zeiten, die mich wichtige Lektionen lehren. Ich feiere und trauere gleichzeitig. Ich möchte davon erzählen, was mir meine Vergangenheit beigebracht hat und welchen Herausforderungen wir heute entgegensehen.
Die lesbische Community steht an einer Weggabelung: Wir können uns entweder selbst betrügen oder unseren Mut, unsere Kultur und Intelligenz in neues Terrain tragen. Die jüngste Razzia im Blues, einer Bar für Schwarze Lesben und Schwule aus der Arbeiter:innenklasse in Manhattan; die Schikanen gegen das Déjà Vu und das Duchess, zweier Lesbenbars in New York City; die Polizeiübergriffe auf Schwarze Lesben im Washington Square Park; die zunehmenden körperlichen Angriffe auf Lesben und Schwule in allen Teilen des Landes; die erneuten Verhaftungen von Männern in Frauenkleidern auf Long Island; die Weigerung, S/M-Lesben Raum zu geben, um zu sprechen und ihre Sexualität zu erforschen; die Feindseligkeit gegenüber Butch-Fem-Lesben – all das bringt mir die erste Ebene meiner Geschichte zurück: die Erinnerung daran, queer, sonderbar zu sein, mein Erbe aus den Fünfzigerjahren.
Wurzeln in einer Gemeinschaft, deren Mitglieder Freaks genannt werden
Das ist die Schicht der Erinnerungen, die mich am einsamsten macht. Das Wort queer wird als männliches Wort angesehen oder ist so weit von den befreienden Energien im lesbischen Feminismus entfernt, dass ich mich wie ein Relikt aus einer anderen Zeit fühle, wenn ich es benutze. Aber ich brauche jetzt das Wissen aus dieser Erinnerung. Ich muss mich daran erinnern, wie es war, als junge Fem mit meiner butchy Geliebten die Straße entlangzugehen. Ich muss mich daran erinnern, wie es war, in den Zeiten von Joseph McCarthy für sexuellen Freiraum zu kämpfen. Ich muss mich an die Erniedrigung und den Mut erinnern, in der Toilettenschlange zu stehen. Ich muss mich an die aufleuchtenden roten Lichter erinnern, die die Ankunft der Polizei ankündigten und an die verschlossenen Gesichter der Sittenpolizei, die Polizeiwagen, die meine Freund:innen abtransportierten. Ich muss die Erinnerung an die passing women und ihre Ehefrauen lebendig halten, die Erinnerung an Lesben, die, weil sie „wie Männer aussahen“, lächerlich gemacht, geschlagen, eingesperrt, versteckt wurden. Diese Frauen forderten Vorstellungen von Geschlecht zu einer Zeit heraus, als nur Abweichende das Geschlecht als Schicksal hinterfragten. Ich muss die Erinnerung daran lebendig halten, dass in den 1940er-Jahren bei ärztlichen Untersuchungen die Klitoris und die Nippel von Lesben gemessen wurden, um unsere biologische Merkwürdigkeit zu beweisen. Wenn Transvestit:innen und trans Personen von der Polizei verprügelt werden, so wie es im Blues passiert ist, dann ruft diese Geschichte mich zum Handeln auf. Ich kann mich nicht abwenden. Meine Wurzeln liegen in der Geschichte einer Gemeinschaft, deren Mitglieder Freaks genannt wurden.
