Jedes Jahr am Weltfrauentag stehe ich aufs Neue da und weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Lachen darüber, wie sinnlos und albern es ist, heute rote Rosen an Frauen zu verschenken – als „Zeichen des Respekts“. Heulen deswegen, weil dieser Tag doch eigentlich längst überflüssig sein sollte.
In diesem Jahr ist alles noch schlimmer als sonst. Ich habe keine Lust, Sekt zu trinken, mir ein pinkes T-Shirt überzuziehen und demonstrierend für Equal Pay oder Safe Spaces durch die Straßen zu ziehen. Weil ein Krieg geführt wird, nebenan.
Krieg schafft universelles Leid. Weil er Menschen trifft, egal welchen Geschlechts. Auch egal welcher Haut-, Haar- und Augenfarbe. Aber er trifft Frauen anders als Männer.
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Der Krieg in der Ukraine war gerade eine Woche alt, da waren schon mehr als eine Millionen Menschen geflohen. Darunter sind auch Männer, doch einen Großteil der Geflüchteten machen Frauen und Mädchen aus (schon einen Tag nach Kriegsbeginn hatte der ukrainische Präsident Selenskyj allen ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise verboten).
Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen, und das will ich auch gar
nicht. Natürlich ist es geradezu grotesk, die eine Hälfte einer Bevölkerung nur aufgrund ihres männlichen Geschlechts zum Bleiben zu zwingen, während der anderen Hälfte „gestattet“ wird, zu fliehen, nur, weil sie weiblich ist. Alles an diesem Satz klingt falsch. Trotzdem sind Frauen und Mädchen besonders vulnerabel auf der Flucht: „Schon alltägliche Tätigkeiten wie Wasser holen oder zur Toilette gehen können vertriebene Frauen und Mädchen der Gefahr von Missbrauch aussetzen“, schreibt etwa das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR.
Selbst in der großen Welle der Solidarität, mit denen die ersten ukrainischen Geflüchteten etwa am Berliner Hauptbahnhof in der vergangenen Woche begrüßt wurden, zeigt sich die besondere Gefahr, denen Frauen und Mädchen auf der Flucht ausgesetzt sind. Menschenhandel, dubiose Angebote, das Ausnutzen von Hilfslosigkeit und Verzweiflung: All das blüht gerade wieder. Und bedroht: Frauen und Mädchen.
Und doch hören wir die weibliche Perspektive selten. „Es gab schon Tausende Kriege – kleine und große, bekannte und unbekannte. Und Bücher darüber gibt es noch mehr“, schreibt die in der Ukraine geborene und in Weißrussland aufgewachsene Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. „Aber … Das haben Männer über Männer geschrieben. Alles, was wir über den Krieg wissen, wissen wir von Männerstimmen. Wir sind Gefangene der ‚männlichen‘ Vorstellungen und der ‚männlichen‘ Empfindungen. ‚Männlicher‘ Worte. Die Frauen aber schweigen.“
„Ich erinnere mich an keine Vögel und an keine Blumen“
Diese Analyse hat immer noch Gültigkeit. Wenn auch nicht völlig uneingeschränkt. Aber es sind vor allem Männer, die das Narrativ dieses Krieges erzählen. Allen voran Wladimir Putin auf der einen Seite, als kalter, alter weißer Mann, den der Sinn für die Realität verlassen zu haben scheint, der sich einmauert in seinen Großmachtfantasien und damit die Welt terrorisiert – und Wolodymyr Selenskyj auf der anderen Seite, den der Westen plötzlich liebt, der sich als nahbarer Vertreter seines Volkes und als moderner Mann präsentiert, als sympathischer Freiheitskämpfer Europas. Wolodymyr Selenskyj: das neue Sexsymbol der westlichen Welt.
„Wenn die Frauen erzählen, finden wir nie oder fast nie, was wir sonst ohne Ende hören oder schon überhören: Wie die einen heroisch die anderen töteten oder siegten. Oder unterlagen“, schreibt Alexijewitsch. „Nichts über die Technik oder die Generäle. Die Erzählungen der Frauen sind anders, sie erzählen anders. Der ‚weibliche‘ Krieg hat seine eigenen Farben und Gerüche, seine eigenen Empfindungen und seinen Raum für Gefühle. Seine eigenen Worte.“
Darum geht es in Alexijewitschs Buch: Es ist eine riesige Sammlung bestehend aus Protokollen von Frauen im Krieg. Von solchen, die in Russland gegen die Deutschen selbst gekämpft haben. Auch wenn die Erlebnisberichte aus dem Zweiten Weltkrieg stammen, der mit nichts zu vergleichen ist, überdauern diese Worte die Zeit. Weil sie so existentiell sind und ein Leben unter Umständen beschreiben, wie keine:r von uns sie sich vorzustellen vermag.
Was also erzählten diese Frauen Alexijewitsch, die mehr als 500 befragte nach ihren Erfahrungen, Jahrzehnte, nachdem das Erlebte stattgefunden hatte? Geschichten wie die folgenden:
„Drei Jahre im Krieg – ich war drei Jahre lang keine Frau. Mein Organismus war tot. Ich hatte keine Menstruation, kein weibliches Verlangen. Dabei war ich schön.“
„Hören Sie zu. Solange der Krieg gedauert hat, sehr lange … Ich erinnere mich an keine Vögel und an keine Blumen. Es gab natürlich welche, aber ich erinnere mich nicht daran. So was … Merkwürdig, nicht? Können Kriegsfilme etwa farbig sein? Dort ist alles schwarz … Nur das Blut nicht … Nur das Blut ist rot …“
„Es ist schwer, ganz plötzlich auf das normale Leben zu verzichten“
„Ich erwartete das zweite Kind. Mein Sohn war drei Jahre alt, und ich war wieder schwanger. Da kam der Krieg. Mein Mann war an der Front. Ich fuhr zu meinen Eltern und machte … Na ja, verstehen Sie? Eine Abtreibung. Obwohl das damals verboten war … Aber jetzt noch ein Kind? Es war Krieg! Überall Tränen … Ich absolvierte eine Ausbildung als Chiffriererin und wurde an die Front geschickt. Ich wollte Rache für mein Kind, dafür, dass ich es nicht geboren hatte. Es war nicht auf die Welt gekommen. Es wäre ein Mädchen geworden.“
„Ich wache noch heute nachts auf … Und mir scheint, als würde … als würde da jemand weinen … Ich bin im Krieg … Wir waren auf dem Rückzug … Hinter Smolensk bringt mir eine Frau ein Kleid, ich ziehe mich schnell um. Ich war allein … unter lauter Männern … Mal trug ich Hosen, mal ein Sommerkleid. Plötzlich kriegte ich … Naja, eben … Die Frauensache … Zu früh, wahrscheinlich durch die Aufregung. Wo sollte ich was hernehmen? Ich schämte mich! Wie ich mich schämte!“
„Es ist schwer, ganz plötzlich auf das normale Leben zu verzichten, wie es vorher war. Ich wollte noch nicht an den Krieg denken. Nicht nur Herz und Verstand, der ganze Organismus sträubte sich dagegen. Ich wollte diesen Geruch nicht in mich eindringen lassen … Den Geruch der Angst … als ich anfing, an den Tod zu denken, war ich sehr einsam …“
Diese drei Reporterinnen sind lesenswert, wenn es um den Ukraine-Krieg geht
Wer sich fragt, wie es den Frauen und Mädchen im Ukraine-Krieg geht, wer – speziell am Weltfrauentag, aber auch an allen anderen Kriegstagen – keine Lust hat, vorwiegend Männern zuzuhören, seien es die Akteure dieses Krieges selbst oder die vielen männlichen Berichterstatter, der und dem will ich folgende Reporterinnen empfehlen:
Rebecca Barth zum Beispiel. Sie berichtet gerade aus der Ukraine, hat aber auch schon vor Ausbruch des aktuellen Krieges Geschichten von dort geschrieben. So wie dieser Beitrag hier. Er handelt von einer Krankenschwester, die seit acht Jahren im Krieg in der Ostukraine gearbeitet hat, in einem kleinen Dorf direkt an der Front. Das Portrait ist im Januar in der Zeitschrift Geo erschienen. Man findet Rebecca Barth auch auf Twitter, wo sie gewollt auf großes Kriegspathos verzichtet, dafür aber solche Eindrücke teilt: „Heute früh kamen Hunderte Geflüchtete aus Kiew in Lwiw an, darunter viele Kinder. Die Gesichter blass und angespannt. Lebensmittel werden knapp, berichten sie. Nudeln oder Brot gäbe es kaum mehr in der Hauptstadt.“
Alexandra Rojkov, die in Russland geboren wurde, ihren Wohnsitz in Berlin hat, aber als Spiegel-Reporterin in der Welt unterwegs ist, und nun eben in der Ukraine. Rojkov beschäftigt sich mit jenen, die diesen Krieg tragen müssen: den Menschen vor Ort. Solchen, die gehen, aber auch jenen, die bleiben. So wie die Menschen aus diesem Text, für den Rojkov der Frage nachgegangen ist, wie sich die Ukrainer:innen im Landesinneren, abseits der umkämpften Großstädte Kiew und Charkiw, auf den russischen Einmarsch vorbereiten. Rojkov erzählt von der 36-jährigen Deutsch-Professorin Olena Biletska, die nicht fliehen will: „Biletska“, schreibt Rojkov, „eine ernste, aufmerksame Frau, hat dunkle Schatten unter den Augen – seit Tagen rennt sie alle paar Stunden in den Keller ihres Wohnhauses, auch in der Nacht. Nicht nur in Kiew gibt es Raketenalarm, sondern in fast allen großen Städten der Ukraine. So auch in Winnyzja, im Zentrum des Landes, wo Biletska lebt. ‚Und wo ich bleiben werde‘, sagt sie bestimmt. ‚Egal, was kommt.“
Olivia Kortas. Sie ist ebenfalls internationale Reporterin, berichtet aktuell von der polnisch-ukrainischen Grenze. Auf Twitter teilt sie ihre Eindrücke, für dieses Stück hat sie mit dem Fotografen Adam Lach Kurzportraits von jenen Menschen erstellt, die sich nach Kriegsbeginn auf die Flucht begeben haben und die die beiden Reporter:innen an der Grenze getroffen haben. Besonders berührt hat mich in dieser Portraitsammlung die Geschichte von Irwina. Kortas schreibt: „Irwina, 28, aus Luzk reiste gestern Nacht mit ihren Freundinnen aus Warschau an. Sie sind hier, um ihre Kinder abzuholen. Als Irwinas Tochter ihre Mutter sieht, ruft sie: ‚Mama!‘ Und wirft sich ihr an den Hals. Irwina hebt sie sie hoch und umarmt sie.“
Krieg schafft universelles Leid, ja. Und unterschiedliche Perspektiven. Es ist gut und wichtig, sie alle zu hören.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger