Ich war etwa sieben Jahre alt, als ich den Satz zum ersten Mal hörte: „Sie haben das Recht zu schweigen. Jede Aussage kann aber gegen Sie verwendet werden.“ Ich war krank an diesem Tag und musste deshalb nicht zur Schule. Zu Hause auf dem Sofa schaute ich „Richter Alexander Hold“ auf RTL.
Mit Anfang 20 hörte ich den Satz wieder, als Gerichtsreporterin in einem Gerichtssaal in Hamburg-Harburg. Vor mir saß der Angeklagte John W. Er wurde beschuldigt, einen 24-Jährigen nach einer durchzechten Partynacht in einem U-Bahnhof verprügelt und zusammengetreten zu haben. Die Staatsanwaltschaft warf ihm schwere Körperverletzung vor. Ihm drohte mindestens ein halbes Jahr Gefängnis. „Sie haben das Recht zu schweigen. Jede Aussage kann aber gegen Sie verwendet werden“, sagte der Richter.
Schon als Kind hatte ich verstanden, was der Satz bedeutet: bloß keine Aussage dem Zufall überlassen! Jeder Satz, der folgte, hätte das Leben des Angeklagten verändern können. Auch, wenn die Fragen des Richters ganz banal klangen.
Herr W., was machen Sie beruflich?, fragte der Richter.
Wie viel Geld verdienen Sie?
Leben Sie in einer Partnerschaft?
Haben Sie Kontakt zu Ihren Kindern?
Immer wieder schaute John W., der eigentlich anders heißt, zu seinem Anwalt. Der nickte, wenn John W. die Fragen des Richters beantworten sollte. Die beiden hatten vorher besprochen, was er aussagen soll, bemerkte ich. Was er sagte, ergab ein gutes Bild: ein junger Familienvater, der gerne musiziert, mit seiner Tochter spielt und Geld für die Familie verdient. An den entscheidenden Stellen schwieg John W. An den Tathergang könne er sich nicht erinnern: ein Filmriss nach mehreren Flaschen Wodka. Wie würde das Gericht wohl entscheiden?
In Deutschland hat jeder Beschuldigte das Recht auf einen Anwalt, der sich eine solche Strategie überlegt. Ganz gleich, wie abscheulich ein Verbrechen auch ist, immer ist ein:e Verteidiger:in in schwarzer Robe an der Seite der angeklagten Person. Das regelt Paragraf 137 der Strafprozessordnung. Nicht jede:r ist strategisch und eloquent genug, um vor Gericht für sich einstehen zu können. Nur fair, dass alle einen Anwalt bekommen können. Und wer sich keinen leisten kann, bekommt einen Pflichtverteidiger, wie John W.
Aber was, wenn all das nicht stimmt? Wenn in deutschen Gerichten faire Prozesse nicht die Regel sind: Wenn vor dem Gesetz nicht alle gleich sind?
Das beschreibt der Jurist Ronen Steinke in seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“. Ich hatte den Autor in einer Talkshow gesehen. Seine Thesen ließen mich nicht mehr los. Seit ich sein Buch gelesen habe, wackelt meine Überzeugung, dass die deutsche Justiz eigentlich meistens fair ist. Und Steinke geht noch weiter. Was ist eigentlich, wenn ich mal straffällig werde: Muss ich Angst haben, ungerecht behandelt zu werden? Steinke sagt: Kommt drauf an, wie viel Geld ich habe. „Wer arm ist, sollte sich besser zweimal überlegen, ob er sich dem Verdacht einer Straftat aussetzt“, schreibt er.
Was in deutschen Gerichten wirklich passiert
Seit ich Steinkes Buch gelesen habe, weiß ich: Der Alltag in deutschen Gerichten sieht anders aus als bei Richter Alexander Hold. Und auch die spektakulären Fälle mit großen Verteidiger:innen-Teams, über die wir in den Medien hören und lesen, sind nur ein kleiner Ausschnitt.
Mord, Totschlag und Raub machen nur 3,5 Prozent aller Straftaten aus, die in der polizeilichen Kriminalstatistik auftauchen. Was die Justiz viel mehr beschäftigt, sind kleine Diebstähle und Betrügereien. Mehr als jeder zweite Gerichtsprozess befasste sich 2022 mit solchen kleineren Fällen. Auf der Anklagebank sitzen in der Regel arme, oft sogar obdachlose Menschen mit Suchtproblemen und anderen psychischen Erkrankungen. Steinke schreibt: Das seien oft Menschen, die in ihrem Leben Pech gehabt haben. Die durchs soziale Netz rutschen und aus der Not heraus straffällig werden. Mit Zahlen lässt sich das nicht belegen: Die polizeiliche Kriminalstatistik erfasst nur die Herkunft und das Alter von Angeklagten, nicht ihr Einkommen. Wäre unser Justizsystem gerecht, würden sie trotzdem gleich behandelt werden. Aber genau hier beginnt das Problem.
Da ist zum Beispiel die 57-jährige Nicole B. Sie wird beschuldigt, Lebensmittel im Wert von 5,57 Euro geklaut zu haben, wie Steinke in seinem Buch schreibt. Es ist nicht ihr erster Diebstahl. Der Richter glaubt nicht daran, dass Nicole B. eine günstige Sozialprognose hat: Sie ist arm und könnte wieder stehlen. Also wird sie zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt – insgesamt 450 Euro. Nicole B. bekommt Hartz IV, 450 Euro sind ihr gesamter Satz. Wie konnte so ein drakonisches Urteil gefällt werden?
Nicole B. stand allein vor Gericht, ohne Rechtsbeistand.
Strafverteidigung ist ein Privileg derer, die es sich leisten können
Der Grund ist eine Lücke in der Strafprozessordnung. Wer sich keine Anwältin leisten kann, bekommt in der Regel einen Pflichtverteidiger – aber nicht immer. Der steht einem nach Paragraf 140 der Strafprozessordnung nur zu, wenn wegen der Schwere der Tat, der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen einer komplizierten Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Strafverteidigers angebracht erscheint. Oder wenn ersichtlich ist, dass sich die beschuldigte Person wegen körperlicher Einschränkungen nicht selbst verteidigen kann. Menschen wie Nicole B. bleiben ohne Anwältin.
In Gerichtsprozessen suchen Richter:innen die Wahrheit – im besten Fall zwischen Anklage und Verteidigung. Und wenn es keinen Anwalt zur Verteidigung gibt? Dann soll die Staatsanwaltschaft auch Tatsachen geltend machen, die die angeklagte Person entlasten könnten. Man könnte also meinen: Wenn die Staatsanwaltschaft ihren Job gut macht und der Richter genau hinsieht, ergibt sich auch ohne Rechtsbeistand ein vollständiges Bild des Deliktes. Braucht es also gar keine Strafverteidigung?
Wenn ich mir vorstelle, als Angeklagte vor Gericht zu stehen, wüsste ich nicht, was ich sagen soll und was lieber nicht. Wie ehrlich soll ich sein? Immerhin kann mich jede Aussage genauso gut belasten wie entlasten – und davon hängt letztlich meine Zukunft ab, wie der Fall von John W. zeigt.
Wenn ich einen Apfel stehle oder jemanden schlage, ist das eine Straftat. In der Rechtsprechung gibt es präzise Regeln dafür, wie ein Delikt definiert ist. Das Ausmaß der Strafe für mich als Angeklagte bemisst der Richter letztlich aber nicht nur an der Tat selbst, sondern auch an meiner Biografie und meinen Lebensumständen. Habe ich den Apfel geklaut, weil ich Hunger hatte oder wollte ich den Apfel weiterverkaufen? Schlage ich öfter zu und bewege mich in Kreisen, in denen das üblich ist? Oder habe ich zum ersten Mal meine guten Manieren verloren?
Dazu kommt: Beschuldigte vertrauen sich den Vertretern der Staatsmacht nicht so offen an wie einem Verteidiger. Also jemandem, der auf ihrer Seite steht. Selbst wenn Richter:innen und Staatsanwaltschaften also genau hinsehen wollen, haben sie oft keine Chance dazu. Dafür haben sie auch gar keine Zeit.
Oft werden kleine Delikte, wie der Diebstahl, den Nicole B. begangen hat, als sogenannte „einfach gelagerte“ Fälle eingestuft. Diese Prozesse werden in deutschen Gerichten im Viertelstundentakt durchgepeitscht. Aber: „Einfach gelagert sind Fälle womöglich nur genau so lange, wie kein Anwalt ins Spiel kommt, der Fragen stellt und sich für die Rechte des Beschuldigten stark macht“, schreibt Ronen Steinke. Ob ein Angeklagter einen Strafverteidiger bekommt, entscheiden die Richter:innen, die den Prozess führen. Die „Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage“ zu beurteilen, liegt bei ihnen. In der Praxis sind beides dehnbare Begriffe.
Jede Pflichtverteidigung kostet den Staat Geld. Ist ein Anwalt im Saal, wird das Verfahren komplizierter – und bereits jetzt sind Richter:innen überlastet.
Wer doch eine Pflichtverteidigerin abbekommt, muss wieder Glück haben. „Für alles, was ein Verteidiger zu lesen, zu recherchieren und zu besprechen hat bis zu seinem ersten Auftritt vor Gericht, für die gesamte Vorbereitung also, zahlt der Staat oft nur 145 Euro“, schreibt Steinke. Die Verteidiger:innen müssen also viele Mandant:innen annehmen, um sich über Wasser zu halten. Es bleibt wenig Zeit für Recherchen, um die Unschuld des Angeklagten zu beweisen.
Und selbst engagierte Pflichtverteidiger:innen gewinnen nicht im System. Anwält:innen, die den Richter:innen schon mal Ärger gemacht haben, haben schlechte Chancen, wieder als Pflichtverteidiger:innen ausgewählt zu werden. So richtig schützt man die eigenen Rechte also nur mit dem eigenen Portemonnaie.
Wie würde ein fairer Gerichtsprozess aussehen?
Urteile werden im deutschen Rechtsstaat im Namen des Volkes gesprochen: Das unfaire Gerichtssystem spricht also auch in meinem Namen. Ich frage mich: Wie würde denn ein fairer Gerichtsprozess aussehen?
Um das zu beantworten, ist es ganz egal, ob John W. oder Nicole B. angeklagt sind. Ob sie unschuldig, schuldig, arm oder reich sind, wegen Mordes oder dem Klau eines Brötchens angeklagt werden. Ein System ist nur fair, wenn es alle gleich behandelt. Manch einer kennt dieses Gedankenexperiment vielleicht noch als „Schleier des Nicht-Wissens“ von John Rawls aus dem Philosophieunterricht in der Schule.
Fair ist ein Gerichtsprozess demnach nur, wenn jede:r Angeklagte immer verteidigt wird.
Ganz ähnlich ist es heute bereits in fast allen deutschen Nachbarländern, etwa in Frankreich, Belgien, Polen und Dänemark. Dort kann jeder Angeklagte einen Rechtsbeistand bekommen, unabhängig von seinem Geldbeutel und der Anklage. Die Pflichtverteidiger:innen werden nicht von Richter:innen, sondern von unabhängigen Gremien ausgewählt. In Österreich etwa machen das die Anwaltskammern.
Daraus ergibt sich eine neue Frage: Woher sollen die vielen Pflichtverteidiger:innen kommen? Eine Lösung dafür findet sich in den USA: Dort müssen große Spitzenkanzleien einen Teil ihrer Zeit dieser „Pro-Bono“-Arbeit widmen.
Es gäbe aber auch noch ganz andere Wege, das System fairer zu gestalten. Man könnte etwa das Strafmaß für bestimmte Straftaten verringern. Das schlägt Steinke ebenfalls in seinem Buch vor. Oder man könnte bestimmte Straftaten einfach nicht mehr als Straftaten bezeichnen, so dass Gerichte entlastet werden. Wenn es weniger Verfahren gibt, die geklärt werden müssen, bleibt mehr Zeit für die Fälle, die wirklich dringend sind. Das Bundesjustizministerium etwa diskutiert gerade, ob Unfallflucht, wenn keine Person zu Schaden gekommen ist, künftig als Ordnungswidrigkeit statt als Straftat eingestuft werden soll. Ein weiterer Bereich, in dem das immer wieder diskutiert wird, ist der Besitz geringer Mengen Cannabis.
Dank seines Verteidigers konnte der Richter im Fall von John W. erkennen, dass der mit beiden Beinen im Familienleben steht – und gab ihm eine zweite Chance. John W. wurde schuldig gesprochen. Doch er durfte beweisen, dass er keine weiteren Straftaten begeht und seine Lektion gelernt hatte. Jurist:innen nennen das eine günstige Sozialprognose. W. wurde zu nur sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, für gefährliche Körperverletzung drohte ihm mindestens ein halbes Jahr Gefängnis. Die Verteidigungsstrategie – strategisches Schweigen – ging auf. Eine Haftstrafe hätte W. aus seinem Leben gerissen und womöglich auf eine schiefe Bahn gelenkt. Ist das gerecht? Ich weiß es nicht. Aber zumindest ist es fair.
Das Buch „Vor dem Gesetz sind alle gleich“ von Ronen Steinke ist im Januar 2022 im Berlin Verlag erschienen. In diesem Artikel habe ich mich nur mit einem Teil der Ungleichheit vor Gericht beschäftigt: mit der Strafverteidigung. Anhand von weiteren Fällen beschreibt Steinke in seinem Buch weiter, wie arme Menschen härter bestraft werden und reiche Angeklagte oft billig davon kommen. Zum Buch.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger