Man sieht den Hals und die wilden Haare einer Frau, vom Wind zerzaust, kein Gesicht

© Rachel Coyne

Geschlecht und Gerechtigkeit

Wer vergewaltigt wurde, kann etwas anderes fühlen als Scham

Warum provoziert uns das so sehr?

Profilbild von Ein Buchauszug von Mithu Sanyal

Kaum ein Artikel über die Folgen von Vergewaltigungen kommt ohne „Angst, Schuld und Scham“ aus.

Julia Schellong, die Vorsitzende der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie, bestätigt: „Vorherrschend werden Gefühle wie Scham geschildert.“ Und die Anti-Rape-Aktivistin Amber Amour beschreibt ihre Gefühle unmittelbar nach dem Ereignis auf Instagram sogar mit den Worten: „Ich habe dieses beschissene Gefühl, das wir nach einer Vergewaltigung haben: Scham“ – so als wäre das ein Reflex und nicht eine hochkomplexe Emotion, die kulturell erlernt werden muss und sich keineswegs automatisch einstellt.

Wurde zuvor der Bruch mit der Lebenssituation erwartet, weil durch eine Vergewaltigung die soziale Position einer Frau in Frage gestellt wurde, verlagerte sich der Konflikt im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr nach innen. „Vergewaltigung war zu einem Angriff auf die sexuelle Identität der Frau geworden, die eine ‚psychische Wunde‘ hinterließ, eine ‚Verletzung des Ich“, zeichnet Joanna Bourke den Wandel von dem sozialen zu einem psychologischen Diskurs nach.

Was gestehen wir Opfern zu? Nur den absoluten Zusammenbruch?

Dass es einen Bruch mit der Lebenssituation geben musste, wurde allerdings nicht in Frage gestellt. „Obwohl jede Frau einzigartig ist, scheinen wir nur eine Reaktion von Vergewaltigungs- oder Missbrauchsopfern zu akzeptieren: den völligen Zusammenbruch“, kritisiert die Schriftstellerin Vanessa Veselka. „Jeder große Medienbericht über Vergewaltigung oder Missbrauch präsentiert uns dieselbe Version dieser Frau am Rande des Zusammenbruchs.“

Seit der Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung in den späten 1970er Jahren geprägt wurde, wird er hauptsächlich mit Kriegsveteranen und Opfern von Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch assoziiert. Fernsehserien und Dokumentarfilme sind voll von vergewaltigten Frauen, die das Haus nicht mehr verlassen, einen Waschzwang entwickeln, 20 Kilo zunehmen, sich mit Rasierklingen die Arme oder direkt die Pulsadern aufritzen und so weiter. Sie erzeugen damit ein sehr eingeschränktes Bild dessen, wie ein „echtes“ Opfer aussieht.

„Mein Überleben an sich spricht gegen mich“, bestätigt die Autorin Virginie Despentes in ihrem Buch „King Kong Theorie“. „Eine Vergewaltigung hat als ein traumatisches Ereignis Spuren zu hinterlassen, die man möglichst sichtbar und dekorativ zur Schau trägt: Angst vor Männern, Angst vor Dunkelheit, Angst vor Unabhängigkeit, tiefe Abneigung gegen Sex und sonstige lustige Dinge.“

Wir sagen schon Mädchen, dass es normal ist, sich beschmutzt zu fühlen

Deshalb stellte Veselka die These zur Diskussion, ob dieser Umgang mehr schaden, als helfen könnte: „Unsere Kultur erklärt Mädchen von der Wiege an, dass Vergewaltigung das Schlimmste ist, was ihnen überhaupt passieren kann. Wir sagen, es wird ihr Leben zerstören und ihnen ihre Unschuld rauben. Wir sagen Opfern von sexuellem Missbrauch, dass es normal ist, sich beschmutzt zu fühlen. Wir tun all das, um Frauen und Mädchen vorzubereiten, damit sie nicht alleine mit ihren Gefühlen sind, wenn es ihnen zustößt. Aber sorgen wir damit nicht gleichzeitig dafür, dass sie sich zerstört fühlen, beschmutzt und ihrer Unschuld beraubt? Inwieweit richten wir uns darauf ab, zusammenzubrechen?“


Dieser Text gehört zu unserem Zusammenhang „Fass mich nicht an!“. Darin beleuchten wir sexuelle Gewalt aus verschiedenen Perspektiven, aber auch, was man dagegen tun und wie man sich schützen kann.


Veselkas Artikel erschien 1999 im US-amerikanischen Popfeminismus-Magazin „Bitch“ und wurde seitdem von zahlreichen Autor * innen und Aktivist * innen als wichtige Inspiration bezeichnet – umso auffälliger ist, dass eine Diskussion darum bis heute aussteht. Der Hauptgrund dafür ist, dass es ein so harter Kampf war, dass Opfer von Vergewaltigungen überhaupt ernst genommen wurden.

Das lässt sich exemplarisch an dem Ealing-Vicarage-Rape-Case ablesen: Am 6. März 1986 brachen drei maskierte Männer in das Pfarrhaus der St. Mary’s Church in dem Londoner Stadtteil Ealing ein und forderten Geld und „Juwelen“. Als sie keine Wertsachen fanden, schlugen sie den Reverend Michael Saward sowie den Freund seiner Tochter Jill, David Kerr, mit einem Cricketschläger bewusstlos. Anschließend vergewaltigten zwei der drei Jill Saward brutal.

Der Fall schaffte es auf alle Titelseiten, weil das 21-jährige Opfer eine Pfarrerstochter und Jungfrau war, aber auch weil der Einbrecher, der nicht an der Vergewaltigung beteiligt gewesen war, zu der längsten Gefängnisstrafe von allen dreien verurteilt wurde (weil er den Einbruch geplant hatte).

Eine Vergewaltigung kann sich sehr unterschiedlich auswirken

Richter John Leonard begründete seine Entscheidung im Gerichtssaal mit den Worten, Jill Sawards Trauma „war nicht so groß“. Die darauf folgenden Proteste führten zu einer Änderung in der Gesetzgebung in Großbritannien, nach der Opfer nun einen Antrag an den Generalstaatsanwalt zur Strafverlängerung stellen können, und 1993 entschuldigte sich Sir John Leonard öffentlich bei Jill Saward und bezeichnete seine Entscheidung als den einen entscheidenden „Schandfleck“ seiner Karriere, der ihm bis an sein Lebensende auf dem Herzen liegen werde.

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1990 veröffentlichte Jill Saward ihr Buch „Vergewaltigt. Meine Geschichte“, um zu dokumentieren, wie umwälzend die Auswirkungen der Vergewaltigung waren: „Es gibt ziemlich klar abgegrenzte Stadien, und das hat mir niemand gesagt. Das ist einer der Gründe, weshalb ich meine Erfahrungen anderen mitteilen will. So braucht keine Frau das Gefühl zu haben, dass sie zusammenbricht oder verrückt wird, wenn sie dasitzt und die Düsternis, die Leere spürt.“

Nachdem ihr Leid vor Gericht so radikal verneint worden war, war es nur zu verständlich, dass Jill Saward das Gefühl hatte, für alle Vergewaltigungsopfer sprechen zu müssen. Gleichzeitig war es allerdings auch eine grauenvolle Botschaft an alle (potenziellen) Opfer, dass das an ihnen begangene Verbrechen ihnen die Seele aus dem Leib saugen würde (wie der Kuss eines Dementors in den Harry-Potter-Büchern) und sie als leere Hülle zurückließe.

Es entwickelte sich die Vorstellung von Vergewaltigung als Seelenmord

Zu diesem Zeitpunkt entstand die Vorstellung von Vergewaltigung als Seelenmord, um auf die Schwere des Verbrechens und vor allem seine Langzeitfolgen hinzuweisen, die ebenfalls einen eigenen Namen erhielten: „Vergewaltigungstraumasyndrom‘, was suggerierte, dass es eine akute Phase der Zerrüttung direkt nach der Tat gab, aber auch Langzeitfolgen, die das weitere Leben der Leidtragenden beeinflussen würden, auf der körperlichen Ebene (zum Beispiel genitale und Harnwegsprobleme), der psychischen (Albträume, Phobien), der sozialen (eingeschränktes soziales Funktionieren) und der sexuellen (Angst vor Sex, Meiden von Männern).“

Jill Sawards Buch ist erschütternd und schildert in der Tat Gefühle, die ansonsten nicht geäußert werden – wie ihre Enttäuschung, nach der Vergewaltigung nicht schwanger geworden zu sein –, doch konzentrierte sich die internationale Aufmerksamkeit hauptsächlich auf ihre Panikattacken und Selbstmordgedanken, die von der amerikanischen Frauenbewegung
wie eine öffentliche Beichte gelesen wurden – inklusive öffentlicher Absolution: „Ich habe meine Stimme gefunden. Amen.“

Es gibt keinen Platz für verschiedene Geschichten von Opfern

„Vergewaltigt. Meine Geschichte“ gab zusammen mit anderen Survivor-Storys – Überlebenden-Geschichten – Opfern eine narrative Struktur und damit im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Allerdings handelte es sich dabei um nur eine Stimme und eine Geschichte für ein ganzes Spektrum von Erfahrungen.

Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Traumatisierungen sind absolut ernst zu nehmen. Doch wird durch diesen Umgang eine sehr heterogene Gruppe kollektiv auf eine Position des Leidens festgeschrieben, beziehungsweise auf ein sehr eingegrenztes Überlebensmodell. Aber Menschen, die vorher unterschiedlich waren, die unterschiedliche Ressourcen und ein unterschiedliches Umfeld hatten, werden auch auf ein Verbrechen unterschiedlich reagieren und unterschiedliche Heilungswege gehen/brauchen.

Die Journalistin Katie Roiphe erinnert sich an „Take Back The Night“-Demonstrationen auf ihrem Universitätscampus mit abschließenden Speak-outs, bei denen Studierende auf das Podium traten und ihre Vergewaltigungsgeschichten erzählten:

„Das Merkwürdige war: Als all diese unterschiedlichen jungen Frauen – groß, klein, dick, dünn, nervös, selbstbewusst – aufstanden, um ihre hochgradig persönlichen Geschichten zu erzählen, hörten sie sich alle gleich an. Während ich sie mir eine nach der anderen anhöre, fange ich an, Muster zu erkennen. Dieselben Formulierungen mit unterschiedlichen Stimmen, nahezu alle beginnen mit den Worten: ‚Ich hatte nicht vor, heute hier zu sprechen, aber …‘, sogar diejenigen, die bereits in den letzten Jahren gesprochen haben. Sie sagen, dass sie sich hilflos fühlen und schuldig. Einige sprechen darüber, dass sie ihren Körper hassen. Mit einem Wort: Scham.“

Scham ist nicht einfach in uns drin – sie wird von außen auf uns gerichtet

Jagoda Marinic schrieb in der Taz: „Die Scham aus den Köpfen der Frauen zu kriegen, würde mehr zur Stärkung der Opfer beitragen“ als vieles andere. Doch ist die Scham tatsächlich in den Köpfen? Und was bedeutet Scham überhaupt?

Die Altphilologin Edith Hall erklärt: „Scham ist zentral für die altgriechische Literatur und Gesellschaft. Es handelt sich dabei nicht um eine innerpsychische Angelegenheit wie in: Ich fühle Scham/ich schäme mich. Sondern: Ich fühle Scham durch andere Menschen auf mich gerichtet! Die etymologische Wurzel der beiden altgriechischen Worte für Scham – ἐντροπή und αἰσχύνη – kommt von einem Wort, das beschreibt, wie man visuell von anderen Menschen gesehen wird. Wie man in der Welt wahrgenommen wird und nicht, wie man sich selbst in seinem Inneren fühlt.“

Scham ist also nicht von vornherein in den Köpfen, sondern wird von außen auf eine Person gerichtet, wenn diese den sozialen Erwartungen und Normen nicht entspricht. Allerdings muss Scham, damit die Gesellschaft reibungslos funktionieren kann, daraufhin internalisiert werden.

„Wenn es keine Scham gibt, muss man Gewalt anwenden, um Menschen zu beherrschen“

„Gute Scham sorgt dafür, dass wir uns nach den Regeln des gegenseitigen Respekts richten und nicht den uns zugewiesenen sozialen Platz verlassen. Gut im Sinne von sehr, sehr gut, um eine geordnete, hierarchische Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Der chinesische Philosoph Konfuzius sagte: Wenn es keine Scham gibt, muss man Gewalt anwenden, um Menschen zu beherrschen, mit Scham kann man sie regieren, weil sie die Regeln, wie sie sich anderen Menschen gegenüber verhalten sollen, internalisiert haben.“

Dadurch ist unser Respekt vor der Scham der Opfer in letzter Instanz jedoch ein Respekt vor eben jenen gesellschaftlichen Normen, die vergewaltigte Frauen beschämen. „Mit besten Motiven sagen wir noch immer zu Opfern: ‚Es tut mir so leid um deinen Verlust.‘ Wir fordern sie auf, ihren Körper zurückzuerobern“, macht Vanessa Veselka deutlich. „Solange wir an dem Konzept von Vergewaltigung als Raub festhalten, kommen wir unweigerlich zurück zu der Überzeugung, dass der Wert einer Frau – ihr wahres Ich – in ihrer sexuellen Reinheit begründet sei, und wir beschreiben ihren Zustand mit Begriffen wie Besitz und Verlust. Zu implizieren, dass tief in jeder Frau etwas Wesentliches ist, das gesehen oder berührt werden kann, ein Gefäß, das ihr wahres Selbst enthält und von jemand anderem gestohlen werden kann, ist eine absolute Objektivierung von Frauen.“

Entsprechend irritiert reagierte die Öffentlichkeit auf Natascha Kampusch. 1998 hatte Wolfgang Priklopil die damals zehn Jahre alte Natascha in seinen Lieferwagen gezerrt und über acht Jahre im Keller seines Hauses gefangen gehalten. Als ihr 2006 die Flucht gelang, wurde das wie ein Wunder begrüßt: das Mädchen, das von den Toten zurückgekehrt war. Entgegen allen Erwartungen war die 18-Jährige jedoch nicht gebrochen, sondern trat im Fernsehen so souverän auf, dass sofort spekuliert wurde, ob sie wirklich Opfer eines so unglaublichen Verbrechens geworden war.

Natascha Kampusch weigerte sich, die zerbrochene Opfer-Frau zu sein

„Sie wurde auf der Straße geschlagen und als Lügnerin beschimpft, in Medienberichten wurde immer wieder ausführlich ihre finanzielle Situation debattiert.“ Schließlich verkauften sich die Senderechte für das erste Interview für sechsstellige Summen, und die Ausstrahlung erst im ORF und dann in der ARD erreichte Millionen von Zuschauern. Dabei hatte Kampusch gar keine andere Wahl, als offensiv mit dem Hunger der Öffentlichkeit nach ihrem Leiden umzugehen, der so eklatant war, dass Reporter der 18-Jährigen direkt nach ihrer Flucht drohten, sollte sie keine Interviews gewähren, würden sie eben erfundene Aussagen drucken.

Doch auch so wurde in den darauffolgenden Jahren eine Menge Fiktion fabriziert. „Es ist eigentlich richtig absurd“, kommentierte Kampusch 2012 die Theorie, sie hätte in Wirklichkeit eine Liebesbeziehung mit dem Täter gehabt (mit zehn Jahren!). Aber sie spare doch in ihrem Buch „3096 Tage“ so vieles aus. „Ja, aber sehen Sie es doch so: Jeder hat ein Anrecht auf Privatsphäre, und ich muss nicht alles erzählen. Gewisse Dinge sind sehr persönlich und haben auch nicht wirklich etwas mit dem Verbrechen zu tun, und warum sollte ich dann demütigende Sachen preisgeben?“

Die Weigerung zu sprechen, wird in der Regel als Zeichen von Scham gedeutet, als Macht, die das Patriarchat über die Opfer ausübt, als der ultimative Sieg des Vergewaltigers. Vor dem Hintergrund der sehr eingeschränkten und einschränkenden Vergewaltigungsnarrative kann das jedoch auch eine Überlebensstrategie sein: Solange eine Person die Identität Opfer nicht annimmt, muss sie diese auch nicht leben. Entsprechend ist Natascha Kampuschs berühmtestes Statement:

„Ich habe gesagt, dass ich kein Opfer bin, weil ich wusste: Wenn ich das allen sage, würden sie mich nachher nie mehr als normalen Menschen akzeptieren.“

Ein Opfer soll sich einschließen, zusammenreißen, zurückziehen

Die Autorin Virginie Despentes beschreibt, wie die Vergewaltigung sie auf eine Frauenrolle festgeschrieben hatte, die Heim und Herd und ihre Geschlechtsorgane hüten sollte (und streng genommen auch bereits die Drohung von Vergewaltigung, da – wie sie es ausdrückt – „Vergewaltigung eine Sache war, die man sich im Handumdrehen einfangen konnte und nie wieder loswurde“):

