Die Autorin trinkt abends eine Tasse Tee, während er auf der Suche nach einem verlorenen Konvoi mit medizinischen Hilfsgütern ist - im abgelegenen Bezirk Zibok (1996).

© Sippi Azarbaijani Moghaddam

Geschlecht und Gerechtigkeit

Wie ich nach 20 Jahren die Taliban-Show durchschaut habe

Seit den Neunzigern erforsche und bereise ich als Frau Afghanistan. Heute glaube ich: Viele im Westen haben den Erfolg der Taliban nicht kapiert. In diesem Text erkläre ich, wie es dazu kam.

Profilbild von Sippi Azarbaijani Moghaddam

Es war April 1995, ich war gerade dabei, mich für meinen ersten Freiwilligendienst bei einer britischen Hilfsorganisation in Afghanistan vorzubereiten. Erste Station meiner Vorbereitung: London. Dort sollte ich den Afghanistan-Direktor der Nichtregierungsorganisation (NGO) treffen, für die ich arbeiten würde. Nun saß ich ihm in einem kleinen Büro gegenüber. Mein Vater war in den Siebzigerjahren nach Afghanistan gereist und liebte das Land. Seine Geschichten hatten mich verzaubert. Nach Jahren des Träumens würde ich mich nun endlich selbst auf den Weg machen.

Ich war nervös und wusste nicht, was ich erwarten sollte. Würde ich die von Krieg zerrissene Nation vorfinden, von der ich in den Zeitungen gelesen hatte? Oder das Land, das ich mir seit Jahren vorstellte und auf Fotos von Roland und Sabrina Michaud bewundert hatte, jenen beiden Fotografen, die in den Siebzigern durch Afghanistan gereist waren und den Reichtum an Landschaften und Gesichtern eingefangen hatten? Ich fragte den Direktor nach der Bedrohung durch die Taliban. Er sagte: “Sippi, bis die Taliban Afghanistan eingenommen haben, werde ich tot sein und du eine alte Frau.”

Wie sehr er sich irrte.

Damals, in den 1990er Jahren, wurden die Taliban lediglich als eine von mehreren Mudschaheddin-Fraktionen betrachtet, jene muslimischen Kämpfer, die sich gesammelt hatten, um die Sowjetarmee aus Afghanistan zu vertreiben. Viele dachten, sie seien so extrem, dass ihre frühen Erfolge nur von kurzer Dauer sein könnten und ohne große Konsequenzen bleiben würden. Ich vergaß die Taliban schnell.

Damals war ich 25 Jahre alt. Keine zwei Jahre später, Ende 1996, lebte ich noch immer in Afghanistan – und die Taliban hatten einen Großteil des Landes eingenommen. Doch das sollte nicht das Ende der Geschichte sein: Nach dem 11. September 2001 marschierten Truppen der USA, Großbritanniens und der NATO in Afghanistan ein. Sie vertrieben die Taliban und installierten eine neue Regierung. Doch die Taliban verschwanden nie wirklich. Und das neue Regime hielt nicht.

Dann kam der August 2021. Und mit ihm das, was ich lange befürchtet hatte: Wieder waren die Taliban an der Macht. Städte, Stützpunkte und jede Form des Widerstands kollabierten wie so viele Dominosteine vor ihnen.

Ich war schockiert, Männer in Anzügen zu sehen

Ich hatte Afghanistan schon seit einiger Zeit aus der Ferne studiert, bevor ich 1995 auf einem staubigen Flugplatz landete. Meine Arbeit begann in Faizabad, Badakhshan, einem konservativen Hinterland im abgelegenen und gebirgigen Nordosten des Landes. Es wurde hauptsächlich von Tadschiken bewohnt, wobei auch andere ethnische Gruppen vertreten waren, wie Paschtunen und Usbeken. Vor dem Krieg gegen die Sowjetarmee war das Land arm gewesen. Aber nach dem Krieg war das wenige, was an Infrastruktur gebaut worden war, zerstört. Um es wieder aufzubauen oder gar eine Verwaltung zu installieren, fehlte das Geld.

Eine karge Berglandschaft und eine Frau auf einem Esel.

1996 bereiste ich das Hinterland Afghanistans, um dort Feldforschung zu betreiben. Ich führte eine Umfrage unter Müttern zur Gesundheit ihrer Kinder durch. Ein gängiges Reisemittel für mich: der Esel. © Sippi Azarbaijani Moghaddam

In all meinen Jahren in Afghanistan war ich immer wieder verblüfft über die Zahl der Gemeinden, in denen es nie eine Schule, eine Klinik oder ein Regierungsgebäude gegeben hat. In Badakhshan etwa sah ich Kinder mit leeren Ölkanistern auf dem Rücken, die Tierkot einsammelten, um ihn zu Hause zu verbrennen. In Kabul begegneten mir Erwachsene und Kinder beim Herumstochern in Müllbergen, auf der Suche nach Essbarem und nach wiederverwendbaren Materialien.

Die kleine Stadt Faizabad, die vom reißenden und lärmenden Fluss Kokcha in zwei Hälften geteilt wird, war voller Männer mit langen Bärten und halbautomatischen Gewehren. Die Frauen hingegen liefen auf öffentlichen Plätzen alle in Burkas herum. Ich fand schnell Freundinnen unter ihnen, da ich zu diesem Zeitpunkt die einzige Ausländerin dort war. Wenn ich von einer von ihnen auf dem Basar angesprochen wurde, konnte ich die Stimme nicht immer erkennen, also kroch ich unter ihre Burka, um zu sehen, wer sie waren, und wir unterhielten uns in unserem abschirmenden blauen Zelt.

Aber die Unterschiede zwischen den kleineren Dörfern und der Hauptstadt Kabul konnten sehr groß sein. Einmal, bei einem Besuch in Kabul vor der Taliban-Machtergreifung, war ich schockiert, dass dort Männer in Anzügen in Büros saßen und Frauen in den Ministerien arbeiteten. In meinem Büro in Faizabad durfte ich nicht einmal weibliche Besucher empfangen, und ich hatte dort noch nie einen Mann im Anzug gesehen. Als die Taliban 1996 in Kabul ankamen (ich lebte damals in der Hauptstadt), brachten sie Regeln für einen Alltag mit, den ich bereits von Badakhshan kannte.

Nach meinem ersten Freiwilligendienst arbeitete ich für eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen in den von den Taliban kontrollierten Gebieten. Ab Anfang 1997 reiste ich mit einem afghanischen Fahrer durch das ganze Land, arbeitete in der Entwicklung des ländlichen Raums und konzentrierte mich dabei oft auf die Unterstützung von Frauen.

Das war alles sehr ungewöhnlich. Als ich in Afghanistan zu arbeiten begann, war die Atmosphäre oft angespannt und ich war ängstlich wegen der Taten einiger lokaler Befehlshaber: Mord, Vergewaltigung und Plünderungen. Aus Angst vor Vergewaltigung reiste ich nie allein. Ich wurde an Kontrollpunkten angehalten, wo Milizen Geld verlangten oder versuchten, Dinge aus meinem Gepäck zu stehlen.

Doch unter den Taliban änderte sich die Lage langsam. Sie hatten nichts dagegen, dass ich Mitarbeiterinnen zur Arbeit in die Dörfer begleitete, und sie unterstützten begrenzte Aktivitäten für Frauen.

Natürlich mussten die Frauen Burkas tragen, und ihre Aktivitäten mussten sich im Rahmen des Islam bewegen, wie ihn die Taliban auslegten. Aber in der Zeit vor den Taliban – als ein Großteil Afghanistans von einer Reihe von Mudschaheddin-Kriegsherren regiert worden war – war es gefährlich gewesen, Mitarbeiterinnen auf Reisen mitzunehmen. Frühere Projektleiter:innen aus 1980ern, mit denen ich gesprochen habe, hatten zum Beispiel große Schwierigkeiten, Zugang zu den Frauen in den Gemeinden zu bekommen. Einige hatten außerdem Mühe, die Eltern zu überzeugen, dass Mädchen unterrichtet werden sollten, selbst wenn es nur um Heimunterricht ging. Aber auch dies begann sich Ende der 1990er allmählich zu ändern. Einige NGOs wurden von den Gemeinden gebeten, Schulen für Mädchen zu errichten. Ich arbeitete für eine dieser NGO – und wir bauten auch nach der Machtübernahme der Taliban weiter Schulen für Mädchen.

Der Innenhof eine Gehöfts. Im Hintergrund stehen grüne Bäume, davor drei Frauen die heiter und gelassen in die Kamera blicken.

Im ländlichen Afghanistan herrscht Geschlechtertrennung: Die Frau darf das Haus nur in männlicher Begleitung verlassen. In Faizabad aber lernte ich 1995 Frauen kennen, die Gemüse anbauten. © Sippi Azarbaijani Moghaddam

Auf dem Höhepunkt der Taliban-Macht in den späten 1990er Jahren war ich oft in Kabul, um über die Beteiligung von Frauen an Projekten zu verhandeln. Während dieser Zeit traf ich Taliban-Minister, Gouverneure, Kommandeure, Fußsoldaten und die gefürchtete „Laster- und Tugendpolizei“.

Es war keine leichte Zeit für meine afghanischen Kollegen und mich. Aber wir schlugen uns irgendwie durch. Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 setzte ich meine Arbeit mit NGOs fort, auch mit den Vereinten Nationen, mit Geldgebern, der NATO, der Weltbank und der afghanischen Regierung. Ich reiste weiterhin und mein Interesse an den Taliban wuchs, vor allem, wenn ich daran dachte, was ich zwischen 1996 und 2001 erlebt hatte.

Ich begann, intensiver darüber nachzudenken, wie die Taliban dargestellt wurden und dass die Situation nicht so schwarz-weiß war, wie viele in der internationalen Gemeinschaft sie darstellten. Ich bemerkte, dass meine Erfahrungen ganz andere waren als die „offizielle Darstellung“ der Taliban – und ich begann, mich zu fragen, warum das so war. Ich überlegte, ob eine andere Einordnung der Taliban zu anderen Ergebnissen für Afghanistan geführt hätte.

Eine Bewegung für stürmische Zeiten

Mir stellten sich Fragen über die Identität der Taliban und darüber, wie sie sich von anderen Mudschaheddin-Gruppierungen unterschieden. Ahmad Shah Massoud zum Beispiel, der fotogene Anführer von Jamiat-I Islami, einer der mächtigsten afghanischen Mudschaheddin-Gruppen, war ein typischer Mudschaheddin-Warlord – ein charismatischer Redner, überlebensgroß.

Im Gegensatz dazu war Mullah Omar, der 2013 verstorbene Gründer und ursprüngliche Führer der Taliban, ein Einsiedler. Er hatte während des Krieges gegen die Sowjets ein Auge verloren. In diesem Sinne erinnerte er mich an andere, mystische Figuren aus der Vergangenheit der Region, wie Al-Muqanna („der Verhüllte“). Geboren im Afghanistan des achten Jahrhunderts führte Al-Muqanna eine Volksrebellion gegen die herrschende Abbasiden-Dynastie an.

Die Anhänger von Al-Muqanna trugen weiße Kleidung, wie die Taliban in jenen frühen Jahren. War das ein Zufall? Wiederholte sich die Geschichte? Für die Massen machte all dies die Taliban noch seltsamer, für manche aber auch attraktiver.

Ich begann zu recherchieren, wie die Taliban Ereignisse – in der Regel gewalttätige – nutzten, um ihre Macht zu inszenieren. Mir wurde klar, dass es sich nicht einfach um Gewalt um der Gewalt willen handelte. Sie wurde gezielt ausgeübt, um auf ein bestimmtes Publikum zu wirken und eine Botschaft zu vermitteln, bei der es in der Regel darum ging, die Macht und Legitimität der Taliban zu demonstrieren.

Diese Art der gewalttätigen „Performance“, so wurde mir klar, war ihre „Sprache“. Wenn wir ihre Handlungen als simpel, brutal, rückständig oder frauenfeindlich ansehen, wie es viele tun, verpassen wir die Möglichkeit zu lernen, wie wir ihnen auf diesem speziellen Schlachtfeld begegnen können. Und es ist ein Schlachtfeld, auf dem niemals jemand anderes auf Dauer gesiegt hat, wie die Rückeroberung der Taliban 2021 der Welt zeigte.

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Man muss daran denken, dass die Taliban in einer äußerst gewalttätigen Phase der afghanischen Geschichte entstanden sind. Alle großen Gruppierungen waren an Morden, Vergewaltigungen und Plünderungen in einem alarmierenden Ausmaß beteiligt.

Nach der Entstehungsgeschichte der Taliban wurde Mullah Omar um Hilfe gebeten, nachdem Kriegsherren junge Mädchen an einem Kontrollpunkt vergewaltigt hatten. Die Taliban entstanden also als Selbstjustiz gegen lokale Kommandeure in der südlichen Provinz Kandahar, als dort die Verdorbenheit und die Gewalt unerträglich wurden. Für Westler, die von der täglichen Gewalt unter den Mudschaheddin abgeschirmt waren, unterschieden sich die Taliban nur dadurch von den anderen, dass sie ihre Gewalt öffentlich zur Schau stellten. Andere Gruppierungen entführten, vergewaltigten, folterten und exekutierten – allerdings oft jenseits der Aufmerksamkeit des Westens.

Die Autorin posiert mit verschränkten Armen vor einem Geländeagen von zwei Männern flankiert. Sie lächelt.

In Afghanistan allein als Frau zu reisen, ist nicht ungefährlich. Dieses Bild zeigt mich bei der vorsorglichen Evakuierung aus Faizabad, nachdem die Taliban 1996 Jalalabad eingenommen hatten. © Sippi Azarbaijani Moghaddam

Kurz bevor Kabul 1996 fiel, trafen Truppen der Junbish-Fraktion, einer türkischen politischen Gruppierung, in der Stadt ein, so erinnere ich mich. Sie waren gekommen, um die Jamiat-Kräfte zu unterstützen. Diese älteste muslimische Partei in Afghanistan war dabei, Kabul zu verlieren. In der Bevölkerung war die Angst spürbar, besonders unter den Frauen. Die Menschen erinnerten sich an die Entführungen, an die Vergewaltigungen und die verstümmelten Leichen aus früheren Zeiten, als der Dschihad in den Vororten Kabuls gewütet hatte. Gewalt war immer eine düstere Hintergrundmusik gewesen im Leben der Menschen.

Wenn ich zurückblicke, ist es klar, dass die Taliban schon früh bildgewaltig und performativ im öffentlichen Raum präsent waren – und das gab ihnen Macht. Sie sagten den Leuten zum Beispiel nicht einfach: Schneidet eure Haare kurz. Sie packten die Leute und schnitten ihnen mit Gewalt die Haare ab. Sie hatten auch einen Stock dabei, um zu kontrollieren, ob die Männer ihren Genitalbereich wie vorgeschrieben rasierten. Ihre Handlungen drückten Herrschaft aus und Autorität. Sie haben die afghanische Gesellschaft durch ihren Schrecken tief geprägt. Jede Geschichte, die Afghanen seither erzählen, geht auf etwas zurück, das ihnen unter den Taliban widerfahren ist. Sie drangen in die Köpfe der Menschen ein.

Die Taliban-Bewegung entstand aus einem langfristigen Prozess der Bildung, der Transformation und des Zusammenbruchs des afghanischen Staates , wodurch das afghanische Volk in Armut zurückblieb und ein blutiger Bürgerkrieg tobte. Was mir im Nachhinein klar geworden ist: dass die Taliban durch gewaltsame Inszenierungen von Macht, Herrschaft und Gerechtigkeit einen politischen Raum geschaffen hatten, der nur ihnen gehörte. In vieler Hinsicht imitierte später der IS in Syrien und im Irak das Verhalten der Taliban in dieser frühen Periode, einschließlich der Zerstörung von Altertümern.

Der Soziologe Jeffrey Alexander, der Macht und Inszenierung während des Arabischen Frühlings und während der Unruhen um den 11. September analysiert hat, stellt fest, dass die Grundlage für politische Macht ist, kulturelle Elemente zu mobilisieren und das Publikum damit zu bewegen.

Die Taliban sind Meister in dieser Aufführung, verbunden mit einer visuellen und ins Mark gehenden Sprache. Sie vereinen gemeinsame Erzählungen und Überzeugungen aus der afghanischen Geschichte und Kultur in der muslimischen Zeit. Und sie schaffen auf diese Weise neue Geschichten darüber, wer sie sind und welchen Staat sie schaffen wollen.

Vor allem drei Ereignisse zeigen, dass die Taliban diese Art der Performance beherrschen. Sie markieren auch wichtige Phasen in der Entwicklung der Taliban-Identität.

Erstens: der Mantel des Propheten

Eine der ersten derartigen Aktionen von Mullah Omar im Jahr 1996 war außergewöhnlich. Er entfernte eine heilige Reliquie aus einem Schrein in der Stadt Kandahar – der ehemaligen Hauptstadt, in der früher Kriege von mächtigen Imperien geführt worden waren (wie es etwa in dem Bollywood-Blockbuster „Panipat“ dargestellt wird).

Bei dieser Reliquie handelt es sich um einen Mantel, der nach muslimischer Auffassung Mohammed gehörte, dem heiligen Propheten des Islam. Mohammed soll den Mantel auf seiner berühmten Reise von Mekka nach Jerusalem getragen haben, die er laut der Erzählung um 621 n. Chr. in einer Nacht absolvierte. Ahmad Shah Durrani, der Gründer des Durrani-Reiches und des modernen Staates Afghanistan, hatte den Mantel schließlich im 18. Jahrhundert aus Buchara, dem heutigen Usbekistan, mitgebracht. Der Reliquie werden Wunder zugeschrieben.

Mullah Omar war ein kamerascheuer Mann. Untypisch, aber auch dramatisch sind daher die verwackelten und körnigen, geheimen Kameraaufnahmen, die ihn mit dem Mantel zeigen, den er vor einer großen Menschenmenge in Kandahar in die Höhe hält – die Arme in die Ärmel gesteckt.

Die religiösen Führer aus ganz Afghanistan und von ferner waren zusammengekommen. Die Taliban mussten entscheiden, ob ihr Kampf in Kandahar enden würde oder ob sie weiterziehen sollten, um Kabul zu erobern. Doch dann wurde Mullah Omar zum Amir ul-Mo’menin (Befehlshaber der Gläubigen) erklärt, was ihm die religiöse und politische Autorität verlieh, die Taliban nach Kabul zu führen und das Islamische Emirat Afghanistan zu errichten.

Indem er die Reliquie vor der versammelten Menge berührte, beanspruchte der Führer der Taliban muslimische und afghanische Legitimität durch die Verbindung seiner selbst mit dem Propheten Mohammed und Ahmad Shah Durrani. Mit dieser Aktion drückte Mullah Omar deutlich aus, dass er nicht allein durch die Macht der Waffe dorthin gelangt war und dass er viel mehr als ein gewöhnlicher Anführer einer Mudschaheddin-Fraktion war. Er stellte sich in die Linie der Nachfolger des Propheten Mohammed und der Durrani-Könige von Afghanistan. Er beanspruchte die moralische und religiöse Autorität, seine Arme in die Ärmel dieses verehrten Mantels zu stecken. Zwar galten auch die Mudschaheddin in ihrem Krieg gegen die Sowjetarmee als heilige Krieger; auch ihre Anführer hatten moralische Autorität beansprucht. Doch keiner von ihnen hatte das in so dramatischer und symbolischer Form getan wie Mullah Omar, vor einer Menge von Tausenden.

Die Reliquie war nur selten von der Öffentlichkeit gesehen worden, zuletzt hatte man sie Jahrzehnte zuvor während eines Cholera-Ausbruchs aus dem Schrein herausgeholt. Sie zu Gesicht zu bekommen, grenzte für die Versammelten daher an ein Wunder. Die Menge begann „Allah-o akbar“ (Gott ist groß) und „Amir al-Mo’menin“ (Befehlshaber der Gläubigen) zu rufen.

Zweitens: der tote Präsident

Auf einem Foto, das am Tag nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban Ende September 1996 wie eine Bombe einschlug, umarmen sich zwei junge Taliban-Fußsoldaten mit freudigen Gesichtern auf dem Aryana-Platz. Über ihnen hängen an einem Ampelarm die grotesk entstellten und blutverschmierten Leichen des ehemaligen Präsidenten Najibullah und seines Bruders.

Nachdem die Taliban in Kandahar ihre religiöse Glaubwürdigkeit unter Beweis gestellt hatten, versuchten sie, ihre Botschaften der Anti-Korruption und der Gerechtigkeit zu verbreiten. Das betraf vor allem die Stadt Kabul, die sie als einen Hort der Ungerechtigkeit betrachteten. Schon vor ihrer Ankunft in Kabul hatten die Taliban mit ihrer performativen Gewalt begonnen und damit gezeigt, dass sie beabsichtigten, über das Privatleben der Menschen zu bestimmen und es zu kontrollieren.

Fernseher, Videos und Musikkassetten wurden verboten – und das nicht nur per Erlass: Zerschlagene Fernseher baumelten an Taliban-Kontrollpunkten wie ausgestochene Augen, Kassettenbänder wehten im Wind wie die Innereien von ausgeweideten Tieren, hingerichtet und wie Trophäen zur Schau gestellt.

Tatsächlich stellte die Hinrichtung des ehemaligen Präsidenten die brutale und sehr öffentliche Botschaft der Taliban an die Bevölkerung dar, am ersten Morgen ihrer Herrschaft in der Stadt. Was sie damit sagten: Es würde keine Ausnahmen geben und jeder, der eine Strafe verdiente, würde sie bekommen.

Regimewechsel in Afghanistan verlaufen fast immer blutig. Vor den Taliban hatten die Kommandeure der Mudschaheddin viele Menschen getötet, doch das geschah im Geheimen, bei Attentaten oder in Feuergefechten. Es hatte noch nie eine öffentliche Hinrichtung einer prominenten Persönlichkeit gegeben, bei der die Leiche wie bei einem gewöhnlichen Verbrecher zur Schau gestellt wurde. Aber bei den Taliban gab es keine Bemühungen, die Ermordung und Folterung des ehemaligen Präsidenten zu verstecken, einem Präsidenten, der von vielen wegen seines Charismas geliebt wurde, der aber zugleich von denjenigen gehasst wurde, die zu Tausenden in Gefängnissen verschwanden ohne Hoffnung auf Freilassung.

Somit stellte die Ermordung des Präsidenten keine sinnlose, spontane Tötung das. Nadschibullah war ethnisch paschtunisch – wie die Taliban – und stand außerdem unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Als die Führer und Kommandeure der Mudschaheddin Kabul vor der Machtübernahme der Taliban verließen, hatten sie angeboten, ihn mitzunehmen. Doch er blieb. Er war zuversichtlich gewesen, dass er die Taliban umstimmen könne, weil sie auch Paschtunen waren.

Die Taliban hatten die Leichen des Präsidentens und seines Bruders kastriert, als weiterer Ausdruck von deren Machtlosigkeit in dem maskulinisierten öffentlichen Raum der Taliban. Drei Tage hatte man sie hängen lassen. Im Radio waren Ankündigungen gemacht worden und Tausende von Menschen versammelten sich, um die Szene mit Schock und Bestürzung zu beobachten. Das Spektakel von Nadschibullahs Hinrichtung war das erste von vielen. Es sollte die Bevölkerung von Kabul zur Unterwerfung zwingen und die Taliban als islamische Richter für Recht und Moral etablieren.

Drittens: zerstörte Altertümer

Eine der dramatischsten Aktionen der Taliban stellt die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan im zentralen Hochland von Afghanistan dar. Dieses Ereignis im Jahr 2001 machte die Taliban weltweit bekannt. Vor dem Krieg waren die Buddhas eine der berühmtesten Touristenattraktionen Afghanistans gewesen. Sie wurden als Artefakte von unschätzbarem Wert beschrieben – die größten stehenden Buddha-Statuen der Welt.

Im Jahr 2000 hatte der UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo gegen die Taliban verhängt, um sie zu zwingen, ihre Verbindungen zu Osama bin Laden abzubrechen und die Ausbildungslager für Terroristen in Afghanistan zu schließen. Daraufhin hatte Mullah Omar am 26. Februar ein Dekret erlassen, das die Beseitigung aller nicht-islamischen Statuen und Heiligtümer in Afghanistan befahl.

Wie zu erwarten, führte der Befehl zu einem internationalen Aufschrei. In seinen Memoiren schreibt der Taliban-Minister Abdul Salam Zaeef, die UNESCO habe 36 Briefe mit Einwänden gegen die geplante Zerstörung geschickt. Die chinesischen, japanischen und sri-lankischen Delegierten waren die lautstärksten Kritiker, die Japaner boten eine Reihe von Lösungen an, darunter auch Zahlungen. Die UNESCO, das New Yorker MET-Museum, Thailand, Sri Lanka und sogar der Iran boten an, die Buddhas zu kaufen. 54 Botschafter der Organisation der Islamischen Konferenz trafen sich und protestierten gegen die Zerstörung.

Der amerikanische Nachrichtensender CNN argumentierte, Ägypten etwa habe seine alten vorislamischen Denkmäler mit Stolz bewahrt. Ägyptens Präsident Husni Mubarak wiederum entsandte den Mufti der Republik, die oberste islamische Autorität des Landes, um die Taliban von der Zerstörung abzubringen.

Die 22 Mitglieder der Arabischen Liga verurteilten die Zerstörung als „grausamen Akt“. Der pakistanische Präsident Pervez Musharraf schickte seinen Innenminister Moinuddin Haider nach Kabul, um sich gegen die Zerstörung auszusprechen, mit der Begründung, sie sei unislamisch und beispiellos. Die südostasiatischen Medien reagierten tief schockiert. Die indischen Medien beschuldigten die USA, ihre Interessen an Öl und Gas über die Rettung der Buddhas zu stellen.

Die aufwändige Zerstörung der Statuen im Bamiyan-Tal begann am 2. März 2001 und erfolgte schrittweise innerhalb von 20 Tagen unter Einsatz von Flugabwehrkanonen, Artillerie und Panzerabwehrminen. Schließlich wurden Männer die Felswand hinuntergelassen, die Dynamit in die Hohlräume steckten, um so die letzten Überreste zu vernichten.

Um ein internationales Publikum und eine breite Medienberichterstattung sicherzustellen, wurden 20 Journalisten nach Bamiyan geflogen, um die Zerstörung zu beobachten und zu bestätigen. In der ganzen Welt wurden die Filmaufnahmen übertragen: Staubwolken, die aus den Nischen aufstiegen, in denen die zwei riesigen Buddha-Statuen über die Seidenstraße gewacht hatten. Und die internationale Gemeinschaft sah mit Entsetzen und Bestürzung zu.

Die Taliban hatten sich zuvor erfolglos bemüht, durch die internationale Gemeinschaft anerkannt zu werden. Die Zerstörung der Buddhas kann als symbolischer Akt interpretiert werden, der das Ende aller versöhnlicher Gesten verkündete.

Die Rückkehr der Taliban

Seit 1994 sind die Aktionen der Taliban immer Teil einer nonverbalen Kommunikation gewesen, mit der sie auf die Gespenster des Imperialismus, Kolonialismus, Neoimperialismus und Neoliberalismus antworteten.

Die Inszenierungen sind nicht zufällig. Im Gegenteil: Sie sind durchdacht. Sie können auf vielen Ebenen interpretiert werden. Eine davon: Sie spiegeln einen Diskurs wider, in den das westliche Publikum nicht eingeweiht ist.

Und sie wollen zeigen, wer sie sind, woher sie kommen. So sind die Aufnahmen von Taliban-Soldaten in der Kleidung der südlichen Paschtunenstämme zu erklären. Durch das Tragen traditioneller Kleidung, veralteter Frisuren und armseliger Sandalen senden sie eine Botschaft über ihre körperliche Widerstandsfähigkeit und über die Herkunft, die sie beanspruchen. Das ruft auch einen Hauch von Nostalgie hervor, für eine vergangene Zeit der Krieger, als die Paschtunen furchtbare Gegner waren.

Nach ihrem Einzug in Kabul 2021 posierten Taliban-Kämpfer und -Anführer für Fotos im Präsidentenpalast. Sie versammelten sich unter einem Gemälde, das die Krönung von Ahmad Shah Durrani zeigt. Obwohl einige kommentiert haben, dass dies nicht zur Identität der Taliban passe, würde ich behaupten, dass man nur auf ihre frühere Herrschaft zurückblicken muss. Meiner Ansicht nach haben die Taliban symbolisch eine politische Linie geschaffen, die bis zu Ahmad Shah zurückreicht. Und zwar, indem Mullah Omar in Kandahar mit dem bereits erwähnten Mantel des Propheten erschien. Aber die Bedeutung vieler Aktionen der Taliban wurde damals übergangen von Kommentatoren, die die Taliban nicht ernst nahmen.

Monate bevor die Taliban 2021 in Kabul einmarschierten, verfolgte ich, wie sie im Norden Mädchenschulen schlossen – auch das eine Machtdemonstration. Es war eine Aufforderung zum Kampf, eine Provokation, gerichtet an die afghanische Regierung. Das Schließen der Schulen zeigte nicht nur, dass die Taliban die Bildung von Mädchen ablehnten. Sie demonstrierten ihre Macht, indem sie einen der Fortschritte zunichte machten, den die afghanische Regierung der internationalen Gemeinschaft immer wieder als große „Errungenschaft“ präsentiert hatte. Vielleicht sollte die Aktion zudem ein Signal an freimütige afghanische Frauen und ihre Unterstützer senden, nach dem Motto: Wir, die Taliban, wollen euch nicht entgegenkommen, wenn es um Frauenrechte geht.

Eine junge Frau, von der Nacht umhüllt.

Diese junge Frau lernte ich 1995 kennen, als sie mir auf die Toilette folgte – um mir von ihren Problemen mit ihrem Mann zu berichten. © Sippi Azarbaijani Moghaddam

Ich wartete auf eine gleichwertige Reaktion der afghanischen Regierung, von Frauenrechtsaktivisten oder von der internationalen Gemeinschaft. Ein Team, das Verhandlungen führt; eine Militäreinheit, die die Schulen zurückerobert; das Angebot einer Ausbildung für die Mädchen an einem anderen Ort – zu diesem Zeitpunkt waren das afghanische und internationale Militär vor Ort und hätten zumindest eine Art symbolischer Geste machen können.

Doch nichts geschah. Niemand, so scheint es, hat die Art und Weise der Machtinszenierung der Taliban verstanden. Die einzige Reaktion war die übliche verbale Verurteilung in den sozialen Medien. Die afghanische Regierung zeigte sich machtlos und ließ diese Schulmädchen ebenso im Stich, wie sie schließlich auch den Rest der Bevölkerung im Stich lassen würde.

Wieder einmal sah die Welt zu, frustriert und verständnislos, während die Taliban Afghanistan zurückführten in die Zeit vor ihrem Sturz im Jahr 2001.


Der Text erschien ursprünglich auf Englisch am 30.11.2021 in The Conversation.

Übersetzung: Hans Böhringer, Bildredaktion: Till Rimmele, Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger

The Conversation

Wie ich nach 20 Jahren die Taliban-Show durchschaut habe

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