Drei Uhr morgens, durch die Wände dringen Schreie. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Nachbar:innen streiten höre; die Wände in dem Berliner Mehrfamilienhaus, in dem ich zu dieser Zeit wohne, sind dünn. Doch diesmal ist es anders, schlimmer als sonst: Eine tiefe Stimme schreit aggressiv, eine hellere offenbar vor Angst. Ich gehe zur Tür, lausche.
Plötzlich wird das Geschrei lauter, es kommt jetzt direkt aus dem Treppenhaus, nur ein Stockwerk unter mir. Ich kriege selbst Angst. Dann knallt eine Tür, ich höre nur noch hastige Schritte und Flüstern. Jetzt traue ich mich endlich und öffne meine Wohnungstür. Mein Puls rast. Zwei Frauen kommen die Treppe hinauf, eine junge und eine ältere. Die jüngere schluchzt, sie hält sich ihr rechtes Ohr vor Schmerz. Ich winke beide herein.
Ist der Streit „schlimm genug“, um die Polizei zu rufen?
In dieser Nacht bin ich durch Zufall zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Ich kann einer Frau eine sichere Übernachtungsmöglichkeit anbieten, die gerade Häusliche Gewalt erlebt hat. Es geht um die jüngere der beiden Frauen aus dem Treppenhaus. Die ältere wird uns später in der Nacht noch verlassen.
Danke an alle 111 Teilnehmer:innen meiner Umfrage!
Ohne euch hätte ich diesen Artikel nicht schreiben können. Es waren berührende und teilweise sehr persönliche Zeilen, danke euch für euer Vertrauen!
Doch es gab andere Situationen, mehr als eine, in denen ich ratlos war: Ist der Streit aus der Nachbarwohnung schon „schlimm genug“, so dass ich die Polizei rufen sollte? Ein Mann schlägt auf der Straße seine Freundin – wie kann ich helfen, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen? Zu der Nachbarin aus dem Treppenhaus, die damals in meiner Wohnung übernachtete, habe ich den Kontakt verloren, als ich von Berlin nach Hamburg gezogen bin. Bis heute frage ich mich: Hätte ich mich häufiger bei ihr melden sollen?
Wer schon einmal Gewalt im nahen Umfeld erlebt hat, wird solche Fragen kennen. Auch die damit verbundenen Unsicherheiten. Zeugin oder Zeuge von Häuslicher Gewalt zu werden, ist belastend. Trete ich meiner Kollegin zu nahe, wenn ich sie auf ihre blauen Flecken anspreche? Wie sage ich meiner Freundin, dass ich finde, sie sollte sich von ihrem Partner trennen?
Häusliche Gewalt nimmt zu
Schnell kann eine Angst entstehen, sich falsch zu verhalten. Kein Wunder. Häusliche Gewalt galt lange als privates Problem, in das wir uns nicht einzumischen haben. Es ist noch nicht lange her, da war dieses Denken sogar gesetzlich verankert: Vergewaltigung in der Ehe ist in Deutschland erst seit 1997 strafbar. Auch Gewalt gegen Kinder war lange erlaubt. Erst seit dem Jahr 2000 dürfen Eltern ihre Kinder nicht mehr schlagen.
Häusliche Gewalt hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. 240.547 Menschen waren im Jahr 2022 davon betroffen, das sind 8,5 Prozent mehr als im Jahr davor und sogar 13 Prozent mehr als vor fünf Jahren. Und diese Zahlen gelten nur für das sogenannte Hellfeld, also Taten, die zur Anzeige gebracht wurden. Erhoben hat sie das Bundeskriminalamt. Das versteht unter dem Begriff Häusliche Gewalt zwei Aspekte, nämlich Partnerschaftsgewalt und innerfamiliäre: also Gewalt zwischen Partner:innen, Ex-Partner:innen oder zwischen Familienmitgliedern. Es kann sich um körperliche, sexualisierte oder psychische Gewalt handeln.
Wie kannst du helfen, wenn du Zeuge wirst? Darum soll es in diesem Text gehen. Denn das soziale Umfeld spielt bei Betroffenen eine enorm wichtige Rolle. Weil Täter:innen ihre Opfer oft isolieren. Mehr als 40 Prozent derjenigen, die körperliche Gewalt in ihrer Beziehung erleben, sprechen mit niemandem darüber. Das hat eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgefunden. Die, die es tun, wenden sich meist an Familienmitglieder, Freund:innen oder Nachbar:innen. Wie diese reagieren, kann einen großen Unterschied machen – im Positiven wie im Negativen.
Doch wie verhält man sich richtig als außenstehende Person? Um das herauszufinden, habe ich mich an die KR-Community gewandt. Ich wollte wissen: Wenn du selbst schon einmal betroffen warst, was hat dir geholfen? Welche Hilfe von außen hättest du dir gewünscht?
111 Leser:innen haben geantwortet. Sie hatten körperliche, psychische oder emotionale Gewalt erfahren, in einer Partnerschaft oder auch als Kinder in der eigenen Familie. Außerdem habe ich eine Expertin befragt und mir Tipps von Vereinen und Hilfsorganisationen angeschaut.
Das sagt die KR-Community
Sich vertrauten Menschen mitzuteilen, hilft. Das schreibt ein Großteil der betroffenen KR-Leser:innen. So auch Sarah, die sagt, das Sprechen lasse die Dinge real werden: „Einmal ausgesprochen, kann man sie nicht mehr verdrängen und vertuschen.“
Eine anonyme Leserin schreibt: „Nach mehreren Monaten habe ich mich endlich meiner Tante anvertraut, nachdem ich an einem Wochenende mit mir allein erstmalig einen inneren Widerstand gegen sein Verhalten (das des gewalttätigen Partners, Anm. d. R.) gefühlt habe. Sie hat mich von da an jeden Tag angerufen und mir geduldig zugehört, ohne negativ zu bewerten, dass ich mich ‚nicht einfach trenne“. Dieser ständige Austausch habe ihr geholfen, die Erlebnisse zu reflektieren und selbst zu der Einsicht zu gelangen, „dass ich es nicht verdient habe, so schlecht behandelt zu werden.“
Sarah schreibt in unserer Umfrage, sie hätte es gebraucht, dass jemand aus ihrem Umfeld klar und deutlich zu ihr sagt: „Du musst dich trennen! Ich helfe dir dabei.“ Andere Betroffene schreckten solche Handlungsanweisungen hingegen eher ab. Die anonyme Leserin zum Beispiel berichtet, dass Familie und Freunde versuchten, ihr die Beziehung auszureden. Das habe sie in eine Verteidigungshaltung gebracht, in der sie versuchte, „alles schönzureden“.
KR-Leserin Helena hat als Kind in der Familie Gewalt erlebt. Eines Tages habe eine Mitschülerin sie im Sportunterricht auf ihre blauen Flecken angesprochen und ihr gesagt, sie müsse zur Polizei gehen. Helena schreibt: „Ich habe Angst bekommen und seitdem angefangen, die Spuren besser zu verstecken.“ Sie wollte nicht aus ihrer Schule und ihrem Freundeskreis gerissen werden.
Im Allgemeinen sind sich die Betroffenen einig: Ein aufmerksames, empathisches Umfeld ist enorm hilfreich. Dieses kann auch dabei helfen, überhaupt zu verstehen, dass gerade Unrecht geschieht. So war es auch bei einer weiteren anonymen KR-Leserin. Sie schreibt: „Allein das Erzählen vom Geschehenen und die Reaktion des Gegenübers, bei der klar wurde, dass das, was mit mir gemacht wird, nicht in Ordnung ist, hat mir unheimlich geholfen. Ich habe mich endlich nicht mehr allein gefühlt.“
Vielen Betroffenen, vor allem Kindern, ist allein nicht klar, wenn ihnen Unrecht geschieht; für sie bildet die gewaltvolle Umgebung, in der sie aufwachsen, die Normalität. Deshalb wünschen sich auch viele Leser:innen wie Amanda mehr Aufklärung, zum Beispiel in der Schule. Insbesondere wenn die Gewalt in der Kindheit geschah, hätten sich viele Leser:innen gewünscht, andere Familienmitglieder wären dazwischengegangen, hätten sie in Schutz genommen oder die Gewalt ausübende Person gestoppt. Und viele halten einen Schutz- oder Rückzugsraum für relevant: Auch den können Personen aus dem Umfeld anbieten.
Das sagt die Expertin
Mareike van Elsacker findet: „Lieber einmal zu viel die Polizei rufen als einmal zu wenig.“ Wenn man in der Nachbarschaft einen besonders lauten Streit mitbekommt, würde sie in jedem Fall dazu raten. „Das ist auch ein Signal, da sind aufmerksame Nachbarn“, sagt sie. Van Elsacker ist Referentin beim Landesverband Frauenberatung Schleswig-Holstein, war in einer Beratungsstelle für gewaltbetroffene Frauen tätig und hat einen Vortrag an der Kieler Universität dazu gehalten, wie das Umfeld Betroffene unterstützen kann.
Wer Häusliche Gewalt in der Nachbarschaft vermutet, könne auch „mal mit einem Kuchen dort klingeln“ und mit der betroffenen Person ins Gespräch kommen, rät van Elsacker. „Ich würde aber nicht mit der Tür ins Haus fallen“, sagt sie. „Die Nachbarin kann sich öffnen – oder auch nicht.“ Wichtig sei, klarzumachen, man sei als Gesprächspartner:in verfügbar. Auch einen Flyer vom Hilfetelefon dazulassen, kann helfen. „Allein zu wissen, dass da jemand ist, ist total wichtig.“
Doch was tun, wenn die Kollegin mit blauen Flecken zur Arbeit kommt? „Vielleicht gibts eine ruhige Minute, um die Person anzusprechen. Zu sagen: Ich weiß nicht, was passiert ist, aber es gibt diese und jene Beratungsstelle, es gibt das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen.“ Flyer von Beratungsstellen auf die Toilette zu legen oder ans Schwarze Brett zu hängen, sei eine andere Möglichkeit. Auch im Freund:innenkreis oder in der Familie, rät van Elsacker, lieber einmal mehr nachzufragen: „Ist alles ok?“ und zu versichern: „Wenn etwas ist, du kannst dich immer bei mir melden.“
Wenn sich dann jemand anvertraut, sei allgemein wichtig: „Da sein, zuhören, die Person ernst nehmen, ihr glauben“, auch wenn man selbst den oder die Partner:in vielleicht ganz anders wahrnehme. Gewalttätige Partner:innen verstünden es oft, in Gesellschaft ein positives Bild von sich zu präsentieren. Nach Details zu fragen, sollte man lieber vermeiden, das könne retraumatisierend sein. Außerdem dürfe man auf keinen Fall über den Kopf der betroffenen Person hinweg aktiv werden, warnt van Elsacker. Stattdessen lieber anbieten: „Soll ich dir einen Termin bei einer Beratungsstelle machen, wollen wir zusammen hin? Wenn die Person das nicht möchte, muss man das aushalten.“ Gewalt zu erleben, sei eine Form von Kontrollverlust und Grenzüberschreitung. Wenn das Umfeld ohne das Einverständnis der betroffenen Person handle, wiederhole sich diese Erfahrung.
„Alle kennen den Spruch: Wieso trennt sie sich denn nicht einfach?“ So einfach sei es aber eben meist nicht, sagt van Elsacker. Gewaltbetroffene Partner:innen hätten viele unterschiedliche Gründe, sich nicht oder nicht sofort zu trennen, unter anderem finanzielle Abhängigkeit, ein Gefühl von Verantwortung für das Gelingen der Beziehung, ambivalente Gefühle gegenüber der gewaltausübenden Person oder schlichtweg Angst. Die sei nicht unbegründet: „Die meisten Tötungen passieren im Kontext einer Trennung“, sagt sie.
Van Elsacker weiß außerdem: Die Entscheidungen der betroffenen Person zu respektieren, ist auch eine Form von Empowerment. „Gewalt schlägt auf das Selbstbewusstsein. Sehen Sie die Person nicht nur als Opfer, sondern heben Sie ihre Stärke hervor: Schau mal, was du bisher erreicht hast!“
Das sagen Hilfsorganisationen
Obwohl Außenstehende die Betroffenen zu nichts drängen sollten, ist es wichtig, die Gewalt klar als solche zu benennen und zu verurteilen. Das betont der Verein BFF Gewalt gegen Frauen e.V. auf seiner Website. Viele Betroffene fühlten sich selbst schuldig, deshalb sei es wichtig, klar zu machen: Der Täter oder die Täterin trägt die alleinige Verantwortung. „Gewalterfahrungen sind eine massive seelische und körperliche Belastung“, schreibt der Verein. Es könne also schon hilfreich sein, gemeinsam angenehme Dinge zu unternehmen, für Ablenkung zu sorgen, zusammen Sport zu machen oder einfach nur Zeit zu verbringen.
Der Verein Re-Empowerment e.V. ist auf nicht-physische Formen von Gewalt spezialisiert und hat ebenfalls einen langen Katalog an Tipps für Außenstehende zusammengestellt. Dazu gehört zum Beispiel, sich selbst über Gewaltdynamiken und Hilfsangebote zu informieren, um dann mit der betroffenen Person darüber zu sprechen. Es sei sinnvoll zu fragen, welche Unterstützung sie konkret braucht. Mal die Kinder babysitten? Den Einkauf machen? Ein Handy zur Verfügung stellen, falls der Partner oder die Partnerin das eigene kontrolliert? Auch das kann helfen.
Was man allerdings besser unterlassen sollte: Die gewaltausübende Person direkt konfrontieren. „Sie schaden damit Ihrer Angehörigen!“, warnt der Verein. „Der Misshandler wird sie für das Outing (‚Petzen!‘) bestrafen. Zudem wird er sein Möglichstes unternehmen, um die Verbindung zwischen Ihnen und der Betroffenen zu unterbinden.“ Und daran sollten sich alle, die helfen wollen, immer erinnern: Achte gut auf dich selbst und deine Grenzen. Auch Angehörige können sich übrigens bei Beratungsstellen und beim Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen Unterstützung holen.
Du bist selbst aktut betroffen und brauchst dringend Hilfe? Dann kannst du beim Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ab sofort unter der Nummer 116 016 anrufen. Das Beratungsangebot ist anonym, kostenfrei, barrierefrei und in 18 Fremdsprachen verfügbar. Die bisherige Rufnummer 08000 116 016 bleibt für mindestens ein Jahr parallel bestehen.
Redaktion und Bildredaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger