Für diesen Text muss ich eine Warnung vorwegschicken: Normalerweise ist mein Newsletter ein Gute-Laune-Versprechen. Statt Negativschlagzeilen schwärme ich euch einmal im Monat die Ohren voll. Von Menschen, die mich gerade inspirieren, die mir gute Laune machen, mich zum Lachen bringen. Mein Newsletter soll eine Oase sein, ein Wohlfühlort.
Diese Folge meines Newsletters wird dieses Versprechen nicht einhalten. „Sorry, not sorry“, könnte ich sagen. Denn natürlich halte ich generell meine Versprechen, weswegen es weiter unten im Text dann doch noch um inspirierende Menschen geht. Aber manchmal erzwingen besondere Situationen besondere Reaktionen. Und weil ich nicht nur die Gute-Laune-Gesandte der KR-Redaktion bin, sondern auch Reporterin für feministische Themen, stellt diese Folge meines Newsletters eine Spezialausgabe dar. Es gibt dafür einen wichtigen Grund, ein bestimmtes Datum: den 24. Juni 2022.
Wenn Frauen nicht abtreiben dürfen, leben nicht mehr Babys – es sterben mehr Frauen
An diesem Tag kippte der Oberste Gerichtshof der USA, der Supreme Court, das landesweit geltende Recht auf Abtreibung. Die neun Richter:innen (fünf Männer und vier Frauen) entschieden in ihrem Urteil gegen einen Beschluss, der 1973 in dem Fall „Roe vs. Wade“ getroffen worden war. 50 Jahre lang konnten Schwangere in den USA auf dieser Grundlage legal abtreiben, bis zuletzt zur 23./24. Schwangerschaftswoche. Dieses Recht schafften die Richter:innen des Supreme Court im vergangenen Jahr ab. „Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung“, so begründetete der Supreme Court seine Entscheidung im Juni 2022.
Präsident Biden nannte den Tag der Urteilsverkündung einen „traurigen Tag“, weltweit zeigten sich Aktivist:innen und Kommentartor:innen bestürzt, gingen Menschen auf die Straße, war die Empörung unter Feminist:innen groß. Sie wussten, dass das Urteil für ungewollt Schwangere in den USA weitreichende Folgen haben würde: Noch am selben Tag wurden in 13 Bundesstaaten Gesetze gültig, die einen Schwangerschaftsabbruch massiv einschränken oder unmöglich machen.
Viele konservative Stimmen hingegen feierten den Schritt, Donald Trump etwa nannte das Urteil einen „großartigen Sieg“. Dabei wissen Expert:innen: Wenn Frauen nicht abtreiben dürfen, kommen nicht mehr Babys zur Welt – es sterben mehr Frauen (zu welch lebensgefährlichen Methoden ungewollt Schwangere greifen, die ein Verbot in die Illegalität treibt, könnt ihr zum Beispiel in diesem Interview nachlesen.)
Angst und Verunsicherung wachsen – nicht nur bei ungewollt Schwangeren
Nun liegt das Urteil des Supreme Court also ein Jahr zurück. Grund genug für mich, sich einmal der Frage zu widmen: Wie sieht die Realität von ungewollt Schwangeren in den 50 Bundesstaaten der USA mittlerweile aus?
In einem an Zahlen orientierten Überblick so:
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In 14 Bundesstaaten können Frauen generell nicht mehr abtreiben.
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In einem Bundesstaat dürfen sie es nur bis zur 6. Woche (allerdings wissen viele Frauen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass sie schwanger sind).
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In einem weiteren Bundesstaat können sie bis zur 12. Schwangerschaftswoche abbrechen.
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In vier weiteren Bundesstaaten kann eine ungewollt Schwangere noch bis zur 15. oder 20. Woche der Schwangerschaft abtreiben.
In allen anderen Bundesstaaten bleibt ein Abbruch legal.
Diese Aufzählung stammt aus einem Bericht der New York Times vom 16. Juni 2023. Die New York Times trackt die rechtliche Entwicklung in den einzelnen Bundesstaaten und aktualisiert den Status quo fortlaufend.
Klingt doch gar nicht so schlimm? Weil in rund der Hälfte der Bundesstaaten ein Abbruch ja weiterhin möglich ist? Nun ja. Schauen wir uns doch mal an, was das im Alltag für Betroffene konkret bedeutet:
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Rund 22 Millionen Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter leben heute in Bundesstaaten, in denen eine Abtreibung gar nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist. Das entspricht fast jeder dritten Frau.
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Das Urteil des Supreme Court von 2022 hat die rechtliche Lage unübersichtlich gemacht. Denn was zu welchem Zeitpunkt einer ungewollten Schwangerschaft wo erlaubt ist oder welche rechtlichen Konsequenzen Frauen berücksichtigen müssen, die einen Abbruch in Betracht ziehen, müssen Betroffene erst einmal herausfinden. Die komplizierte rechtliche Situation, die von Bundesstaat zu Bundesstaat variiert, erhöht die Hürde für jene, die abtreiben möchten. Und sie macht das Recht auf Abtreibung selektiv: Der Wohnort einer Frau entscheidet somit darüber, welches Recht auf Selbstbestimmung ihr zukommt.
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Nicht nur ungewollt Schwangere, auch NGOs, Kliniken und Ärztinnen sind verunsichert. Manche Mediziner:innen zögern vor einer Behandlung, die rechtlich als Abtreibung gilt – sogar, wenn sie wissen, dass es medizinisch absolut erforderlich und richtig wäre, eine Abtreibung durchzuführen, weil sonst das Leben der Mutter bedroht ist. Oft haben sie Angst vor massiven rechtlichen Konsequenzen. Landesweit schließen Privatkliniken, die Abtreibungen anbieten oder arbeiten unter größerem rechtlichen Druck.
Ein System des Misstrauens, gemacht durch neue Gesetze
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Eine Person, die ungewollt schwanger geworden ist und in einem Bundesstaat lebt, in dem ein Schwangerschaftsabbruch generell verboten ist, kann zwar für die Abtreibung in einen anderen Bundesstaat reisen (sofern sie ihn operativ durchführen lassen möchte). Aber eine solche Reise ist aufwendig, sie erfordert Zeit und Geld. Nicht jede Frau besitzt solche Ressourcen. Zwar könnte eine ungewollt Schwangere auch mithilfe von Medikamenten abtreiben; erst im April hatte der Supreme Court eine Klage aus Texas abgewehrt, die den Verkauf der „Abtreibungspille“ Mifepreston verbieten wollte. Frauen können sich das Medikament verschreiben und per Post nach Hause schicken lassen. Trotzdem ist es seit 2022 in einigen Bundesstaaten schwerer, an das Medikament zu kommen.
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Einige Staaten haben „Kopfgeldjägergesetze“ (im Original bounty hunter laws) erlassen. Privatpersonen können jetzt Mediziner:innen oder Kliniken, die eine Abtreibung anbieten oder unterstützen, auf Schadensersatz verklagen. (Teilweise wurden diese Gesetze aber auch schon vor dem Urteil des Supreme Court aus dem vergangenen Jahr verabschiedet.) Die Gesetze kriminalisieren Schwangerschaftsabbrüche weiter – und entprivatisieren sie. Zudem entsteht ein Netz aus Misstrauen. Frauen, die abtreiben wollen oder müssen, sind somit noch einsamer.
Es gibt auch noch Hoffnung, diese drei Frauen sind der Beweis
Du fühlst dich angesichts dieser Fakten deprimiert? Geht mir genauso. Aber wir wären ja nicht Krautreporter, wenn wir nicht den konstruktiven Ansatz suchen würden. Weswegen ich unsere Community, also euch, gefragt habe, ob euch Personen einfallen, die nach wie vor für das Recht auf Abtreibung und damit für das Recht einer jeden Frau auf Selbstbestimmung kämpfen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland. Hier kommen drei Menschen, die mir Mut machen:
Von Makayla Montoya Frazier hat mir KR-Leserin Julia berichtet. Fraziers Werdegang beeindruckt sie, schreibt Julia. Frazier ist zwar erst 23 Jahre alt, setzt sich aber schon seit Jahren für Abtreibungen ein – ausgerechnet in Texas. Der Bundesstaat reguliert Abtreibung besonders streng. Fraziers Geschichte ist eine sehr persönliche, sie wurde schon als Kind politisiert: Der Vater saß im Gefängnis, die Familie hatte nie viel Geld. Mit 18 Jahren wird Makayla schwanger. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet sie in einem Stripclub, trinkt, nimmt Drogen – und ignoriert ihre ungewollte Schwangerschaft zunächst. Erst, als sie bereits im dritten Monat ist, wird ihr klar, dass sie eine Abtreibung will. Aber sie hat kein Geld für einen operativen Eingriff. Also wählt sie den medikamentösen Weg. Ihre eigene Erfahrung reichte als Antrieb, um einen Abtreibungsfonds speziell für junge Frauen zu gründen, den Buckle Bunnies Fund. Privatpersonen wie du und ich können in den Fonds Geld einzahlen, um andere Frauen zu unterstützen, die eine Abtreibung wollen, aber kein Geld haben. 2020 gegründet, hat Buckle Bunnies laut eigener Angabe bis heute etwa 2.000 selbstorganisierte Abtreibungen unterstützt.
In Deutschland ist die Lage zwar besser als in den USA (so wurde Paragraph 219a mittlerweile abgeschafft, der es Ärtzinnen beispielsweise verbot, auf ihrer Homepage darüber zu informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen). Aber rosig ist sie trotzdem nicht: Immer weniger Ärzt:innen bieten Abtreibungen als medizinischen Service an. Die Versorgungslage verschlechtert sich also. Von einer Person, die diese Situation verbessern will, hat mir KR-Leserin Kim in einer Mail berichtet: Alicia Baier. Die 32-Jährige ist Gynäkologin, führt selbst Abtreibungen durch und setzt sich als Medizinerin für das Recht von Frauen auf reproduktive Gesundheit ein. Baier kennt die Zahlen für Deutschland, sie weiß zum Beispiel: Hierzulande werden pro Jahr etwa 100.000 Abtreibungen durchgeführt – damit sind die Eingriffe fast so üblich wie Blinddarm-Operationen. 96 Prozent dieser Abtreibungen finden innerhalb der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft statt. Wie ein solcher Abbruch aber methodisch durchzuführen ist, oder wie man als Medizinerin ungewollt Schwangere, die über einen Abbruch nachdenken, berät, das hat Baier in ihrem eigenen Studium nicht gelernt. In ihrem Stundenplan an der Berliner Charité kam das Thema Schwangerschaftsabbruch nicht vor.
Ein Unding, fand Baier. Deswegen hat sie Doctors for Choice Germany e.V. mitgegründet und Medical Students for Choice Berlin gestartet. Zumindest die medizinische Theorie eines Schwangerschaftsabbruchs sollte Baiers Meinung nach Teil eines jeden medizinischen Studiums sein. Dabei geht es der Ärztin darum, auch unter Medizinstudent:innen vorherrschende Mythen über Abtreibung aufzuklären – und Druck auf die Ampelkoalition aufzubauen, die im Koalitionsvertrag festgeschrieben hatte, Schwangerschaftsabbrüche in die ärztliche Aus- und Weiterbildung aufzunehmen.
Und dann ist da noch KR-Leserin Dija: Sie ist 56 Jahre alt, lebt in Düsseldorf und Krefeld und hat in diesem Jahr schon zwei Demonstrationen für das Recht auf Abtreibung angemeldet und mitorganisiert. Weil sich in Dijas Viertel die erzkonservative „Lebenswerte“-Gesellschaft traf, um für den Erhalt des Paragraphen 218 Stimmung zu machen (218 ist jener Paragraph, der Abtreibungen in Deutschland unter Strafe stellt beziehungsweise sie unter bestimmten Bedingungen ermöglicht). Und weil sich kein feministischer Verein fand, der eine Demo gegen die Lebenswerte-Gesellschaft anmeldete. Also wurde Dija kurzerhand selbst aktiv. Sie gründete eine Gruppe auf Signal für die Organisation und eine zur Vernetzung auf Telegram. „Entstanden ist daraus eine Vernetzung vieler feministischer Gruppen“, sagt Dija.
Ich finde ihre Initiative super, um es ganz einfach zu sagen. Genauso wie die von Makayla Montaya Frazier oder Alicia Baier. Weil alle drei Personen zeigen: Man kann immer etwas tun. Jede und jeder.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert