Im Oktober 2014, nach den Parlamentswahlen in Schweden, geschah etwas Außergewöhnliches. Die neu berufene Außenministerin Margot Wallström verkündete als erstes Land weltweit eine Feministische Außenpolitik. Viele Beobachter:innen trauten ihren Ohren nicht – wie konnte Schweden das ernst meinen, vor allem zu einer Zeit, in der sich Russland gegenüber Schweden und den baltischen Staaten immer aggressiver verhielt?
Wenige Monate nachdem Russland völkerrechtswidrig die Krim annektiert hatte – war das nicht etwas utopisch? Feministische Forderungen wurden sofort in die „naive“ Ecke gestellt, in der Pazifismus negativ konnotiert ist. Wer die Biografie Wallströms kannte, wunderte sich wahrscheinlich weniger. Denn die Schwedin war im Anschluss an ihre Position als Vizepräsidentin der Europäischen Kommission von 2010 bis 2012 die erste Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für sexualisierte Gewalt in Konflikten der Vereinten Nationen gewesen. Und sie hat selbst sexualisierte Gewalt durch einen Ex-Partner erfahren.
Ich habe keine Zeit für Cocktailpartys
Wallström ist seit Jahrzehnten eine entschlossene Aktivistin und Feministin. Mit Mitte zwanzig wurde sie bereits Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Schwedens. Wallström unterstützte 2017 den von der Zivilgesellschaft angestoßenen Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) und setzte sich – bislang erfolglos – dafür ein, dass ihr Land diesen ratifiziert.
Dies sorgte für viel Unmut bei befreundeten Nationen, die Teil der NATO sind, die auf nukleare (und konventionelle) Abschreckung setzt.
Doch Wallström ist eine Vordenkerin, und solche Frauen sind dafür bekannt, neue Wege zu gehen und das Konventionelle hinter sich zu lassen. „Ich habe nicht viel Zeit“, wird sie in einem Porträt der New York Times zitiert, „ich habe keine Zeit, auf Cocktailpartys rumzulaufen. Ich denke nicht, dass das die Arbeit einer:s Diplomat:in ist.“
Inzwischen gibt es weltweit sieben Staaten, die offiziell eine Feministische Außenpolitik beziehungsweise feministische Entwicklungspolitik oder feministische Diplomatie – im Folgenden werde ich von Feministischer Außenpolitik sprechen und in den spezifischen Länder-Unterkapiteln genauer spezifizieren – verkündet haben: Schweden, Kanada, Frankreich, Mexiko, Luxemburg, Spanien und Libyen.
Gefordert wird Feministische Außenpolitik aber auch durch Parlamentsfraktionen in den USA, in der EU und in Deutschland. In einigen Ländern verlangen Akteur:innen der Zivilgesellschaft lautstark eine Feministische Außenpolitik, wie beispielsweise in Indien oder klar auch in Deutschland, wo wir vom CFFP nicht zuletzt zur Bundestagswahl 2021 für eine Feministische Außenpolitik eintraten.
Patriarchale Strukturen zerschlagen
Während ich dieses Buch schreibe, wird aus zuverlässigen Quellen berichtet, dass Argentinien kurz davor stehe, eine Feministische Außenpolitik zu verkünden. Zudem legen Dänemark, Norwegen und die Schweiz einen deutlichen Schwerpunkt auf Gleichberechtigung in ihrer Außenpolitik. Auch die Mehrheit der Abgeordneten des EU-Parlaments stimmte im November 2020 für eine Feministische Außenpolitik (wobei das Parlament keine legislative Autorität hat und der Außenminister der EU, offiziell „Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik“, nicht so viel Gewicht hat). Die Abstimmung basierte auf einem Bericht der Grünen-Abgeordneten Hannah Neumann und Ernest Urtasun.
Um ihren Parlamentsreport bereitstellen zu können, beauftragten die beiden uns, CFFP, im Januar 2020, den ersten ausführlichen Bericht zu „Eine Feministische Außenpolitik“ für die Europäische Union zu schreiben. Meine Mitbegründerin Nina Bernarding und ich haben darin unsere Vision für eine feministische europäische Außenpolitik dargelegt.
CFFPs Arbeit zu Feministischer Außenpolitik liegt folgendes Verständnis zugrunde: Wir können nicht mit einer Außenpolitik des Business as usual fortfahren. Traditionelle Außenpolitik kann keine gerechten und wirksamen Lösungen zu den dringendsten globalen Krisen unserer Zeit wie Klimakrise, Menschenrechtsangriffe oder (nukleare) Aufrüstung entwickeln – denn bestehende Ungerechtigkeiten würden dadurch fortgeschrieben. Nur neue Ansätze, Perspektiven und eine neu ausbalancierte Machtdynamik – eben eine Feministische Außenpolitik – können nachhaltigen Frieden und eine Welt schaffen, in der niemand zurückgelassen wird.
Kernprinzipien sind ein umfassendes und inklusives Verständnis von Gender, Intersektionalität, Antirassismus sowie innen- und außenpolitische Kohärenz. Feministische Außenpolitik gründet auf Menschenrechten und wird von der Zivilgesellschaft mitformuliert. Sie ist transparent, antimilitaristisch und auf Klimagerechtigkeit und Kooperation statt Herrschaft über andere ausgerichtet. Feministische Außenpolitik möchte patriarchale Strukturen innerhalb von Außen- und Sicherheitspolitik zerschlagen.
Bei CFFP definieren wir Feministische Außenpolitik als politisches Rahmenwerk, das für das Wohlergehen marginalisierter Menschen nötig ist. Feministische Außenpolitik lässt die Betonung von militärischer Gewalt, Gewalt und Dominanz hinter sich und formuliert ein alternatives und intersektionales Verständnis von Sicherheit aus der Perspektive der Schwächsten. Sie zielt darauf ab, Erfahrungen und Handlungsfähigkeit von Frauen und marginalisierten Gruppen zu verbessern.
Destruktive Kräfte wie Patriarchat, Kolonialisierung, Heteronormativität, Kapitalismus, Rassismus, Imperialismus und Militarismus werden enttarnt und gerechte Alternativen aufgezeigt. Schauen wir uns einmal an, wie unterschiedlich dieser Ansatz in den bereits Feministische Außenpolitik praktizierenden Ländern gelebt wird.
Wie Schweden seine Außenpolitik umkrempelte
Obwohl Schweden bereits 2014 seine Feministische Außenpolitik einführte, dauerte es noch bis 2018, bis die Regierung ihr Handbuch zu Schwedens Feministischer Außenpolitik veröffentlichte. Ein Jahr nach der Publikation dieses Handbuchs traf ich bei einem kleinen Meeting auf eine ranghohe Vertreterin der schwedischen Regierung.
Ich fragte sie nach ihren Erfahrungen mit der Realisierung der Feministischen Außenpolitik. Neben all den Erfolgen war sie so ehrlich zu sagen: „Weißt du, wir haben das Auto bereits gefahren, während wir noch dabei waren, es zusammenzubauen.“
Obwohl 2014 noch nicht alles komplett durchdacht war, fuhr man schon mal los. Das ist in Ordnung und sogar notwendig, um andere mitzuziehen und vor allem Wandel zu betreiben. Denn würde man immer erst so lange warten, bis alle Fragen geklärt sind, würde man wohl nie loslegen. Seit der Verkündung konnten Akteur:innen der feministischen Zivilgesellschaft die schwedische Regierung dadurch in die Verantwortung nehmen und fordern, dass das Land tatsächlich feministisch agiert.
Das Handbuch erklärt, worum es bei Schwedens Außenpolitik geht. Im Zentrum stehen die drei R, nämlich Rechte, Repräsentation und Ressourcen: die Förderung der Menschenrechte aller Frauen und Mädchen (Rechte), faire Beteiligung von Frauen und Mädchen in allen Entscheidungspositionen (Repräsentation) und das Bereitstellen von ausreichend Ressourcen, um Gleichberechtigung zu ermöglichen (Ressourcen). Ergänzt wird es um ein viertes R, es steht für Realität. Denn das gesamte Vorgehen beruhe auf Empirie und Fakten. Valerie Hudson und ihr Forscher:innenteam konnten empirisch zeigen, dass es keinen Frieden und keine Gewaltlosigkeit geben kann, solange patriarchale Strukturen bestehen bleiben. Das ist folglich die wahre „Realität“ und nicht das, was Morgenthau oder Kissinger als solche bezeichnen.
Schweden hat seine Außenpolitik in drei Bereiche aufgeteilt: erstens klassische Außen- und Sicherheitspolitik; zweitens Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sowie drittens Handelspolitik. Der Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik umfasst die Themenkomplexe Frieden und Sicherheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie Abrüstung. In den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe fallen Klima, Umwelt und Geschlechtergerechtigkeit; zur feministischen Handelspolitik gehört nachhaltiges Wirtschaften.
Das internationale Fundament
Die Strategien sind auf mehrere Jahre angelegt, die konkreten Unterziele werden in Aktionsplänen definiert: Der aktuelle Aktionsplan 2019 bis 2022 konzentriert sich darauf, alle Menschenrechte für Frauen und Mädchen zu verwirklichen; physische, psychologische und sexualisierte Gewalt gegen sie zu verbannen und sie an der Prävention und dem Lösen von Konflikten zu beteiligen. Außerdem sollen Frauen und Mädchen an allen Bereichen der Gesellschaft teilhaben, sie sollen ökonomisch empowered werden, und es soll für ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte gesorgt werden.
Die Feministische Außenpolitik Schwedens entstand selbstverständlich nicht im luftleeren Raum, sondern basiert auf wichtigen internationalen Vereinbarungen. Zu diesen zählen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Frauenrechtskonvention CEDAW, die Aktionspläne der Pekinger Aktionsplattform (1995) und die International Conference on Population and Development in Kairo 1994, aber auch die Women, Peace and Security Agenda inklusive Sicherheitsratsresolution 1325, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Agenda 2030) sowie die Gleichberechtigungsstrategie in den Außenbeziehungen der EU.
In Schweden gibt es eine Botschafterin für Geschlechtergleichstellung und eine Koordinatorin für Feministische Außenpolitik. Diese kombinierte Funktion unterstützt die Umsetzung von feministischen Analysen und Maßnahmen im gesamten Auswärtigen Dienst und leitet ein kleines Team (derzeit zwei Personen). Außerdem gibt es in allen Abteilungen innerhalb des schwedischen Außenministeriums und Auslandsvertretungen Focal Points für Feministische Außenpolitik. Sie fungieren als Anlaufstellen, Leiter:innen und Koordinator:innen vor Ort, aber jede:r Mitarbeiter:in ist dafür verantwortlich, bei ihrer oder seiner Arbeit die Geschlechterperspektive zu berücksichtigen.
Um dies zu unterstützen, hat das Außenministerium mehrere Instrumente entwickelt, darunter das bereits erwähnte Handbuch, einen Aktionsplan, der jährlich verfolgt und aktualisiert wird, eine thematische Website und E-Learning im Intranet usw. Das gesamte Regierungsbüro wird außerdem von einer Abteilung für Geschlechtergleichstellung unterstützt, die den Aufbau von Kapazitäten anbietet und sicherstellt, dass alle Ministerien bei ihrer Arbeit die Geschlechterperspektive einbeziehen.
Der Fall Raif Badawi
Den transformativen und fortschrittlichen Anspruch Feministischer Außenpolitik zeigte Margot Wallström beispielsweise im Frühjahr 2015. Damals kritisierte sie öffentlich die Frauen- und Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien und besonders das Auspeitschen des Bloggers Raif Badawi. Daraufhin wurde Wallström als Rednerin bei der Arabischen Liga ausgeladen. Schweden kündigte in der Folge ein Waffenabkommen mit Saudi-Arabien auf. Saudi-Arabien zog seinen Botschafter in Stockholm zurück, und schwedische Geschäftsleute verloren ihre Visa für das Königreich.
So manche „Expert:innen“ orakelten damals, Wallström und Schweden hätten sich dadurch jeglicher außenpolitischer Autorität beraubt. Man könne das Land nicht mehr ernst nehmen bei außenpolitischen Entscheidungen, die Wiederwahl als nicht ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat für den Zeitraum 2017 bis 2018 im Folgejahr sei damit erledigt.
Doch das Gegenteil trat ein: Schweden wurde in den Sicherheitsrat gewählt und rühmte sich nach Ende der zwei Jahre, in denen das Land Frauenrechte und Konfliktprävention auf die Agenda setzte, einiger Erfolge: Schweden habe sich besonders für die WPS-Agenda eingesetzt, indem es sicherstellte, dass die Agenda in allen Diskussionen und Entscheidungen eine Rolle gespielt habe. So hatte Schweden während der Präsidentschaft des Sicherheitsrats im Juli 2018 Geschichte geschrieben, da es ebenso viele weibliche wie männliche Sachverständige in den Sicherheitsrat einlud. Auch hat Schweden dafür gesorgt, die Verbindung zwischen der Klimakrise und Sicherheitsaspekten ernst zu nehmen, und entsprechende Debatten initiiert.
2015 initiierte Wallström auch das Swedish Women’s Mediation Network, um die Beteiligung von Frauen in Friedensprozessen zu erhöhen. Akteur:innen der schwedischen Zivilgesellschaft kritisierten jedoch, dass Schweden im Bereich der Konfliktprävention weder Abrüstung noch Nichtverbreitung (von Waffen) thematisiere oder dass es eine direkte Verbindung gebe zwischen der Verbreitung von Klein- und Leichtwaffen und männlicher Gewalt gegen Frauen.
Akteur:innen der heimischen feministischen Zivilgesellschaft kritisieren vor allem die anhaltenden Waffenexporte, die nicht zur offiziellen Agenda einer Feministischen Außenpolitik passen. Denn Schweden liefert weiterhin Waffen in Konfliktgebiete und Regionen, in denen Frauen sogar ihre grundlegendsten Menschenrechte verweigert werden. Zu den Staaten, die 2018 Militärausrüstung aus Schweden erhielten, gehören Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, Kuwait, Bahrain und Katar – Länder, die in den bewaffneten Konflikt im Jemen verwickelt sind, der zu einer der größten weltweiten humanitären Krisen mit verheerenden Folgen für Frauen und Mädchen geworden ist. Durch Waffenexporte festigt Schweden eben jene patriarchalen und militarisierten Strukturen, die es durch eine Feministische Außenpolitik zu beseitigen gilt.
Der schwedische Vorsprung
Schwedens Feministische Außenpolitik fiel freilich nicht einfach so vom Himmel. Während eine derart umfassende progressive Politik im konservativen Deutschland noch schwer vorstellbar ist, war sie für die Schwed:innen sicherlich wenig überraschend oder gar ungewöhnlich. Schweden hat eine selbst ernannte feministische Regierung und ein weitverbreitetes feministisches Verständnis. Die Schweden sind uns Deutschen einige Jahrzehnte voraus: Schon seit 1971 werden Eheleute individuell besteuert – steuerliche Diskriminierung wie in Form des Ehegattensplittings wurde dort also vor Jahrzehnten bereits abgeschafft, während wir in Deutschland noch darum kämpfen. Schon 1974 führte Schweden als erstes Land für Mütter und Väter eine Elternzeit ein, die mit dem Elterngeld vergütet wurde. Die Bekämpfung männlicher Gewalt gegen Frauen ist offziell eine nationale Priorität. Seit 2007 gibt es einen Minister:innenposten für Gleichberechtigung.
Im September 2019 trat Margot Wallström wegen persönlicher Gründe vorzeitig als schwedische Außenministerin zurück. Wallström war (und ist weiterhin) in der feministischen Zivilgesellschaft sehr geschätzt als Frau, die feministische Werte wirklich verstanden hat und entsprechend agiert. Ann Linde, vormals Handelsministerin, folgte Wallström auf den Posten als Außenministerin. Sie genießt nicht ansatzweise eine ähnliche Reputation – Akteur:innen der schwedischen feministischen Zivilgesellschaft sagen, sie habe keine feministische Integrität und missachte Zivilgesellschaft, indem sie Unternehmen als wichtigere Akteure bei ihrer Politik berücksichtige. Dies zeigt, wie sehr Individuen über die Wirksamkeit von Politik entscheiden.
Trotz aller Kritik und anhaltender Unzulänglichkeiten war die Einführung der Feministischen Außenpolitik in Schweden als weltweit erstes Land bahnbrechend und bewirkte, dass Länder wie Kanada, Frankreich und weitere eine ähnliche Außenpolitik verkündeten. Schweden ist inspirierend für viele Staaten, hoffentlich – nach der Präsentation des Koalitionsvertrags der neuen Ampel-Regierung Ende 2021 scheint es so – auch für Deutschland.
Denn Wallström und Schweden waren mit der Verkündigung der schwedischen Feministischen Außenpolitik wirklich visionär. Sie bewiesen damit, dass Frauenrechte relevant für Krieg und Frieden sind. Dass Kooperation über Dominanz steht. Menschliche Sicherheit über militärischer. Und dass das Patriarchat internationale Politik bestimmt und damit Schluss sein muss.
Das Buch „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“ von Kristina Lunz ist am 24. Februar 2022 im Econ-Verlag erschienen. Lunz schreibt darin über militärische Muskelspiele, Mediation in Friedensverhandlungen und feministische Machtanalysen. 448 Seiten, ISBN: 9783430210539
Kristina Lunz ist eine deutsche Feministin, Aktivistin und Mitbegründerin des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP). Lunz wurde 1989 geboren und studierte am University College London und an der Universität Oxford Global Governance and Diplomacy. Bekannt wurde sie als Aktivistin mit Kampagnen zur Änderung des Sexualstrafrechts in Deutschland und „Stop Bild Sexism“. Lunz arbeitet für die Vereinten Nationen im Bereich der Extremismusprävention.
Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert