Gemälde: Zwei Frauen sitzen an einem Tisch, sie sehen sich veträumt an und sprechen miteinander.

Conversation at the table (1890), by Federico Zandomeneghi, gemeinfrei

Geschlecht und Gerechtigkeit

Warum wir öfter lästern sollten

Ich habe mich lange schlecht fürs Lästern gefühlt. Dann habe ich verstanden, dass Männer Tratschen verurteilen, um Frauen kleinzuhalten.

Profilbild von Lisa Bullerdiek
Praktikantin

Ich liebe Lästern. Ich liebe die Vorfreude darauf, guten Klatsch wie einen Goldnugget in der Hosentasche mit mir herumzutragen. Und ich liebe das Staunen in den Gesichtern meiner Freund:innen, wenn ich endlich zur Pointe komme, ihr gehauchtes, kollektives „Nein …“.

Ich bin damit nicht alleine: Alle Menschen tratschen viel. Zahlen aus wissenschaftlichen Studien schwanken, aber etwa 15 bis 60 Prozent aller Unterhaltungen drehen sich um Personen, die gerade nicht anwesend sind. Geht man von der niedrigsten Schätzung aus, verbringen wir bei 16 wachen Stunden pro Tag etwa eine mit Lästern. Das allermeiste Gerede über andere ist nicht negativ. Tratschen ist eine normale Kommunikationsform. Wir tauschen uns über andere aus, denn Menschen sind soziale Wesen.

Männer verbreiten öfter falsche Gerüchte als Frauen

Aber angeblich soll das schlecht sein. Lästern ist gesellschaftlich verpönt, gilt als oberflächlich, unnötig und vor allem als Frauensache. Das ist nicht nur unfair, sondern führt auch dazu, dass Frauen klein gehalten werden.

Wenn Lästern doch abwertend ist, kommt es öfter von Männern. Forscher:innen der Ariel Universität in Israel fanden heraus, dass der Tratsch von Frauen häufiger positiv ist als der von Männern. Frauen verbreiten eher neutrale Informationen oder beschreiben die Kleidung und das Aussehen anderer. Männer geben oft an, schon einmal falsche Gerüchte gestreut zu haben. Etwa ein Viertel der befragten Männer berichteten das. Dagegen waren es nur 13 Prozent der Frauen. Gerade deshalb ist es unfair, wenn immer nur Frauen vorgeworfen wird, sie würden lästern. Männer sind viel schlimmer.

Laut einer Studie der Western Canadian Undergraduate University lästerten Männer öfter und schlimmer, weil sie sich so ihren männlichen Freunden näher fühlten. Außerdem fühlten sie sich überlegen, wenn sie schlecht über andere redeten und gingen davon aus, so ihre Position in der Gruppe stärken zu können.

Nur Frauen gelten als Lästerschwestern

Es sind Frauen, die als Lästerschwestern gelten, die sich angeblich magisch von Drama angezogen fühlen. Allerdings reicht ein Blick in eine typische Männerdomäne, um zu begreifen, dass hier wirklich viel getratscht wird: Das Fußballmagazin „11 Freunde“ hat eine eigene Rubrik namens „Instaschau“. Dort wird die Instagram-Präsenz diverser Fußballer:innen analysiert. Das machen meine Freund:innen und ich auch, allerdings mit der Instagram-Präsenz unserer Exfreund:innen. Vielleicht sind Fußballer:innen für Fans wie der oder die Ex – zumindest, wenn sie den Verein wechseln.

Es hat eine lange Tradition, nur Frauen als Plappermäuler zu sehen: Allein das englische Wort „Gossip“ bedeutete im 14. Jahrhundert so etwas wie Patentante und wurde so neutral gebraucht, erstreckte sich dann aber auf Freundinnen, die bei der Geburt eines Kindes anwesend waren. Später bezeichnete „Gossip“ schlicht eine enge Freundin. Das Wort wurde sehr bald, schon um 1600, abwertend gebraucht: „Gossips“ waren Frauen, die lieber mit ihren Freundinnen im örtlichen Pub einen trinken gingen, statt Zeit mit ihren Männern zu verbringen. Obwohl das sehr nachvollziehbar ist, kam es bei den englischen Männern nicht gut an. Dabei taten die das Gleiche.

In Bildern aus dieser Zeit, also England um 1600, peitschen „Gossips“ ihre Männer im Domina-Stil in die Unterwerfung oder prügelten sich mit ihnen wortwörtlich darum, wer die Hosen anhat. Später wurde aus dem Substantiv ein Verb. Beim englischen Dichter William Shakespeare taucht „to gossip“ zum ersten Mal auf.

Mit genug linguistischem Kanonenfutter und Misogynie bewaffnet, konnten Männer Tratschen nun als Vorwurf benutzen. Während der Hexenverfolgung gab es einige Gesetze, die Frauen vom Reden abhalten sollten. Ein Gesetz von 1547 hielt Männer dazu an, ihre Frauen zu Hause einzusperren, um sie vom Tratschen abzuhalten. Noch ein Grund mehr, sich möglichst oft mit Freund:innen in einem Café zu verabreden und die Sonnenstrahlen und Gerüchtefetzen auf sich hinunterrieseln zu lassen. Frauen haben jahrhundertelange Läster-Unterdrückung nachzuholen.

Passend zur juristischen Grundlage gab es auch ein Folterinstrument: Mit dem „Gossip’s bridle“, also einem Zaumzeug für Plappermäuler, wurde Frauen nicht nur juristisch, sondern auch mechanisch der Mund verboten. Es war eine Bestrafung für Ehefrauen, die zu viel nörgelten oder lästerten. Das Gerät könnte aus einem der „Saw“-Filme stammen: ein Metallhelm, an dessen Innenseite eine Metallzunge befestigt war, die die Zunge der Frauen nach unten drückte. Noch 1856 wurde mithilfe des Zaums eine Frau in Nord-West-England gequält und gedemütigt. Ich wünschte, ich hätte ihren Namen herausfinden können. Dann hätte ich bei der nächsten Klatschrunde auf sie angestoßen.

Illustration einer Erfindung, um Frauen am Reden zu hindern: Ein metallener Käfig, der um den Kopf geschlossen wird.

whitemay/Getty Images

Und dann ist da natürlich noch die Bibel. Das deutsche Wort „lästern“ hat theologischen Ursprung, kommt von Laster. Ein Laster ist eine Schande oder ein Fehler, eine Angewohnheit, die uns davon abhält, möglichst fromm zu sein: Neben Wollust, Völlerei und Zorn gesellt sich noch Tratschen. Die Bibel ist voll mit Lästereien übers Lästern. So wird „üble Nachrede“ im Neuen Testament neben Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, Neid, Mord, Streit, List und Tücke aufgelistet. Das achte Gebot lautet: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Hier geht es vor allem um Lügen, aber auch ums Lästern. Wer entscheidet denn, was ein falsches Zeugnis ist?

Lästern kann retten

Es ergibt Sinn, vor allem Frauen und anderen marginalisierten Menschen das Lästern zu verbieten. Denn es kann an Machtpositionen rütteln. Lästern kann eine Warnung sein: vor grapschenden, belästigenden Männern zum Beispiel. Das hat auch die #Metoo-Bewegung aus dem Jahr 2017 gezeigt. Im prominentesten Fall wurde der Filmproduzent Harvey Weinstein durch Zeugenberichte von über 80 Frauen zu Fall gebracht. Er hatte von ihm beruflich abhängige Frauen vergewaltigt und belästigt. Was jahrzehntelang in der Gerüchteküche brodelte, machten die Frauen öffentlich.

Ähnliche Beispiele gibt es auch aus der Krautreporter-Community. Wir haben in einer Umfrage danach gefragt, was die Leser:innen für Erfahrungen mit Lästern haben. Sina schreibt, dass ihr Lästern etwas gebracht habe, wenn es sie vor Männern gewarnt habe: „Getratscht wird meistens, was die Männer machen und wie man den betroffenen Frauen helfen könnte.“

Auch ich wurde so schon gewarnt: während der Schulzeit vor einem Lehrer, der gerne durch die Mädchenumkleide spazierte, zum Beispiel. Und ich habe selbst oft andere Frauen gewarnt. Als mich mein Fahrlehrer begrapscht hat, traute ich mich nicht, ihn anzuzeigen, denn schließlich stand Aussage gegen Aussage. Aber ich konnte anderen sagen, was er mit mir gemacht hat. Ich konnte über ihn lästern. Ich kann es immer noch. Falls ihr überlegt, in Leipzig einen Führerschein zu machen, schreibt mir.

Trotzdem ist es nicht immer gut zu lästern. Das gilt für die persönliche Ebene, wenn wir aus Unsicherheit andere runtermachen oder falsche Gerüchte verbreiten. Lästern kann auch nach hinten losgehen: Auch Krautreporter-Leser:innen berichten, wie ihnen Tratsch schon auf die Füße gefallen ist. Werner schreibt, weil er Tratsch weitergegeben habe, sei eine seiner Freundschaften zerbrochen. Birte berichtet: „Die Person, über die ich gelästert habe, hat es über Ecken erfahren und mich konfrontiert.“

Außerdem gibt es so etwas wie institutionalisiertes Lästern: der Feldzug der britischen Boulevardpresse gegen die Herzogin von Sussex, Meghan Markle, und Tausende andere vom Algorithmus getriebene Shitstorms. Dann geht das Lästern über unsere normalen sozialen Zusammenhänge hinaus. Solches Lästern warnt nicht, es will Menschen systematisch mundtot machen, die sich gegen Unterdrückung wehren.

Darin unterscheidet sich die Bild-Zeitung von der MeToo-Bewegung und vor allem von Menschen, die viel weniger Macht haben als Hollywood-Schauspieler:innen: Sexarbeiter:innen warnen sich beispielsweise in Foren gegenseitig vor gewalttätigen Freiern. Während in New York in den 1990ern Zehntausende an HIV starben, half nur ein Netzwerk aus Tipps dabei, medizinische Hilfe zu finden. Vom Staat ignoriert, blieb den erkrankten Menschen nur das Flüstern.

Ich kann in diesem Text nicht abschließend sagen, wann etwas Lästern, Tratschen oder Warnen ist. Das kommt auf den Kontext an, auf die Sprecher:innen und die Zuhörenden. Es wird nie gelingen, das eine kategorisch vom anderen abzugrenzen. Ich möchte aber an der Vorstellung davon rütteln, was als legitimes Sprechen gilt. Lästern kann retten und was als Fakt behauptet wird, kann verdammen.

Klatschen bringt uns näher zusammen

Mit all diesen Einschränkungen bleibt Lästern normal. In der Krautreporter-Community bezeichneten es einige sogar als Seelenhygiene. Und es schweißt zusammen. Es hilft uns, unsere Werte gemeinsam in einer Gruppe zu klären. Über Menschen spricht es sich schlicht besser als über abstrakte Ideen.

Und, das kann ich nicht oft genug sagen, es macht Spaß. Den Podcast „Normal Gossip“ empfehle ich jeder Person, die mir über den Weg läuft. Darin wird in jeder Folge der anonymisierte Tratsch einer realen Person ausgeplaudert.

Ich will in diesem Text nicht behaupten, dass es der Höhepunkt des Feminismus sei, wenn wir lästern. Es gibt Wichtigeres – und davon sehr viel. Aber wie wir über das Sprechen von und zwischen Frauen nachdenken, ist tatsächlich wichtig. Wenn wir die Art, wie wir reden und uns austauschen, abwerten, machen wir auch unser soziales Leben herunter, sprechen ihm seine Tiefe und Relevanz ab. Also müssen wir entweder anfangen, auch den Schnack von Männern als Lästern zu bezeichnen oder den Vorwurf grundsätzlich hinterfragen. Und auch in Zukunft möchte ich bitte noch eure Gerüchte hören, auch wenn dieser Text nun zu Ende geschrieben ist.


Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

Warum wir öfter lästern sollten

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