Die 1980er, eine aufgeklärtere Zeit, tragen auch eine Botschaft über das Anderssein in sich. In einem Artikel im Journal of Homosexuality mit dem Titel „Sexual Preference or Personal Style? Why Lesbians Are Disliked“ von 1980 dokumentierten zwei wohlmeinende Soziolog:innen die Wut von mehr als fünfhundert hetero Studierenden, männlich und weiblich, auf Lesben, die sich klar als Butch-Fem identifizierten. Das waren die Lesben, die von den hetero Teilnehmenden der Umfrage am stärksten abgelehnt wurden. Der abschließende Ratschlag der Autor:innen lautet, „dass Lesben, wenn sie von Heterosexuellen besser akzeptiert werden wollen, einen androgynen Stil annehmen sollten. Ich kenne diesen Deal: Er ist tödlich. Uns wird Akzeptanz angeboten, wenn wir unser lesbisches Selbst „abschwächen“; uns wird Sicherheit angeboten, wenn wir uns von dem leicht erkennbaren Anderen abwenden. Ich fühle die Angst, als queer erkannt zu werden, jedes Mal, wenn wir bewusst das Wort Frau benutzen, wenn wir eigentlich Lesbe meinen. Dabei kenne ich queere Frauen. Ich kenne ihre Stärke und ihren Mut, ebenso sehr wie ihre Einsamkeit und ihren Schmerz.
Stimmen aus der lesbischen Geschichte
Aus „Memories“ von Jeanne Flash Gray, die über das queere Leben in Harlem in den 1930ern und 1940ern in The Other Black Woman schreibt:
Bevor andere entdeckten, dass Schwarze Lesben und Schwule Geld zum Ausgeben hatten, gab es viele Orte in Harlem, die von Schwarzen Lesben und Schwulen und für sie geführt wurden. Als wir noch Bulldagger und Schwuchteln waren … Ich bin froh, dass ich das Glück hatte, zu Blind Charlie’s und Mr. Rivers und ähnlichen Orten in Harlem gehen zu können. Ich bin froh, dass ich das Glück hatte, eine Bulldagger zu sein, bevor es in die Mode kam, eine Lesbe zu sein.
Aus einem Brief an das Lesbian Herstory Archives, der die frühe Geschichte der Moody Garden Gang dokumentiert, einer Butch-Fem-Community der Arbeiter:innenklasse in Lowell, Massachusetts. Die Worte stammen von Jean, der Lead-Gitarristin und Sängerin einer Frauenband, die in den späten 1950ern und frühen 1960ern auftrat:
Als ich in den 50ern gebeten wurde, im Silver Star Café zu spielen, gab es keinen Ort, an dem sich Queers und unsere wenigen Freund:innen treffen konnten; und da war immer die Angst davor, zum Verlassen der Bar aufgefordert zu werden oder auf dem nächtlichen Heimweg körperlich angegriffen zu werden. Doch hier gab es die Möglichkeit, ich selbst zu sein und so akzeptiert zu werden, wie ich war. Wir begannen, am Freitag, Samstag und Sonntag zu spielen, den ganzen Tag, und innerhalb kürzester Zeit musste das Publikum früh da sein, um einen Platz zu bekommen. Die jungen Leute kamen in Strömen und obwohl es eine Hetero-Bar war, waren wir viermal so viele und manchmal mehr als das. Sie kamen von überall her, manche waren zwei oder drei Stunden unterwegs, nur für einen Abend mit uns. Es war unser Mekka, wir waren eine Familie und wir hatten ein Zuhause gefunden … Viele der Neuen fragten, was an Moody Gardens so besonders war. Für uns war es unsere Welt, eine kleine Welt, ja, aber wer am Verhungern ist, lehnt eine Scheibe Brot nicht ab und wir hungerten einfach nach diesem Gefühl, andere um uns herum zu haben. „Wir waren die Könige der Welt. Wir waren Moody Gardens. Und heute ist der Ausdruck „Moody Gardens“ genauso Teil unseres Lebens, wie er es damals war. Es gibt heute keine einzige Person, die damals mit dabei war und sich nicht an die guten und schlechten Zeiten erinnert; die Freund:innen, die sich auch nach dreißig Jahren immer noch die Zeit nehmen, um sich zu treffen und zu erinnern. Wir sind ein nur kleiner Teil unserer Geschichte und deswegen muss ich schreiben und unseren Schwestern heute erzählen, dass, wenn es nicht kleine Moody Gardens in der ganzen Welt gegeben hätte, es nicht möglich wäre so zusammenzukommen, wie wir es heute tun, und ein wenig zu fühlen, dass wir akzeptiert werden und nicht alleine sind.
New York City, 1927: Das erste Stück am Broadway mit einem lesbischen Motiv (jetzt weiß ich, dass es das zweite war, das erste war ein jiddisches Stück) wird vom Sittendezernat New York City abgesetzt, weil es als unmoralisch angesehen wird. Darsteller:innen und Produzent:innen werden verhaftet. Eine Koalition aus Frauen- und Kirchengruppen steht an der Spitze der Kampagne gegen dieses und mehrere andere Stücke in New York und New Jersey, die Homosexualität zum Thema haben.
New York City, 1962 (aus Beebo Brinker, einem lesbischen Taschenroman von Ann Bannon):
Momentan gab es eine Reihe von Razzien in homosexuellen Kneipen, bei denen die Bullen alte Dykes, die seit Ewigkeiten zum festen Bestandteil von Greenwich Village gehörten, von der Straße drängten, um die parfümierten jungen Ehefrauen aus der Mittelschicht nicht abzuschrecken.
New York City, 1964: 46 Lesben werden in der größten Razzia in einer lesbischen Bar in New York City verhaftet.
Dezember 1971: Der Supreme Court der USA urteilt, dass Fotografien, die explizite lesbische sexuelle Aktivitäten zeigen, Umarmungen eingeschlossen, obszön und damit pornografisch seien.
Mitte der 60er-Jahre verstand ich immer mehr, dass ich nicht nur queer war, sondern auch eine Lesbe. Ich war Teil dieser besonderen Tradition und Kultur, die mich oft mit einer anderen Geschichte, die ich teilte, in Konflikt brachte, nämlich der, eine Frau zu sein. Erst in den frühen 70er-Jahren lernte ich das Vokabular des Feminismus kennen und erkannte auf eine andere Art und Weise, was ich bei älteren Lesben geliebt und bewundert hatte: ihre Kühnheit, selbstständige Frauen zu sein, ihre mutige Unabhängigkeit von allen anderen für ihr wirtschaftliches Überleben, ihre Courage, sexuelle Expertise zu haben und diese anderen Frauen anzubieten, ihren Aufbau frauenliebender Communitys in ihrem Zuhause und ihren Vierteln, ihre gemeinschaftliche Sorge umeinander in Zeiten von Krankheit, Trennung und Tod. Ich hatte eine feministische Community gekannt, noch bevor ich eine klare Formulierung der Ideologie gehört hatte.
Jetzt ist Feminismus so essentiell für meine Geschichte wie mein Lesbischsein – es ist eine Art, die Welt zu sehen, die alle tradierten Annahmen über Frauen herausfordert. Ich habe Sprache sich verändern sehen, wenn Frauen sich weigern, historisch in alten Paradigmen gefangen zu bleiben, den alten Schemata des Lebens, die der Macht von Frauen misstrauen und sie beschränken. Ich bin von Frauen geheilt worden, die auf der Suche nach alten Weisheiten sind, die gelernt haben, ihr Bedürfnis nach neuen Quellen spiritueller Kraft zu verstehen. Ich bin Teil des tatsächlichen Kampfs von Feminist:innen, lesbisch und hetero, um der physischen Brutalität gegen Frauen, die jede Gesellschaft plagt, etwas entgegenzusetzen. Krisenzentren für vergewaltigte Frauen, Frauenhäuser, Telefonberatung: all das sind Errungenschaften der 70er, als sich Feminismus und Lesbentum die Hände reichten.
Die Leben aller Frauen sind wertvoll, doch Geschichte ist eine komplizierte Angelegenheit. Während die gesamte lesbische Geschichte zur Frauengeschichte gehört, ist nicht die ganze Frauengeschichte lesbische Geschichte. Diese Identitäten können manchmal ineinander verwoben sein, doch sie sind separate, unterschiedliche Vermächtnisse, die manchmal miteinander in Konflikt geraten.
Aus einem Brief vom 10. Januar 1927, verfasst von der Besucherin eines Treffens des Heterodoxy Clubs, einer feministischen Gruppe, die sich regelmäßig in Greenwich Village traf:
Eine Sache fand ich bei dem Treffen interessant oder eher schrecklich ärgerlich. Ich frage mich, ob es euch aufgefallen ist – oder ob es sich nur im meiner Vorstellung abspielte. Es geht um die Frau, die zwei Plätze links von Dr. Hollingsworth saß. Ich glaube, ihr Name war Helen Hull. Auf mich wirkte es so, als ob ihr Leben die Hölle war, als sie jünger war. Als Dr. Hollingsworth in ihrer Definition der perfekten Feministin eine Frau einschloß, die glücklich verheiratet war und Kinder hatte, zerstörte das alle Verteidigungsmechanismen, die Miss Hull hatte. Hast du bemerkt, wie sie sich zur anderen Psychoanalytikerin mit weißen Haaren drehte, – Dr. Potter, richtig? – und zu einer oder zwei anderen Frauen in der Hoffnung, unterstützt zu werden? Und als sie keine Unterstützung erfuhr, hast du ihr Gesicht gesehen und bemerkt, dass sie von da an nicht mehr sprach? Ich frage mich, ob du etwas über sie weißt. Vielleicht habe ich keine Ahnung, aber ich glaube, die Situation war für sie wirklich tragisch.
Heute hat die Debatte über Sexualität historische Wunden sogar noch tiefer aufgerissen, weil es jetzt andere Lesben sind, die über die Akzeptanz unserer Sexualität urteilen. Das hat Geschichte mich gelehrt:
Wenn wir uns dafür entscheiden, in der Antipornografiebewegung involviert zu sein, wäre es hilfreich, nicht zu vergessen, dass viele von uns früh Opfer von Razzien des Sittendezernats wurden; dass einige von uns lesbische Prostituierte und Sexarbeiter:innen sind; dass wir eine lange Geschichte des Überlebens und des Zusammenfindens an Orten haben, die andere Frauen aus Angst nicht betreten haben; dass Sexualität schon immer unsere umkämpfte Grenze war.
Wenn wir jetzt die NOW-Resolution (National Organization for Women) unter anderem gegen öffentliche Zurschaustellung von Zärtlichkeit unterzeichnen, sollten wir uns daran erinnern, dass andere, so wie ich, Sex in öffentlichen Toiletten, an öffentlichen Stränden, in geparkten Autos und auf Kirchenbänken hatten, weil wir an keine anderen Orte gehen konnten; dass Lesben in den Fünfzigerjahren obszön genannt wurden, wenn sie öffentlich Händchen hielten.
Meine lesbische Geschichte sagt mir, dass das Sittendezernat niemals auf unserer Seite sein wird, auch wenn es von Frauen gerufen wird; dass, wenn die Polizei eine Razzia in einem Viertel von „Unerwünschten“ machte, diese Unerwünschten auch Straßenlesben mit einschlossen; dass ich einen anderen Weg finden muss, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, ohne meinem lesbischen Selbst Gewalt anzutun. Ich muss einen Weg finden, der nicht mit den staatlichen Kräften gegen Sexualität kooperiert, die meine Bars stürmten, meine Frauen zusammenschlugen, uns in Toiletten einsperrten, unsere Stücke absetzten und unsere Bücher verboten.
Joan Nestle, Begehren und Widerstand, Berlin 2024 (c) etece buch
Scham und Schuld, Zensur und Vorurteile über Sexualität, die Weigerung zuzuhören und die Unfähigkeit, sexuelle Unterschiede zu respektieren, gehören nicht zu der Welt, für die ich gekämpft habe. Die wirkliche Herausforderung für uns alle, Lesben und Feminist:innen, ist die Frage, ob wir Gewalt gegen Frauen beseitigen können, ohne die erotische Komplexität von Frauen zu opfern. Ich möchte keine Diktatorin des Begehrens werden, nicht gegenüber anderen Lesben oder Schwulen, die den Mut haben, auf ihre eigenen Stimmen zu hören.
Aus einem Brief an den Newsletter des Lesbian Herstory Archives, verfasst von Harriet Lane:
Ich lebte 1960 zuhause. (Ich war neunzehn.) Meine Freundin auch. Manchmal sind wir zu billigen Hotels in der Nähe des Times Square gegangen, doch oft war selbst das schwierig zu arrangieren. Irgendwie hörten wir von einer Frau auf der 14th Street, die Lesben Zimmer pro Stunde oder für eine Nacht vermietete (ich erinnere mich nicht mehr genau) und obwohl wir schreckliche Angst davor hatten, was uns dort erwarten würde, gingen wir hin. Unten an der Klingel stand „Amazon Ltd“. An der Tür begrüßte uns eine lächelnde Frau, die uns mit in die Küche nahm, uns Tee kochte, mit uns dort saß und sich eine Weile mit uns unterhielt. Dann ließ sie uns allein. Die Küche befand sich am Ende eines langen Flurs, von dem aus mehrere Zimmer abgingen. Ich denke, das waren die Zimmer, die sie vermietete, da wir manchmal unterdrückte Geräusche von dort hörten. Ich kann mich nicht erinnern, jemals jemand anderen dort gesehen zu haben. Wir haben nie ein Zimmer gemietet (wir hatten immer noch zu viel Angst, jemandem unsere erotischen Gefühle zu offenbaren), aber wir gingen in dem kalten Winter häufig dorthin, um mit ihr in der Küche zu sitzen und zu reden oder allein im Salon am anderen Ende des Flurs zu sein. Die Frau, deren Namen ich vielleicht nie wusste, fragte nie nach Geld oder übte irgendeinen Druck aus. Für uns war es ein sicherer Ort und ich denke jetzt an diese Frau und würde wirklich gern von anderen hören, die dorthin gegangen sind.
„Wir müssen nach Verbindungen suchen, nicht nach Verurteilungen“
Eine der Lektionen, die ich gelernt habe beim Versuch, mit Geschichte zu leben, ist, dass wir für jede Repression eine geeignete Form des Widerstands fanden. Unsere Geschichte ist die Chronik unserer Lebendigkeit, unserer Leidenschaft, unserer Klugheit und oft unserer Integrität. Wir müssen jetzt einen Weg finden, mit dem wir sowohl das Alte als auch das Neue ehren können. Wir müssen nach Verbindungen suchen, nicht nach Verurteilungen.
Während wir versuchen, matriarchale Mythen aufzudecken, dürfen wir nicht die Big-Daddy-Zellen unserer Gefängnisse vergessen, in die Lesben gesteckt wurden, die wie Männer aussahen.
Während wir unsere Namen ändern, um die Erde zu feiern, müssen wir an die Frauen denken, die ihre Namen zu Frankie und Jo änderten, um ihr frauenliebendes Selbst zu feiern. Und wenn wir versucht sind, sie als männlich identifizierte Personen abzulehnen, müssen wir bedenken, dass nur die Eingesperrten wissen, welche Art von Freiheit sie am meisten brauchen.
Während einige von uns vielleicht einen Kleidungsstil wählen, der klar eine feministische Mode symbolisiert, können wir nicht die Fem-Frau als Opfer oder als Verräterin aburteilen, wenn sie sich selbst als ansehnliches Geschenk für die Frau, die sie liebt, oder zu ihrer eigenen Freude präsentiert.
Während wir nach den Amazonenritualen suchen, sollten wir auch die Traditionen lesbischer Communitys wie der alten Moody Garden Gang erkunden.
Wenn wir über verschiedene Sexualpraktiken und ihre Bedeutung diskutieren, sollten wir niemals den lesbischen Frauen ihr Recht nehmen, die Sexualität zu erforschen und zu verfechten, die sie für sich selbst gewonnen haben. Wir dürfen nicht zu unserer eigenen Sittenpolizei werden, indem wir das alte Wort obszön mit dem Ausdruck vom Patriarchat korrumpiert ersetzen.
Wir können die Frauen ehren, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen, indem wir uns dafür stark machen, dass mehr Krisenzentren für vergewaltigte Frauen und Frauenhäuser entstehen. Wir können auch die Frauen ehren, die sich darum bemühen, neue Arten für uns zu finden, in denen wir sexuelles Begehren und Fantasien erkunden können. Sichere, offene, öffentliche sexuelle Räume für Lesben zu schaffen, ist eine absolut notwendige politische Aktion.
Heutzutage, wo lesbische Performer:innen (oder Performerinnen, wie sie sich selbst nennen) in der Carnegie Hall singen, Lesben von nationalen politischen Parteien umworben werden und schwule Bürgerrechtsorganisationen mit großem Budget auftreten, sollten wir uns daran erinnern, dass unser Kampf darin besteht, in der Fülle unserer Andersartigkeit akzeptiert zu werden, und nicht, weil wir versprechen, wie alle anderen zu sein.
Während wir die Kultur von Frauen und ihre Verbindung zu lesbischer Kultur erforschen, müssen wir erkennen, dass wir nicht länger zu sagen brauchen, eine Lesbe zu sein sei mehr als eine Sexualität. Sexualität ist nicht eine einschränkende Kraft, sondern eine ganze Welt in sich, die das Feuer aller unserer anderen Errungenschaften nährt. Viele von uns fangen gerade erst an, die Möglichkeiten erotischer Wahl und Selbsterschaffung zu verstehen. Es ist diese offene Erklärung unseres sexuellen Selbst, die Moralist:innen und Regierungen zum Schweigen zu bringen versuchen. Sie wissen, dass eine Lesbe, die ihr Begehren feiert, den möglichen sozialen Wandel für alle Frauen symbolisiert.
Liegt es daran, dass ich über 40 bin, dass ich die verschiedenen Schichten von Identitäten sehe? Ich sehe die queeren 50er, die lesbischen 60er, die feministischen 70er und es wird deutlich für mich, dass Gedächtnis etwas ist, das über die Abfolge von Ereignissen hinausgeht. Keines dieser Jahre ist verflogen und keine der Erfahrungen veraltet; wunderbar vermischt sind sie alle die Quelle meiner Politiken, meiner Arbeit und meiner Freude.
Geschichte als Quelle für Ideen, Visionen und Taktiken
Es gibt viele andere Ebenen unserer Geschichte, die ich hier nicht berührt habe: unsere individuelle Position in einer rassistischen Gesellschaft, unsere Klassenerfahrung, die Geschichte der Behinderten-Community, die Geschichte lesbischer Elternschaft, die lange Reihe von Kulturschaffenden. All diese Ebenen bestimmen, wie wir unsere persönlichen und kollektiven Erfahrungen interpretieren. Sie mögen alle manchmal zu schmerzhaften Entscheidungen führen, doch mit dem Konflikt kommt der Reichtum – dass wir alle so viele Kontinuitäten auf einmal sind.
Mit Geschichte zu leben kann eine Bürde sein, doch die Alternative wäre das Exil. Wir hätten nie die Chance, uns gegenseitig zu umarmen und zu ermuntern, die ganze Geschichte zu erzählen. Wir sollten Geschichte nicht dazu nutzen, das Neue zu unterdrücken oder das Alte zu institutionalisieren, sondern sie als Quelle für Ideen, Visionen, Taktiken jederzeit zu uns sprechen lassen. Die Entscheidungen, die wir beruhend auf diesen Stimmen und unseren eigenen Leben treffen, sind die lebendigen Geschenke, die wir unseren lesbischen Töchtern hinterlassen. Jede Gegenwart wird zu Vergangenheit, doch wenn uns das Zuhören wichtig genug ist, wird es uns alle lebendig halten.
Redaktion: Lars Lindauer, Bildredaktion: Philipp Sipos