Das Bild an sich zeigt eine klassische soziale Konstruktion, die auseinanderzufallen droht. Ein Mann und eine Frau reichen sich die Hände, können sich aber nicht erreichen. Außerdem schweben sie über einem vermeintlichen Abgrund. Sie geben einem das Gefühl, sie könnten fallen.

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Geschlecht und Gerechtigkeit

Lasst uns die Ehe abschaffen!

Heiraten und Kinder kriegen – das gilt noch immer als Lebensglück. Die Autorin Emilia Roig aber sagt: Davon profitieren hauptsächlich Männer und der Kapitalismus.

Profilbild von Ein Buchauszug von Emilia Roig

Emilia Roig will nichts weniger, als die Ehe abschaffen und das Modell des Familienlebens revolutionieren. Weil beides die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern stärke, so die These der Politologin, Sachbuchautorin und Aktivistin. Wir veröffentlichen einen Auszug aus ihrem neuen Buch „Das Ende der Ehe“, das im März erschienen ist und in dem sie einen anderen Blick auf Liebesbeziehungen fordert.


Vor einiger Zeit traf ich Renate, die Mutter einer guten Freundin, und wir kamen ins Plaudern über meine Kindheit. Als ich erwähnte, dass meine Eltern sich hatten scheiden lassen, fragte sie mit einem intensiven Blick: „Ach, das ist aber wirklich doof für dich und deine Geschwister gewesen, oder?“

Sie suchte dadurch Bestätigung und wollte nur eine einzige Antwort hören: „Ja, es war wirklich schlimm. (Gut, dass Sie noch mit Ihrem Mann verheiratet sind.)“ Hätte ich gesagt: „Nein, es war gar nicht schlimm“, hätte sie bestimmt nachgehakt und versucht, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Renate hat fünf Kinder in einem großen Einfamilienhaus in einer kleinen westdeutschen Stadt großgezogen. Sie kümmerte sich Vollzeit um die Kinder, während ihr Ehemann in seiner erfolgreichen Anwaltskanzlei gutes Geld verdiente, um seiner Familie einen sehr wohlhabenden Lebensstil zu sichern. Am selben Tag erzählte mir Renate, dass – auch wenn sie eine Trennung durchaus erwogen hatte – sie den Schritt nie vollzogen hätte, „wegen der Kinder“.

Die heterosexuelle Kernfamilie, bevorzugt innerhalb einer Ehe, wird als die einzig gesunde Konstellation für die Erziehung von Kindern betrachtet. Dieses Modell gilt weithin als das beste für die optimale geistige und psychologische Entwicklung der Kinder. Deswegen bleiben viele Paare zusammen – „für die Kinder“ –, als wäre die normgerechte Zusammensetzung der Bezugspersonen allein für das Wohlergehen der Kinder hinreichend.

Nicht zufällig ist die Familienkonstellation eines der Hauptkriterien, um den Zugang zu Adoptionen zu regeln. Ein heterosexuelles Paar mit oder ohne Kinder wird nach wie vor als die bestmögliche Familienform für Adoptivkinder betrachtet. Singles und gleichgeschlechtliche Paare haben bis heute, auch wenn es in den letzten Jahren kleine Fortschritte gab, viel schlechtere Chancen, ein Kind zu adoptieren, und das liegt auch an der Geschichte der BRD.

Adenauer bestimmt unser gesellschaftliches Leben noch heute

In der Nachkriegszeit verloren die patriarchale Familie und die männliche Dominanz nicht an Bedeutung. In der Ära Adenauer gab es bei der „Diskussion über die Stellung der Frau und die Struktur der Familie […] wenig Raum für Experimente irgendwelcher Art.“ In den 1950er Jahren hat es einen breiten Konsens gegeben, dass die Familie „Erneuerung und Schutz, nicht die Konfrontation mit neuen Entwürfen“ verdiene. Dass die elterlichen Rechte von lesbischen Müttern bis heute nicht anerkannt werden, muss als Fortführung einer patriarchalen Ordnung verstanden werden.

Die Kernfamilie ist eine noch recht junge Form der sozialen Organisation weltweit. Das dichte Cluster von vielen Geschwistern und erweiterter Verwandtschaft wurde zu immer kleineren Einheiten fragmentiert. Dadurch hat die Kernfamilie seit der industriellen Revolution einen Aufschwung genommen und sich allmählich als Hauptmodell im globalen Norden etabliert. Diese Struktur, in der der Lohn des Mannes die unbezahlte Care-Arbeit seiner Frau subventioniert, hat sich zu einer privatisierten und subventionierten Einheit innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft entwickelt.

Doch in Zeiten, in denen ein einziger Lohn – selbst der eines weißen Mannes – in vielen Fällen nicht ausreicht, um die Grundbedürfnisse einer Familie zu decken, funktioniert dieses Modell für die meisten Familien nicht mehr. Da Frauen zusätzlich zur Berufstätigkeit noch immer für die unbezahlte Care-Arbeit verantwortlich gemacht werden, kommt es bei ihnen zu einer Mehrfachbelastung und einem großen Mental Load.

Frau und Kind gehören dem Mann

Im 1804 erlassenen Napoleonischen Gesetzbuch stand: „Das Kind gehört dem Ehemann der Frau, wie der Apfel dem Besitzer des Apfelbaums gehört. […] Die Frau wird dem Mann gegeben, damit sie ihm Kinder zeugt; sie ist sein Eigentum, wie der Obstbaum das Eigentum des Gärtners ist.“ Die Frau, ihre Organe und die von ihr geborenen Kinder sind das Eigentum des Mannes, daher kann er mit ihnen tun, was er will, so Napoleon.

Das Napoleonische Gesetzbuch war das erste moderne Gesetzbuch mit gesamteuropäischem Geltungsbereich, und es hat das Recht vieler Länder, die während und nach den Napoleonischen Kriegen gegründet wurden, einschließlich Deutschlands, bis heute stark beeinflusst. Napoleon formulierte in klaren Worten die Hierarchie, die dem globalen Patriarchat zugrunde liegt. „Vater“ zu sein, ist keine neutrale, rein deskriptive Rolle, sondern eine gesellschaftliche Position. Sie verleiht eine Macht, die als beinahe sakral und göttlich beschrieben werden könnte. Der Vater ist Gott und sein Vertreter der Papst. Sie sind prägende Figuren der Macht und somit wichtige Scheitelsteine der gesamten sozialen Ordnung, die auf der Ehe und der Kernfamilie mit einem Pater familias an der Spitze basiert.

Das Ende der Ehe bedeutet zugleich, die Übermacht des Vaters – des Patriarchen – abzuschaffen und somit das Zerbröckeln der patriarchalen Macht. Deshalb muss das Modell des Pater familias ein für alle Mal aussortiert werden.

Sperma ist kein Samen

Stellen Kinder die Frage: „Wie werden Babys gemacht?“, wird bis heute meist geantwortet: „Der Papa macht seinen Samen in den Bauch der Mama, und daraus entsteht ein Baby.“ So gesehen ist das Baby der Besitz des Vaters: Sein Samen wächst im Bauch der Mutter, die lediglich ein passiver Behälter ist. Die Tatsache, dass sich diese biologisch falsche Darstellung der Fortpflanzung bis heute durchgesetzt hat, ist bezeichnend.

Sperma ist nämlich tatsächlich kein Samen. „Sperma“ bedeutet im Griechischen „Nachkomme“, „Spross“, „Keim“, „Saatgut“ – und das männliche Ejakulat ist das nicht, bemerkt die Feministin Antje Schrupp. Das Ejakulat enthält keinen Samen, sondern lediglich Keimzellen, die nur in Verbindung mit einer anderen Keimzelle den Embryo erzeugen kann, der eigentlich das „Sperma“ ist – nicht das Ejakulat des Mannes.

Dieser Unterschied ist nicht trivial, sondern ausschlaggebend. Die herkömmliche Sicht erlaubte es Männern, sich eine übergeordnete Rolle in der Fortpflanzung zuzuweisen und die Rolle der Frauen auf die eines Behälters zu reduzieren. So sah es auch Napoleon, und er bewirkte mit seinen Gesetzen die Aneignung der Frauenkörper und ihre Verankerung im Recht. Die Ehe institutionalisierte diesen Prozess und sorgte dafür, dass Frauen und Kinder bis vor nicht allzu langer Zeit auf den Status von Objekten und Untertanen reduziert wurden.

Die väterliche Autorität ist ein patriarchales Konzept, das durch die Ehe und die Übermacht der Kernfamilie festgeschrieben wurde. Bis Ende der 1950er Jahre sah in der Bundesrepublik das Bürgerliche Gesetzbuch vor, dass in Erziehungsfragen der Vater das letzte Wort habe und dass die Vertretung des minderjährigen Kindes allein ihm zustehe. Erst seit 1959 sind Mütter Vätern gleichgestellt in Sachen elterliche Autorität. Der Widerstand war groß seitens konservativer Männer, die darin einen Versuch sahen, „die vaterlose Gesellschaft als Leitidol zu etablieren.“ Den Richtern wurde unterstellt, sich einer Argumentation zu bedienen, die den Geist „verstaubte[r] Geltungskämpfe aus der Ära der Suffragetten“ atme, anstatt die Familie als „Keimzelle aller irdischen Gemeinschaft“ zu schützen.

Die Kernfamilie ist der Ort, an dem patriarchale Gewalt am häufigsten ausgeübt wird

1963 führte der Freud’sche Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seinem Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ gesellschaftliche Konflikte, neurotische Verhaltensweisen wie Indifferenz dem Mitmenschen gegenüber, Aggressivität, Destruktivität und Angst auf den vermeintlichen Zerfall der väterlichen Autorität zurück.

Die Kernfamilie, wie wir sie heute kennen, geht direkt auf das Patriarchat zurück und ist der Ort, an dem patriarchale Gewalt am häufigsten und am massivsten ausgeübt wird: Der Großteil von Kindesmissbrauch sowie -vergewaltigung findet innerhalb der Familie statt. In jeder Schulklasse sitzen ein bis zwei betroffene Kinder. In 82 Prozent der Fälle sind Eltern oder Familienangehörige am Missbrauch beteiligt – überwiegend Männer. Lediglich ein Prozent aller Fälle wird den Jugendämtern oder Ermittlungsbehörden bekannt. Auf der Website des Bundeskriminalamtes sind aber, außer zu Kinderpornografie, keine Zahlen und Informationen zu finden. Die Polizei und die Justiz bleiben weitgehend untätig, die meisten Anzeigen werden eingestellt. Das liegt einerseits an der Schwierigkeit, Pädokriminalität zu beweisen, weil die betroffenen Kinder psychisch manipuliert werden, andererseits an einer patriarchalen Kultur, die Kinder nicht wie Menschen, sondern wie Objekte behandelt, über die Eltern ungehemmt verfügen können.

Kinder gehören nicht ihren Eltern, sie sind vollwertige Menschen, und dennoch hat die Institution der Ehe und die damit verbundene elterliche Autorität sie zu Untertanen gemacht, über deren Schicksal nur ihre Eltern entscheiden können. Sogenannte häusliche Gewalt – Gewalt gegen Frauen und Kinder im privaten Umfeld –, sexueller Missbrauch und Vergewaltigung gehen in der überwiegenden Mehrheit der Fälle von Männern aus, aber manchmal sind auch Frauen Täterinnen und vergreifen sich an ihren Kindern. Ihre Machtlosigkeit schlägt sich oft in Form von Gewalt gegenüber denjenigen nieder, die noch machtloser sind.

Häusliche Gewalt, Femizide, Kindesmissbrauch und Inzest geschehen dort, wo Menschen sich am sichersten fühlen sollten. Der dramatische Anstieg von häuslicher Gewalt während des Corona-Lockdowns zeigt, wie gefährlich die private Sphäre für Frauen und Kinder ist.

In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, seine Partnerin zu töten

Der Lockdown-Slogan „Stay home, stay safe“ hörte sich für viele Frauen und Kinder zynisch an. Das systematische Scheitern der Polizei, aktiv und effektiv gegen häusliche Gewalt vorzugehen und bedingungslos einzugreifen, ist symptomatisch für das Anrecht der Männer, patriarchale Macht über ihre Frauen und Kinder auszuüben. Ehefrauen gehörten ihren Männern lange laut Gesetz und werden nach wie vor als ihr Besitz betrachtet. Die Polizei greift bei häuslichen Angelegenheiten nur zögerlich ein, unter anderem weil dann die Autorität vom Mann auf den Staat übergehen würde, obwohl dies Menschenleben retten könnte: In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, seine Partnerin zu töten, und an jedem dritten Tag gelingt es.

Das zeigt uns, wie umfangreich und zerstörerisch die Autorität von Männern ausgeübt werden kann, ohne dass die Polizei aktiv etwas dagegen tut und somit die Gewalt erlaubt. Manchmal richtet sich die Gewalt von Suizid begehenden Männern auch gegen ihre Partnerin und Kinder, bevor sie sich selbst umbringen. Sie betrachten ihre Frauen als Teil von sich und können die Vorstellung nicht ertragen, dass die Frauen sie überleben würden. Femizide sind keine Fatalität, sie sind eine Säule des Patriarchats, es sind Morde, die auf der Vorstellung von Frauen als Besitz basieren.

Mein Opa ist einer von den Männern, die versucht haben zu töten

Mein Großvater väterlicherseits hat versucht, meine Großmutter zu erschießen, als er sie verdächtigte, fremdgegangen zu sein. Sie gehörte ihm, und sollte sie ihm nicht mehr gehören, hätte er sie lieber tot als lebendig gesehen.

Sie hat es überlebt und behielt am Arm eine große Narbe, von der ich immer dachte, sie wäre im Algerienkrieg entstanden. Meine Großmutter erzählte mir die Geschichte vor einigen Jahren und lachte sogar, als sie mir berichtete, dass mein Opa „verrückt geworden war“. Mein Vater, der als damals elf- oder zwölfjähriger Junge Zeuge des Mordversuchs war, hat bis heute nie darüber gesprochen.

Erst beim Schreiben dieses Buches wurde mir klar, dass mein Opa zu den Männern gehört, die „jeden Tag versuchen, ihre Partnerin zu töten.“ Irgendwie passte seine Geschichte nicht in diese trockene Statistik, weil mein Großvater gegenüber meiner Großmutter und seinen Kindern nie gewalttätig war und ich ihn als liebevollen Menschen kenne. Er ist kein Monster. Doch er hat versucht, seine Frau zu töten. Wie passt das zusammen?

Niemand in meiner Familie sprach jemals von „häuslicher Gewalt“. Es passierte „nur“ dieses eine Mal, und offensichtlich war mein Opa sauer und wütend. Er war „nicht er selbst“ und verlor in diesem Moment die Selbstkontrolle, so wurde es berichtet. Auch aus der mütterlichen Linie kann ich zum Thema ein Beispiel beisteuern: Ihr damals 23-jähriger Vater brach meiner Mutter zwei Rippen, als sie drei Jahre alt war – ihre wegen Rachitis fragilen Knochen haben die Schläge nicht ausgehalten. Auch wenn dieser Fall eindeutig als Kindesmisshandlung beschrieben werden kann, wurde der Vorfall aus verschiedenen Gründen verharmlost.

Der Vater meiner Mutter war ein aufrichtiger Mann, der manchmal der Wut und der Verzweiflung erlag, weil er seine drei Kinder und seine schwangere Frau kaum ernähren konnte. Seine Gewalt wurde entschuldigt, weil ihm die Erziehung seiner Kinder am Herzen lag und er selbst mit den Traumata zu kämpfen hatte, die ihm vom Post-Sklaverei-Martinique eingeschrieben wurden. Dennoch ist diese Gewalt vor allem das Ergebnis einer globalen patriarchalen Kultur, die Frauen und Kinder als Besitz von Männern betrachtet. Beide Großväter konnten ihrer Gewalt ungestraft freien Lauf lassen, weil ihr Handeln sich ins patriarchale Regelwerk einfügte und von diesem legimitiert wurde.

Wie bell hooks richtig beobachtet, haben der Kapitalismus und das Patriarchat zur graduellen Zerstörung von größeren Einheiten geführt, die auf erweiterter Verwandtschaft basierten. Indem die Familiengemeinschaft durch eine privatisierte kleine autokratische Einheit ersetzt wurde, entstand Entfremdung, und der Machtmissbrauch wurde einfacher. So erhielt der Vater die absolute Herrschaft über die Frau und die Kinder und die Mutter die sekundäre Herrschaft über die Kinder. Der „Familienname“ (oder Patronym, vom Patriarchen) folgt bis heute in der Regel dem Namen des Vaters, und dieses patriarchale Zeichen verfestigt die Herrschaft des Mannes über „seine“ Frau und „seine“ Kinder.


Das Buch „Das Ende der Ehe“ von Emilia Roig ist am 30. März 2023 im Ullstein-Verlag erschienen. Roig blickt darin hinter die Fassade des patriarchalen Konstrukts der Ehe und weist Wege zu einer Revolution der Liebe. 400 Seiten, ISBN: 9783550202285.

Emilia Roig ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie unterrichtet an verschiedenen Universitäten und hält Keynotes und Vorträge zu Intersektionalität, Feminismus, Rassismus, Diskriminierung und hat den Bestseller „Why we matter. Das Ende der Unterdrückung“ geschrieben. Emilia ist Ashoka Fellow und wurde 2022 zur „Most Influential Woman of the Year“ des Impact of Diversity Award gewählt.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger

Lasst uns die Ehe abschaffen!

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