Collage: Eine Ärztin hält ein Neugeborenes im Kreißsaal auf dem Arm.

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Geschlecht und Gerechtigkeit

„So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen”

Die Autorin Lena Högemann erlebte im Kreißsaal psychische und physische Gewalt. Dann merkte sie, dass solche Übergriffe System haben – und begann, sich zu wehren.

Profilbild von Lena Högemann
Freie Redakteurin

Der Kreißsaal ist der Ort, wo Leben beginnt und Selbstbestimmtheit oftmals endet. Da geht es darum, dass das Kind gesund zur Welt kommt. Wie? Und mit welchen Eingriffen? Mit Einverständnis oder ohne? Zweitrangig.

Lena Högemann hat das Ende der Selbstbestimmtheit bei der Geburt ihrer Tochter erlebt. Eingriffe wurden ungefragt vorgenommen, Hebammen und Ärzt:innen verletzten ihre Privatsphäre, gaben ihr das Gefühl, alles falsch zu machen und ließen sie alleine, als sie Hilfe brauchte. „Die Geburt meiner ersten Tochter war schrecklich. Sie war nicht bloß schmerzhaft. Sie war entwürdigend“, schreibt sie. Danach entwickelte sie eine posttraumatische Belastungsstörung, unter der sie mehrere Jahre litt. Wenn du mehr über ihre traumatische Geburt wissen möchtest, klicke auf das + am Ende dieses Satzes.

Etwa 20 bis 40 Prozent der Mütter empfinden laut dem Verein Mother Hood e.V. die Geburt als belastend oder traumatisierend. Damit sich das ändert, muss in der Geburtshilfe radikal umgedacht werden. Wie das geschehen kann, schreibt Högemann in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen!“ und sie schreibt darüber, wie ihr Trauma sie jedes Jahr am Geburtstag ihrer Tochter einholt und was ihr geholfen hat. Wir veröffentlichen einen Auszug.


Am ersten Geburtstag meiner Tochter gingen wir in den Zoo. Die Sonne schien. Meine Schwestern und Eltern waren dabei und die Familie meines Partners. Meine Tochter war eigentlich zu klein, um sich die Tiere anzugucken, wir waren dort auch eher meinetwegen. Ich brauchte Ablenkung und Freude um mich herum. Meine Eltern hatten ein köstliches Picknick vorbereitet, und wir tranken schon vormittags Prosecco in der Sonne. Ich gebe zu, dass der Alkohol geholfen hat, den Tag zu überstehen, besonders am frühen Nachmittag, als sich die Uhrzeit ihrer Geburt das erste Mal jährte.

Der Geburtstag meiner Tochter ist immer auch ein trauriger Tag. Es ist der Tag, an dem ich mich an das Leid erinnere, das mir zugefügt worden ist. Es ist der Tag, an dem wir einen so schlechten Start ins gemeinsame Leben hatten. Gerade deshalb brauchte ich ein Programm, am besten draußen, am besten in Bewegung. Vielen Frauen und Männern tut es nach traumatischen Geburten gut, den Kindergeburtstag in Bewegung zu verbringen. Wir liefen also durch den Zoo, die Sonne schien, wir picknickten, gingen weiter. Das war gut. Steif an einer Kaffeetafel zu sitzen, kam für mich in den ersten Jahren nicht infrage. Die Situation hätte extremen Stress bedeutet, das wollte ich vermeiden.

Am zweiten Geburtstag waren wir wieder im Zoo, dieses Jahr waren Freund:innen von uns dabei. Eine Frau wollte wiederum ihre Freundinnen mitbringen. Das war für mich unvorstellbar. Ich brauchte Menschen um mich, die mir guttun, auch um mich ein wenig selbst zu feiern. In den ersten Jahren schenkte mir mein Partner Blumen, meine Mutter tut es heute noch. Ich freue mich sehr darüber. Denn am Geburtstag geht es eben auch um die Mütter, die das Kind geboren haben.

Am Geburtstag meiner Tochter jährt sich mein Trauma

Ab dem dritten Geburtstag luden wir die Freund:innen meiner Tochter ein. Wir kamen nicht mehr drum herum, sie selbst war schon auf ein paar Geburtstagen gewesen und wollte nun auch selbst ihre Freund:innen einladen. Ich hatte viel zu tun: Dekoration, Kuchen backen, Geschenke organisieren, Programm planen und viel Essen kochen, einen Teil ließ ich von anderen Familienmitgliedern zubereiten.

Es gibt Jahre, die sind besser und es gibt Jahre, die sind schlechter. Aber bei Müttern wie mir ist es nie komplett gut am Geburtstag des Kindes. Mit den Jahren wurde es leichter für mich. Je größer meine Tochter wurde, desto mehr zeigte sie ihre Freude an diesem Tag, an dem sie im Mittelpunkt stand. Selbst der Geburtstag im Corona-Lockdown war schön, als wir die Besucher:innen im Hof empfingen, während wir auf dem Balkon saßen. Ich akzeptierte immer mehr, dass es um sie geht, um ihre Lebensfreude, um ihr Leben.

Wenn sich mein Trauma jährt, merkt mein Körper das. Der letzte Geburtstag, also der achte, war heftig – vielleicht auch weil ich für dieses Buch alles noch einmal durchging, was mir und den vielen anderen Frauen passiert ist. Am Morgen des Geburtstags meiner Tochter geht es noch. Aber jede Stunde, die vergeht, bringt mich näher an 13.58 Uhr, den Moment, als eine Ärztin mein Kind aus meinem Körper zerrte. An diesem Geburtstag entscheide ich mich für die Ablenkungsmethode: Ich backe wie verrückt – verschiedene Muffins, Papageienkuchen und so weiter. Tagelang, auch für die Feier mit den Freund:innen, die am Tag darauf stattfinden soll. Für die Feier in der Schule am übernächsten Tag. Ich backe, als ob ich nicht merke, welcher Tag es ist.

Wenn sich Dankbarkeit und Beklemmung mischen

Um 13 Uhr bringe ich meine Tochter zu ihrer Tanzaufführung. Wir sitzen auf dem Gras in einem Hinterhof, neben uns die Muffins. Ich merke, wie mein Magen verkrampft. Mir wird schlecht, mein Herz schlägt schneller. Meine Brust fühlt sich eng an. Es ist 13.54 Uhr. Ich habe Tränen in den Augen. Ich nehme meine große Tochter, die neben mir sitzt, in den Arm, gebe ihr einen Kuss auf ihre weichen braunen Haare. Ich bin so dankbar für diesen wundervollen Menschen in meinem Leben, und gleichzeitig ist es immer noch beklemmend, was in diesem Moment vor acht Jahren geschah.

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Die Hektik hilft. Da ist die Tanzlehrerin, die die Kinder zur Aufführung abholt. Ich setze mich allein in die Sonne und schreibe auf, was passiert ist. Ich sitze in einem Café. Alles um mich herum ist weit weg. Am Nebentisch lachen drei Frauen, zwei junge Männer gehen an uns vorbei, ich höre es weit entfernt. Mir ist immer noch schlecht. Ich bin in Gedanken gar nicht in diesem Kreißsaal, sondern irgendwo ganz tief in mir. Da, wo es wehtut.

Manchmal frage ich mich, ob ich übertreibe. Ist der Tag der Geburt meiner ersten Tochter wirklich der schlimmste meines Lebens? Vielleicht werde ich eines Tages einen schlimmeren Tag erleben? Vielleicht, wenn jemand mir Nahestehendes stirbt. Aber bis zum heutigen Tag, fast acht Jahre nach der Geburt, muss ich sagen: Ja, es war der schlimmste Tag meines Lebens.

Geburtstag kann Belastung sein

Der Geburtstag eines Kindes ist eben nicht nur sein Geburtstag, sondern in vielen Fällen auch der Tag, an dem die Frau Mutter wurde. Wie sollen Frauen damit umgehen, wenn dieser Tag die schlimmste Erfahrung ihres Lebens war?

Eine Studie aus Neuseeland hat 2006 belegt, dass der Geburtstag des Kindes bei traumatischen Geburtserfahrungen tatsächlich eine Belastung für die Mütter darstellt. Die Autorin der Studie, Cheryl Tatano Beck, hat geschrieben, dass die Kliniken, aber auch die Freund:innen und Familienmitglieder der betroffenen Frauen häufig versagen, wenn es darum geht, der Mutter zu helfen.

Es ist also nicht nur wichtig, wie die Frauen selbst diesen Tag gestalten, es ist auch wichtig, wie ihr Umfeld damit umgeht. Es gibt Menschen, die gestressten Müttern am Kindergeburtstag sagen: „Lasst doch den Aufriss, kaufe einen Kuchen, das reicht. Dieser ganze Stress für Kindergeburtstage ist doch nicht notwendig.“ Notwendig ist das alles wirklich nicht. Aber ich verstehe, dass viel Vorbereitung ein guter Weg sein kann, mit diesem besonderen Tag umzugehen. Wenn ich beschäftigt bin, falle ich nicht in das tiefe Loch, das die Geburtserfahrung hinterlassen hat. Ich kann mir vorstellen, dass zumindest unbewusst bei betroffenen Frauen das Gleiche abläuft. Sie geben alles für diesen Tag, für ihr Kind, weil es einen schönen Tag haben soll und um sich selbst nicht zu detailliert damit zu befassen, wie der Tag der Geburt für sie war.

Jede:r findet seinen Umgang mit dem Trauma

Deshalb meine Bitte an die Großeltern und Freund:innen der Eltern: Lasst die Mütter in Ruhe, vor allem an den Geburtstagen ihrer Kinder. Die Väter auch. Für sie war es oft auch nicht leicht. Stellt keine blöden Fragen, macht keine dummen Sprüche. Sätze, die ich als dumme Sprüche sehe, sind zum Beispiel: „Na siehst du, dem Kind geht es doch gut.“ Oder: „Die Geburt ist lange her, freu dich darüber, dass sie vorbei ist.“ Mütter brauchen an diesem Tag und an den Tagen drumherum Entlastung und Unterstützung. Und vor allem brauchen sie es nicht, beurteilt zu werden. Wenn eine Mutter eine Piratenschiff-Torte backen will, auch wenn das die halbe Nacht dauert, lasst sie es machen. Eine Bekannte sagte an dem ersten Geburtstag ihres Sohnes zu mir: „Wir feiern doch eigentlich nur, dass wir das erste Jahr geschafft haben.“ Diese Einstellung fand ich toll. Jede Mutter, jedes Elternpaar sollte den Geburtstag des Kindes so feiern, wie es sich richtig anfühlt.

Lena Högemann: So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen. Ullstein. Erscheint am 14.3.3024

Lena Högemann: So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen. Ullstein. Erscheint am 14.3.3024 Ullstein

Die österreichische Hebamme und Hypnosetherapeutin Tanja Liebl schreibt in ihrem Blogbeitrag „Die Nachwehen einer schwierigen Geburt: Der 1. Geburtstag“ über den Jahrestag des Traumas der Mütter: „Ein Trauma hinterlässt jedoch tiefe Spuren und psychische Veränderungen, die mit positiven Gedanken nicht einfach beiseite gewischt werden können.“ Sie beschreibt, dass Frauen unterschiedliche Wege finden, mit dem Jahrestag des Traumas umzugehen: Manche verreisen, manche wollen eine große Feier ausrichten, und andere feiern an einem ganz anderen Tag.

Auch für mich ist es relevant, ob die Geburtstagsfeier mit Freund:innen am gleichen Tag wie der Geburtstag selbst stattfindet. Für mich und meine Gefühle ist es besser, das zu trennen und das Trauma-Jubiläum in Ruhe zu verbringen. Ich kann diesen Tag nicht feiern, aber ich kann mein wundervolles Kind feiern. Sehr viele Mütter, mit denen ich gesprochen habe, machen es genauso. Für sie ist der Geburtstag des Kindes nur das, mit ihrer eigenen Geburtserfahrung beschäftigen sie sich an diesem Tag nicht. Das erleichtert es, den Tag zu meistern.

Viele Geburten sind fremdbestimmt

Natürlich sind nicht alle Geburten so gewaltvoll und schrecklich, wie die in diesem Buch geschilderten. Aber viele Geburten sind fremdbestimmt und eben nicht so, wie Frauen sie erleben wollten.

Nur weil ich sage, dass die Geburt meines Kindes schrecklich war, heißt das nicht, dass ich mein Kind nicht liebe oder eine schlechte Mutter bin. Viele Frauen haben das Gefühl, sie würden ihr Kind abwerten, wenn sie ehrlich von der Geburt erzählen. Ich wünsche mir sehr, dass Frauen ehrlich über ihre Geburten sprechen. Vor meiner ersten Geburt haben wenige Frauen ehrlich mit mir über ihre Geburten gesprochen, und auch danach nicht. Es gab Gespräche über Geburten, in denen die Frauen zwar die Fakten nannten (vor allem die Dauer der Wehen und die Art der Eingriffe), aber wie sie sich dabei gefühlt haben, wurde selten thematisiert. Viele Frauen können und wollen kurz nach der Geburt noch nicht darüber sprechen, was diese Geburt mit ihnen gemacht hat, vielleicht wissen sie – wie ich – auch noch gar nichts über die Folgen. Ich verstehe gut, wenn Frauen in Ruhe gelassen werden möchten. Als ich nach der Geburt andere Mütter kennenlernte, sprachen wir über unsere Geburten. Ich hörte häufig Sätze wie: „Ja, das war hart. Aber jetzt geht es uns gut.“ Mehr nicht.

Ich habe meine Mutter gebeten, mir die Nachricht zu zeigen, die ich meiner Familie nach der Geburt meiner Tochter geschickt habe – ich hatte sie nicht mehr gespeichert. „Das war das Schrecklichste und Verrückteste, was ich je erlebt habe“, stand darin. Ich weiß noch, wie ich nachdachte, was ich schreiben könnte. Ich wollte nicht lügen, aber ich schaffe es nicht, meiner Familie zu schreiben, dass die Geburt meiner Tochter nur schrecklich war. Daran war nichts verrückt, außer vielleicht das System, in dem ich geboren hatte. Ich hatte mich nicht getraut, zu schreiben: „Diese Geburt war das Schrecklichste, was mir im Leben passiert ist.“

„Hauptsache, dem Kind geht es gut?“

Viele Menschen, die Frauen nach einer Geburt treffen, wollen meist nur hören, dass es Mutter und Kind gut geht. „Wohlauf“ heißt es in vielen Nachrichten. Ich finde das nicht ehrlich. Wie sollen sich Frauen auf Geburten vorbereiten, wenn es immer nur heißt, es sei hart, aber dann sei es auch vorbei und das Wichtigste sei sowieso, dass das Kind gesund ist?

Als meine große Tochter vielleicht eineinhalb Jahre alt war und ich grob verstanden hatte, was im Kreißsaal passiert war, begann ich, mit schwangeren Frauen in meinem Umfeld zu sprechen. Ich fragte sie, ob sie schon wüssten, wo sie das Kind bekämen. So konnte ich zumindest nebenbei einfließen lassen, dass es in der großen Klinik, in der ich war, schrecklich war. Ich habe die Frauen gefragt, ob sie sich schon mit der Frage beschäftigt hätten, welchen Hilfsmitteln und Eingriffen sie zustimmen würden und welchen nicht. Ein paar Jahre später, als ich mehr über Gewalt unter der Geburt, über die Situation in vielen Kreißsälen und über die Geschichten anderer Frauen gelesen hatte, wurde ich mutiger. Ich sprach mit schwangeren Frauen darüber, dass es so etwas wie Gewalt unter der Geburt gibt. Dass es leider Hebammen und Ärzt:innen gibt, die unter der Geburt respektlos mit den Gebärenden umgehen. Ich verwies dann auf Websites dazu. So konnte ich es noch etwas von mir fernhalten und trotzdem eine Art Warnung abgeben. Je präsenter das Thema in den Medien wurde, desto mehr Referenzpunkte hatte ich. Es ist ein bisschen so, als hätte ich eine Legitimation gebraucht, um über meine Geburtserfahrung zu sprechen. Als würde nur meine persönliche Erfahrung nicht reichen. Das ist natürlich unsinnig, aber die gesellschaftliche Erwartung an Frauen ist nach wie vor die, dass sie Kinder zur Welt bringen sollen, wie all die Frauen all die Jahrhunderte vor ihnen. Doch jede Frau hat ihre eigene Geburtserfahrung. Und es ist ihr gutes Recht, darüber zu sprechen.

Bei mir ging das so weit, dass ich überlegte, Flyer zu drucken, die ich schwangeren Frauen auf der Straße in die Hand drücken könnte. Ich sah sie und dachte: „Oh nein, sie hat keine Ahnung, was ihr bevorsteht.“ Mir war klar, dass diese Frauen mich wahrscheinlich für einen Freak gehalten hätten. Also habe ich mich auf Gespräche konzentriert, die sich mehr oder weniger natürlich ergeben haben. Dieses Buch ist sozusagen ein besserer Flyer, mit dem Unterschied, dass diejenigen, die es lesen, sich bewusst dafür entschieden haben, mehr über selbstbestimmte Geburten und das System Geburtshilfe zu erfahren.

Das bedeutet nicht, dass Frauen, die von Gewalt unter der Geburt betroffen sind und traumatische Geburten hatten, möglichst schlimme Geschichten unserer Geburten erzählen sollten. Aber wir können schwangeren Frauen Fragen stellen, zum Beispiel, wie sie sich auf die Geburt vorbereiten, und wir können anbieten, unsere Erkenntnisse über selbstbestimmte Geburten zu teilen. Wir können aus dem, was wir erlebt haben, konkrete Hinweise ableiten. Das wiederum hat für schwangere Frauen einen großen Mehrwert, wenn sie sich denn ehrlich über Geburten informieren möchten.

Geburtsklinik bewerten und andere warnen

Ein ganz einfacher Trick, um die eigene Geburtserfahrung – egal ob sie gut oder schlimm war – mit anderen Frauen zu teilen, ist, eine Google-Bewertung für die Geburtsklinik zu schreiben und darin möglichst genau zu beschreiben, warum dieser Ort für eine Geburt geeignet ist oder vielleicht auch nicht.

Es lohnt sich auch, die eigene Mutter zu fragen, wie wir zur Welt gekommen sind. Ich glaube nicht daran, dass wir genau so gebären, wie wir selbst auf die Welt gekommen sind – diese These gibt es wirklich –, aber was unsere Mütter erlebt haben, kann uns helfen, uns auf unsere Geburt vorzubereiten. Ich wusste das Wichtigste über meine Geburt: Meine Mutter hatte mit mir eine gute Geburt. Das lag vor allem daran, dass der Chefarzt meiner älteren Schwester bei der Geburt in den Kopf geschnitten hatte und die Klinik besorgt war, meine Mutter könnte juristisch dagegen vorgehen. Die meisten ihrer Wünsche wurden deshalb erfüllt. Was aber genau bei den beiden Geburten davor passiert war, darüber hatten wir nie gesprochen. Ich hatte auch nicht danach gefragt. Besonders die erste Geburt meiner Mutter war gewaltvoll, wie ich herausfand, als ich anfing, ihr von meiner gewaltvollen Geburt zu erzählen.

Für dieses Buch hat meine Mutter mir die Geschichte ihrer ersten Geburt erzählt. Sie hatte ihre Tagebücher dabei und alte Notizzettel, um sich besser zu erinnern:

Ich bin vier Tage über dem errechneten Termin gewesen. Um das Fruchtwasser zu untersuchen, hat der Arzt mit der Hand manuell den geschlossenen Muttermund geweitet, um ein Instrument zur Fruchtwasserspiegelung einzuführen. Da wusste ich, was mir bevorsteht. Diese erste Erfahrung bei der Geburt war schon gewaltvoll. Das hat Wehen ausgelöst, ich musste also im Krankenhaus bleiben. Sie haben mich an den Wehentropf gelegt, es passierte wenig. Mein Körper war noch nicht bereit zu gebären. Die Ärzte haben immer wieder Untersuchungen gemacht, bei denen sie den Muttermund gewaltvoll geweitet haben. Der Begriff Gewalt steht in meinem Notizbuch, ich habe ihn schon damals in den 1970er-Jahren verwendet. Man hat den Wehentropf höher dosiert, ich durfte mich nicht bewegen und nichts essen außer einer Tütensuppe. Man rasierte meinen Intimbereich und ich bekam einen Einlauf, um in den Kreißsaal gebracht zu werden. Dort haben sie mir Valium gespritzt. Eine schreckliche Hebamme schimpfte mit mir. „Sie atmen so schnell, so weit sind Sie doch nicht“, sagte sie. Dann bekam ich wieder eine Spritze, damit die Wehen nicht zu schnell kamen. Man wollte auf den Chefarzt warten, weil ich Privatpatientin war. Als er kam, brachte ich meine erste Tochter zur Welt. Es war normal, dass ich einen Dammschnitt und den Pudendusblock gelegt bekam, über beides informierte man mich nicht. (Anmerkung: Der Pudendusblock ist eine örtliche Betäubung von Nerven im Beckenboden, um Schmerzen zu lindern. Die PDA hatte meine Mutter abgelehnt.) Nach der Geburt bekam ich mein Baby nicht auf die Brust gelegt, sie nahmen es einfach mit. Die Geburt war um 8 Uhr morgens, um 12.30 Uhr habe ich meine Tochter wiedergesehen, gebadet und angezogen, und um 16.30 Uhr durfte ich sie zum ersten Mal stillen. Ich bekam mein Kind alle vier Stunden als „Tütenbaby“, eingewickelt in ein großes Kopfkissen, damit sie die Kinder nebeneinander in einen Wagen stellen konnten und die ganze Tour durch die Station fahren konnten, um die Babys zum Stillen zu verteilen. Mein Kind schlief meistens, wenn sie es mir brachten, und ich hatte nur zwanzig Minuten, bis sie es wieder mitnahmen. Ich musste ihr in die Wange kneifen und am Ohr ziehen, damit sie aufwachte. Das war schlimm. Nachts brachten sie sie uns nicht, sie haben uns nicht mal gesagt, was sie zugefüttert haben.

Die 1970er- und 1980er-Jahre, als meine Schwestern und ich geboren wurden, waren eine dunkle Zeit in der klinischen Geburtshilfe. Es ging an keinem Punkt um Selbstbestimmung, von Bonding hatte man noch nichts gehört, Ärzt:innen (vermutlich waren damals weit mehr Männer als Frauen in der Geburtsmedizin tätig) verfügten über die Körper von Frauen. Alle Frauen wurden vor der Geburt im Intimbereich rasiert, bekamen einen Einlauf und unter der Geburt machten die Ärzt:innen und Schwestern all die Eingriffe routinemäßig, je nachdem, was sie für richtig hielten.

Eine selbstbestimmte Geburt muss man scheinbar einfordern

Richtig fanden die Kliniken offenbar auch, dass die Väter maximal zu den letzten Minuten der Geburt dazukamen. Das nannte man damals beim Infoabend in der Klinik modern und fortschrittlich, erzählt meine Mutter. Mein Vater war bei der Geburt meiner ältesten Schwester nicht dabei. Er machte genau zu diesem Zeitpunkt seine praktische Prüfung als Lehrer.

Bei der Geburt meiner zweiten Schwester war mein Vater anwesend. Das war die Geburt, bei der der Chefarzt meiner Schwester beim Dammschnitt in den Kopf schnitt. Meine Mutter hat mir für dieses Buch erzählt, wie sie schließlich bei meiner Geburt – ihrer dritten – eine möglichst selbstbestimmte Geburt eingefordert hat und weitestgehend bekam:

Ich habe mich vor der Geburt mit dem Chefarzt getroffen und gesagt, wie ich die Geburt erleben will. Ich wollte keine Eingriffe, ich wollte keine Medikamente. Der Chefarzt hat zu mir gesagt: „Wieso kommen Sie denn hierher ins Krankenhaus? Machen Sie doch eine Hausgeburt.“ Ich habe ihm gesagt, dass ich eine Hausgeburt machen würde, aber mein Mann Angst davor hätte. „Ich komme hierher als gesunde Frau und ich gebe Ihnen nicht die Verantwortung für meine Geburt, die behalte ich für mich“, habe ich ihm erklärt. Da war der Chefarzt stark getroffen. Für mich war klar: Ich wünsche mir, dass die Geburt von einer Hebamme geleitet wird, denn in die Hebammen hatte ich großes Vertrauen. Ich bekam nachts Wehen, morgens brachte mein Mann die beiden anderen Töchter zur Nachbarin. Ich wusste, dass ich nicht eher ins Krankenhaus gehe als unbedingt nötig. Wir haben noch unser Auto aus der Werkstatt geholt, sind einkaufen gefahren und ich habe in Ruhe gefrühstückt. In der Klinik rasierte man mir wieder den Intimbereich, dieses Mal nur noch halb. Ich wollte das nicht, aber die Schwester sagte, die Ärzte wollten das so. Im Kreißsaal hatte die Hebamme das Sagen. Sie betonte mehrfach: „Frau Högemann möchte keine Medikamente.“ Das war sehr ungewöhnlich. Erst als sie sagte, wir brauchen einen kleinen Dammschnitt, hat der Chefarzt den in der nächsten Wehe gemacht. Das war okay für mich. Was diese Geburt ausgemacht hat, war die Kommunikation mit mir. Die war gut. Ich bekam dich direkt nach der Geburt auf die Brust gelegt. Du warst die ganze Zeit im Krankenhaus bei mir, im Bettchen neben mir oder bei mir im Bett.

Es ist tragisch, dass ich selbst in einer für die damalige Zeit sehr guten und selbstbestimmten Geburt auf die Welt kam und dennoch meine eigene erste Geburt so fremdbestimmt und gewaltvoll war, obwohl dreiunddreißig Jahre dazwischen lagen. Die Geschichte meiner Geburt und der meiner Schwestern zeigt, wo wir in der klinischen Geburtshilfe herkommen – aus einer Tradition der Fremdbestimmung und Bevormundung von Frauen. Diese Fremdbestimmung ist vielen Frauen gar nicht bewusst. Meine Mutter erzählte mir, dass sie eine Freundin hat, mit der sie über ihre Geburten sprechen wollte. Ihre Freundin sagte zu ihr: „Wir konnten doch damals viel mehr ab als die Frauen heute.“ Auch das ist eine Form von symbolischer Gewalt, indem Frauen, die von ihren Geburten berichten, ihr Leid abgesprochen wird.

Als ich meine Mutter fragte, warum sie mir nicht vorher erzählt hat, was sie bei der Geburt meiner ältesten Schwester durchlebt hatte, meinte sie, dass sie sich gefragt hätte, warum ich als kluge Frau mich nicht richtig informiere. Sie wollte mich aber auch nicht verunsichern und dachte, so schlimm wie damals, als noch jede Frau standardmäßig einen Dammschnitt bekam, würde es heute nicht mehr sein. Natürlich hatte ich mich informiert, zwei Ratgeber zur Geburt gelesen, einen Geburtsvorbereitungskurs besucht und nichts erfahren über Gewalt, über Interventionen, über die Folgen traumatischer Geburten.

Sollte ich ein zweites Kind bekommen, würde ich mich anders vorbereiten, das hatte ich mir geschworen. Und ich würde offen darüber sprechen, was in der klinischen Geburtshilfe schiefläuft.


Schlussredaktion: Lars Lindauer, Fotoredaktion: Philipp Sipos