„Eine der Reaktionen auf die Schilderungen meiner Geschichte war diese hier: ‚Und danach bist du trotzdem wieder getrampt?‘ Denn ich erzählte auch immer gleich, dass ich es meinen Eltern nicht erzählt hatte, aus lauter Angst, sie könnten mich hinter dreifach gesicherte Tore und Riegel sperren, und das alles nur zu meinem Besten. Ja, es stimmt, selbst danach bin ich immer noch getrampt. Weniger aufgedonnert, nicht mehr ganz so aufgeschlossen, aber ich habs wieder getan.“

„Wenn wir gegen die Vergewaltigungskultur kämpfen, so kämpfen wir nicht nur gegen die dumpfen Frauenhasser, die mit ihren boshaften Sprüchen unsere Kultur wie mit klebrigem Schleim überziehen, sondern auch gegen die leise Stimme, die in uns flüstert: ‚Immer langsam.‘ Die Stimme, die uns sagt, wenn wir zu Hause bleiben, die Knie zusammenpressen und den Blick senken, kann uns nichts passieren“, betont auch Laurie Penny.

Das bedeutet nicht, dass man sich einfach zusammenreißen soll und dann ist das alles kein Problem, sondern, dass der Preis für die Anerkennung, dass uns ein Unrecht angetan wurde, nicht sein kann, dass wir unser Leben danach zum Beweis dieses Unrechts machen und unsere Psyche als Tatort konservieren müssen, der jederzeit inspiziert werden kann.

Es fehlen andere Geschichten, differenzierte Selbstentwürfe

„Trotz der ganzen Medienberichterstattung und Aufmerksamkeit, die Vergewaltigungsopfer in den letzten Jahren erhalten haben, fehlen uns noch immer Modelle, die Frauen darin bestärken, ihr Leben weiterzuleben, anstatt es einfach nur durchzustehen“, bemerkt Vanessa Veselka. Doch ist eben das erschreckend nahe am Verrat.

Dadurch ist es so schwierig, andere Geschichten – auch dieses Buch – zu schreiben und zu (er)finden. Nicht, um eine neue Wahrheit zu präsentieren, sondern um diversifiziertere Narrative zu schaffen, verschiedene Möglichkeiten des Selbstentwurfs – sich Zusammenreißen ebenso wie Zusammenbrechen und alles dazwischen und darüber hinaus. Doch das Dilemma des fehlenden Wissenstransfers setzt sich auf allen Ebenen fort. Auch Geschichten über Heilung sind rar.

Virginie Despentes machte die verblüffende Erfahrung: „Von den Büchern hatte ich keine Hilfe zu erwarten. Das war mir noch nie passiert. Als man mich zum Beispiel 1984 für ein paar Monate in eine geschlossene Anstalt gesteckt hatte, war meine erste Reaktion gleich nach der Entlassung der Griff nach dem Buch. (…) Die Bücher waren ganz einfach da und leisteten mir Gesellschaft, machten das alles etwas erträglicher, verhalfen mir, es aussprechen zu können, mich mit jemandem darüber auszutauschen.“ Doch in diesem Fall: „Nichts dergleichen, weder als Wegweiser noch als flankierende Maßnahme. Nirgends ein Überlebenstipp oder einfach nur praktische Ratschläge.“

Das war in den 1980er Jahren, vor Riot Grrrl und vor dem beeindruckenden Buch „Yes means yes!“ von Jessica Valenti und Jaclyn Friedman. Doch sogar dort ist der einzige praktische Überlebenstipp: „Brennnesseltee.“


Man sieht das Cover des Buches, auf dem fett das Wort "Vergewaltigung" steht

Das Buch „Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens“ ist in der edierten Neuauflage im November 2020 in der Edition Nautilus erschienen. Die Autorin geht darin auf sehr unterschiedliche Punkte rund um Vergewaltigung ein, betrachtet Geschlechterbilder, aber etwa auch, was Selbstbestimmung und Konsens wirklich bedeuten, wie weit beides reicht. Auch sprachlich untersucht Sanyal, was wir unter Vergewaltigung verstehen. 256 Seiten, ISBN: 978-3-96054-245-2


Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert

Wer vergewaltigt wurde, kann etwas anderes fühlen als Scham

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