Der folgende Text geht ein provokantes Wagnis ein: Die Autorin, Gabrielle Blair, dreht eine Norm einfach um. Nämlich die, dass Frauen sich konsequenter um Verhütung kümmern müssen, weil sie es sind, die schwanger werden. Die Gesellschaft überlässt ihnen de facto deswegen viel mehr Verantwortung. Fast alle Verhütungssmethoden sind dafür da, dass Frauen sie an ihren Körpern anwenden. Blair lehnt diese Verantwortung ab und überlässt sie komplett den Männern.
Dabei verwendet sie nicht nur interessante und ungewöhnliche Argumente. Man merkt beim Lesen auch, wie unfair es ist, nur einem Geschlecht die Verhütungsverantwortung zu überlassen. Wir merken es, sobald sie Männern pauschal überlassen wird.
Alle ungewollten Schwangerschaften werden von Männern verursacht.
Damit Spermien etwas zum Befruchten haben, ist natürlich eine Eizelle erforderlich, doch hier existiert ein klares Ursache-Wirkungs-Prinzip. Will sagen: Zu einer Schwangerschaft kommt es erst, wenn ein Spermium in eine Eizelle eindringt. Und Männer können kontrollieren, wo und wann sie einen Samenerguss haben, während Frauen null Einfluss auf die Reife ihrer Eizellen haben.
Sie können weder genau noch zuverlässig vorhersagen, wann die fruchtbare Phase ihrer Eizelle beginnt. Das ist das eine. Das andere ist die Tatsache, dass Frauen ihre Eizellen nicht mobilisieren und dazu veranlassen können, ihren Körper zu verlassen. Sie können sie während des Geschlechtsverkehrs nicht irgendwo verstecken und von Spermien fernhalten. Frauen können ihre Eizellen nicht vor dem Sex aus dem Eileiter holen, beiseitelegen und nach dem Sex wieder zurückstecken.
Eizellen machen, was sie wollen
Innerhalb des Zyklus wandert die Eizelle zwar von einer Position zur anderen, aber Frauen können nicht auf solche Positionswechsel einwirken, sie erfolgen unabhängig vom weiblichen Sexualverhalten. Wenn eine Frau Sex hat, wird ihre Eizelle dadurch weder mobilisiert noch in eine andere Position gebracht. Wenn eine Frau einen Orgasmus hat, wird die Position ihrer Eizelle dadurch nicht geändert. Wenn eine Frau keinen Orgasmus hat, ist es genauso.
Im Gegensatz zu den Frauen können die Männer ihre Spermien mobilisieren und dazu bewegen, ihren Körper zu verlassen. Genau das ist mit Ejakulation gemeint. Bei einem Samenerguss beschließt der Mann, Spermien aus seinem Körper herauszudirigieren und anderswo zu platzieren. Während des Geschlechtsverkehrs können Männer entscheiden, ob sie Spermien aus ihrem Körper herauslassen, und sie können entscheiden, wo diese Spermien landen. Sie können sie in einem Kondom platzieren. Oder sie haben sich sterilisieren lassen, was darauf hinausläuft, dass sie einen spermienfreien Samenerguss haben. Sie können ihre Spermien auf dem Bauch ihrer Partnerin platzieren. Sie können ihre Spermien in ihrer Hand platzieren. Sie können sie in einem Taschentuch, einer Socke, einer Zimmerpflanze oder an einer beliebigen anderen Stelle platzieren. Oder aber sie platzieren ihre Spermien in der Vagina ihrer Sexualpartnerin und setzen sie so dem schwerwiegenden Risiko einer ungewollten Schwangerschaft aus.
Männer entscheiden selbst darüber, wohin sie ejakulieren
Möglicherweise denken Sie jetzt: Aber wenn der Sex einvernehmlich ist, sind doch beide Seiten für die ungewollte Schwangerschaft verantwortlich!
Diesen Buchauszug hat Theresa Bäuerlein ausgewählt
Aber das ist nicht ganz richtig. Denn selbst bei einvernehmlichem Sex liegt die Verantwortung allein beim Mann. Die Sache läuft nämlich so:
Schritt 1: Frau ist bereit zu Geschlechtsverkehr.
Schritt 2: Mann entscheidet sich für oder gegen verantwortungsvollen Umgang mit Sperma.
Wenn eine Frau bereit zum Geschlechtsverkehr ist, heißt das nicht, dass der Mann zwangsläufig in ihre Vagina ejakulieren muss. Sogar wenn die Frau sagt: „Bitte, bitte benutze kein Kondom, ich will, dass du in mir kommst“, wird der Mann dadurch keineswegs gezwungen, in ihr einen Samenerguss ohne Kondom zu haben. Er hat immer noch die Wahl. Allein der Mann entscheidet, wo sein Sperma landet. Er entscheidet, was mit seinem Sperma passiert. Eine Frau, die einem Mann sagt, er könne ruhig auf ein Kondom verzichten, zwingt ihn damit noch lange nicht, auf ein Kondom zu verzichten. Wenn er tatsächlich auf ein Kondom verzichtet, beschließt er damit automatisch, das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft einzugehen.
Eine Frau kann im Bett (oder sonst wo) noch so viel von einem Mann „wollen“ – ihn dazu zwingen, in ihr einen Samenerguss zu haben, kann sie (rechtlich gesehen) nicht. Wenn er das tut, ist das zu hundert Prozent seine Entscheidung. Wenn sie „will“, dass er seinen Penis in ein Waffeleisen steckt, würde er das schließlich auch nicht tun. Wenn jemand Sie darum bittet, etwas Unverantwortliches zu tun, und Sie beschließen, diesem Wunsch nachzukommen, geht das komplett auf Ihre Kappe.
Abdrücken oder nicht?
Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen. Angenommen, zwei Freunde wollen ein Video für Tiktok drehen. Und weil sie eine Pistole haben, sagt Freund 1: „Komm, wir filmen, wie du mir eine Kugel verpasst.“ Freund 2 sagt: „Nie im Leben.“ Freund 1 bettelt: „Bitte, Mann, stell dich nicht so an, das wäre so cool, der Clip würde viral gehen!“ Freund 2 bleibt hart. Er weigert sich weiter. Freund 1 gibt nicht auf: „Ey, Alter, machs einfach. Wenn was schiefgeht, geht das auf meine Kappe, war ja meine Idee.“ Freund 2 lässt sich überreden und beschließt, auf Freund 1 zu schießen. Freund 2 nimmt die Pistole und drückt ab. Er will Freund 1 nur verwunden, verreißt jedoch den Schuss und trifft ihn tödlich. Freund 2 wird wegen Totschlags angeklagt und kommt ins Gefängnis.
Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: War Freund 1 (der Tote) ein Schwachkopf und hat er verantwortungslos gehandelt? Ja. Es war Freund 1, der beschlossen hat, verantwortungslos zu handeln. Er hätte den Vorschlag nicht machen dürfen. Er hätte die Sache nicht durchziehen dürfen. Aber durch die Tatsache, dass Freund 1 diesen Vorschlag gemacht hat, ist niemand zu Tode gekommen. Sich vor eine Pistole zu stellen, ist ziemlich idiotisch – aber mit Sicherheit nicht tödlich.
Und was ist mit Freund 2? Wurde er dazu gezwungen, die Pistole in die Hand zu nehmen und abzudrücken? Nein, wurde er nicht. Letztlich war es seine ureigene Entscheidung. Hat Freund 2 verantwortungslos gehandelt? Ja, und durch sein verantwortungsloses Handeln ist ein Mensch zu Tode gekommen. Sie sehen: Die Handlungen in diesem Szenario sind nicht vergleichbar. Die eine war idiotisch. Die andere war tödlich.
Ist es verantwortungslos, wenn eine Frau Sex ohne Kondom zustimmt? Oder wenn sie das sogar vorschlägt? Ja, keine Frage. Eine Frau, die vorschlägt, Sex ohne Kondom zu haben, handelt verantwortungslos, und ich wünschte, sie würde so etwas nicht tun. Doch unabhängig davon kann ihr Körper allein keine Schwangerschaft verursachen.
Klar ist es ihre Entscheidung, beim Sex mit einem bestimmten Mann auf ein Kondom zu verzichten. Aber durch ihre Entscheidung ist dieser Mann nicht körperlich außerstande, ein Kondom überzuziehen. Auf ihr „Okay“ kann er immer noch mit „Nein, danke“ reagieren. Er kann auch beschließen, auf ihr Okay einzugehen – aber erst, nachdem er sich hat sterilisieren lassen.
Wenn ein Mann sich jedoch dafür entscheidet, ungeschützten Sex zu haben und seine Spermien in einer Vagina zu platzieren, handelt er nicht nur genauso verantwortungslos wie die Frau, die damit einverstanden ist, – obendrein kann sein Körper durch seinen Orgasmus eine Schwangerschaft verursachen.
Noch mal: Auch in diesem Szenario sind die verantwortungslosen Handlungen nicht vergleichbar. Das Handeln der Frau – ihre Entscheidung für Sex und Orgasmus ohne Kondom – ist unvernünftig. Das Handeln des Mannes – seine Entscheidung für Sex und Orgasmus ohne Kondom – kann eine Schwangerschaft zur Folge haben.
Ungeschützter Sex allein verursacht noch keine Schwangerschaft
Für den Fall, dass Sie sich mit dieser Sicht immer noch nicht anfreunden können, hier ein weiteres Beispiel: Angenommen, ein Mann und eine Frau einigen sich darauf, ungeschützt Sex zu haben. (Passend zu diesem Szenario gehört der Mann zu der Mehrheit seiner Geschlechtsgenossen, deren Präejakulat keine Spermien enthält.) Er steckt seinen Penis in ihre Vagina, gibt sein Bestes, und nach kurzer Zeit hat sie einen Orgasmus, er aber noch nicht. Kaum ist ihr Orgasmus vorbei, hat sie genug, sagt „tausend Dank für den super Sex“, zieht sich an und geht. Obwohl die beiden Sex hatten und ihre Eizelle fällig war, und obwohl die Frau einen Orgasmus hatte, wurde sie nicht schwanger und konnte auch gar nicht schwanger werden. Sie kam völlig auf ihre Kosten, ohne durch den Verzicht auf ein Kondom eine Schwangerschaft zu riskieren, schlicht weil ihr Partner keinen Samenerguss in ihr hatte. Ungeschützter Sex verursacht keine Schwangerschaft, solange keine Spermien ins Spiel kommen.
Vielleicht denken Sie jetzt, dass es ja gar kein richtiger Sex ist, wenn der Mann keinen Samenerguss hat? Doch, doch, auch das ist Sex. Im umgekehrten Fall, wenn also der Mann schnell zum Orgasmus kommt und genug hat, bevor auch die Frau einen Orgasmus hat, gilt das schließlich auch als Sex (und ist in dieser Form unglaublich weit verbreitet). Wenn ein Penis in eine Vagina gesteckt wird, ist das penetrativer Sex, ganz egal, wer dabei einen Orgasmus hat oder nicht. Letztlich produzieren die Männer das Sperma, das eine Eizelle befruchten und so eine Schwangerschaft verursachen kann. Daher können Männer ungewollte Schwangerschaften – und in der Folge auch Abtreibungen – leicht verhindern, indem sie verantwortungsvoll mit ihren Spermien umgehen.
Wir brauchen eine Revolution der Verhütungsfrage, glaubt Gabrielle Blair. Sie sagt: Wir müssen die Männer in die Pflicht nehmen – aus physiologischen ebenso wie aus Gerechtigkeitsgründen. Dafür liefert sie 28 prägnante Argumente in kurzen Kapiteln. Sie zeigen, wie sehr das Patriarchat unsere Intimleben prägt und dass Sex und Verantwortung zwingend zusammengehören. Nur weil Frauen Kinder bekommen können, sollen sie für die Verhütung zuständig sein? Kann es sein, dass wir da ein paar Fakten ignorieren? Männer können lebenslang 24/7 Kinder zeugen, während Frauen pro Zyklus nur einen Tag fruchtbar sind. Frauen können ihren Eisprung weder steuern, noch verhindern, während Männer ihren Samenausstoß durchaus lenken können – und sei es in ein Kondom. Gabrielle Blair liefert eine starke Grundlage, um die Verantwortung für Verhütung neu auszudiskutieren.
Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger