Du willst mir also erklären, warum Migrantenquoten prima sind und alte weiße Männer Rassisten?
Nein. Aber die Frage bringt uns direkt zum Kern des Themas: Was ist das eigentlich, Identitätspolitik? Ein Schimpfwort für Forderungen nach Gendersprache oder Quoten im Bundestag? Oder eine Art „Überbietungswettbewerb, in dem immer feinere und subtilere Diskriminierungsformen entdeckt werden“, wie neulich bei Zeit Online zu lesen war? Die meisten Menschen verbinden Identitätspolitik mit diskriminierten Minderheiten.
Hast du ein Beispiel?
Wenn Siri das N-Wort nicht mehr ausspricht und auch der Name des Musikers Ernst Neger zensiert wird oder Aktivist:innen nachzählen, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund im neuen Bundestag sitzen. In beiden Fällen waren die Autorinnen der Feuilletontexte der Meinung: Das ist Identitätspolitik.
Ist es ja auch. Allein aufgrund ihrer Herkunft soll eine Gruppe bevorzugt werden. Das ist doch unfair.
Aber wenn die CSU beschließt, dass in jeder bayerischen Behörde gut sichtbar ein Kreuz hängen muss, oder wenn sie Tanzverbote an christlichen Feiertagen fordert, könnte man das nicht ebenfalls Identitätspolitik nennen – für christliche Menschen?
Ich würde das nicht so nennen, nein.
So geht es wahrscheinlich nicht nur dir. Die politischen Forderungen von Schwarzen oder LGBTQIA+ gelten häufig als „Identitätspolitik“, die von weißen und heterosexuellen Menschen nicht, weil es sich um die Mehrheit handelt.
Das behauptest du.
Nein, auch in den Sozialwissenschaften werden sehr unterschiedliche Bewegungen als identitätspolitisch bezeichnet: die Frauenbewegung, die Arbeiter:innenbewegung, separatistische Bewegungen in Spanien und Kanada, postkoloniale Bewegungen in Afrika und sogar ethnische Konflikte im postkommunistischen Osteuropa.
Was haben die gemeinsam?
Man könnte sagen, Identitätspolitik beschreibt ein Streben bestimmter Gruppen nach Sichtbarkeit, Teilhabe und Selbstermächtigung im politischen Diskurs. Jede Gruppe, die ihre Interessen in der Politik vertreten sehen möchte, betreibt demnach im Grunde Identitätspolitik. Auch rechte und konservative Politiker:innen und Parteien.
Das glaube ich nicht. Die Sprechverbote und Quotendebatten, über die alle reden, kommen doch von links!
Ich komme darauf später nochmal zurück, versprochen. Aber damit wir nicht in den aufgeheizten Diskurs verfallen, den das Thema oft provoziert: Darf ich dir noch kurz etwas erklären?
Okay.
Der Begriff „Identitätspolitik“ kommt eigentlich aus den USA. Mitte des 19. Jahrhunderts befreite die Schwarze Spionin Harriet Tubman am Combahee River in Kalifornien über 100 afroamerikanische Sklaven, schreibt die Washington Post. 1977 veröffentlichte das von ihr inspirierte Combahee River Collective, eine Gruppe Schwarzer, lesbischer Feministinnen, ein Manifest, das den Begriff der Identitätspolitik prägte: „Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potenziell radikalste Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt.“
Was bedeutet das?
Die Aktivist:innen hatten damals den Eindruck, dass linke Politik vor allem von Weißen für weiße, männliche Industriearbeiter gemacht wurde. Die Belange von Schwarzen, queeren Frauen kamen dagegen nicht vor. Das wollten sie ändern.
Was hat das mit Identität zu tun?
Die Aktivist:innen glaubten, dass sie ihre Unterdrückungserfahrungen am besten gemeinsam thematisieren und zusammen gegen Ungerechtigkeit ankämpfen sollten. Identitätspolitik war ihrem Verständnis nach kein Selbstzweck – sie hatte ein Ziel: „Als Mensch anerkannt zu werden, als ebenbürtiger Mensch, ist genug.“
Und heute?
Die Autor:innen Lea Susemichel und Jens Kastner haben eine aktuelle Definition, die ich hilfreich finde: Linke Identitätspolitik kämpfe um Anerkennung, Repräsentation und materielle Gerechtigkeit für Benachteiligte. Das Ziel von Identitätspolitik ist demnach also Gleichstellung.
Eben! Gleichheit, nicht Diversität!
Einen Moment, auch das erkläre ich gleich noch. Ich behaupte aber an dieser Stelle: Weil die Gleichstellung voranschreitet und unsere Gesellschaft immer gerechter wird, wird der Kampf um Identitätspolitik derzeit lauter und härter.
Inwiefern?
Deutschland ist ein vielfältiges Land. Und in den vergangenen Jahren hat sich für benachteiligte Gruppen viel getan. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani schreibt: „Die Teilhabechancen verbessern sich und gleichzeitig wird viel mehr über Diskriminierung aufbegehrt und diskutiert als vorher – und zwar nicht obwohl, sondern weil sich die Situation verbessert hat.“ Er vergleicht Deutschland mit einer Tischgesellschaft: Weil sich in den vergangenen Jahren schon viel verbessert hat, sitzen immer mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, verschiedenen Geschlechtsidentitäten, sexuellen Orientierungen und aus unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnissen am Tisch unserer Gesellschaft. Zum Beispiel in politischen Vertretungen wie dem Bundestag oder in Redaktionen.
Das ist doch super.
Aber: Wer am Tisch sitzt, will gehört werden und mitentscheiden. El-Mafaalani schreibt über Migrant:innen: „Die ersten Nachkommen beginnen, sich an den Tisch zu setzen und bemühen sich um einen guten Platz und ein Stück des Kuchens. Nach einer länger andauernden Phase der Integration geht es dann nicht mehr nur um ein Stück des bestehenden Kuchens, sondern auch darum, welcher Kuchen auf den Tisch kommt.“
Je vielfältiger und gleichberechtigter eine Gesellschaft ist, desto größer die Konflikte um den Kuchen?
Genau. Man könnte sagen: Die Neuen am Tisch, die Mitbestimmung einfordern, betreiben linke Identitätspolitik. Ihnen gegenüber sitzen die, die sich davor fürchten, Einfluss zu verlieren – und sich dagegen wehren. Das könnte man rechte Identitätspolitik nennen.
Wen meinst du, wenn du von rechter Identitätspolitik sprichst? Ich habe häufiger Berichte über die „Identitäre Bewegung“ gelesen. Das ist allerdings eine recht kleine Gruppe, von der man lange nichts gehört hat.
Die rechtsextreme Identitäre Bewegung ist ein Extrembeispiel. Sie kämpft in eigenen Worten um den „Erhalt der ethnokulturellen Identität“ und verbreitet die Verschwörungserzählung eines vermeintlichen „Bevölkerungsaustausches“.
Aber nicht nur die sind gemeint, die sich explizit als identitätspolitische Bewegung bezeichnen. Rechte Identitätspolitik vertritt – in unterschiedlicher Gewichtung – die Interessen von eher weißen, heterosexuellen und christlich geprägten Gruppen. Sie verteidigt die Privilegien ihrer Mitglieder. Neben dem sogenannten Kreuzerlass der CSU könnte man hier auch die Anti-LGBTQIA+-Gesetze in Ungarn, Abtreibungsverbote oder einen Bann von Diversitätsworkshops im Öffentlichen Dienst der USA durch Donald Trump nennen. Das sind alles Maßnahmen, die die Privilegien von weißen, heterosexuellen, männlichen und christlichen Menschen verteidigen. Die Angst vor Statusverlust erkläre ich in diesem Text ausführlich.
Das ist doch etwas ganz anderes. Mir fallen keine Politiker:innen ein, die ständig ihre weiße oder heterosexuelle Identität betonen und darauf ihre Haltung gründen. Linke schon.
Die Forschung zeigt: Identität wird wichtig, wenn sie bedroht ist. Weil sie das für weiße Menschen nie war, ist Weißsein für sie wie Wasser für Fische: Sie nehmen es kaum wahr. Das hat sich laut der Politikwissenschaftlerin Ashley Jardina in den vergangenen Jahren geändert.
„Wenn Weiße den Eindruck haben, dass der dominante Status ihrer Gruppe bedroht ist oder ihre Gruppe ungerechtfertigt benachteiligt wird, kann ihre Identität politisch relevant werden“, schreibt sie in ihrem Buch „White Identity Politics“.
In einer immer bunteren Gesellschaft sehen sie ihre eigene Position in Gefahr, schreibt sie.
Und plötzlich merken die Weißen dann, dass sie weiß sind?
Jardina zufolge ist das kein Automatismus, sondern das Ergebnis von Politik. Rechte Politiker:innen greifen dieses Gefühl auf, befeuern Bedrohungsszenarien und warnen vor Sprechverboten und Meinungsdiktaturen. Sie vermitteln: Ihr verliert, wenn andere gewinnen. Die Selbstinszenierung als Opfer ist wichtiger Bestandteil der rechten Strategie. Um das auf unseren Tisch zu übertragen: Es ist, als würden diejenigen, die bislang die Macht am Tisch innehatten, jetzt davor warnen, dass die Neuen ihnen das Besteck wegnehmen, das Kuchenessen verbieten und gleich den Kuchen abschaffen möchten.
Zum Beispiel mit Quoten oder Sprachregelungen. Aber nicht nur Rechte kritisieren linke Identitätspolitik – auch liberale Stimmen tun das.
Stimmt. Das begann, nachdem Trump US-Präsident wurde und auch in Europa rechte Parteien immer stärker wurden. Viele Liberale finden, linke Identitätspolitik befördere den Aufstieg der Rechten, weil sie ständig Einzelinteressen betone. Einer der prominentesten liberalen Kritiker ist der amerikanische Politologe Mark Lilla, Autor des Buches „The Once and Future Liberal: After Identity Politics“. Kurz nach der Wahl Trumps schrieb er in einem Kommentar in der New York Times, der us-amerikanische Liberalismus sei einer Art „moralischer Panik“ über identitätspolitische Unterschiede verfallen. Die Fixierung auf Diversität in Schulen und Medien habe eine Generation hervorgebracht, die nicht mehr wüsste, was Menschen außerhalb ihrer eigenen „Gruppen“ bewegt. So könne man unmöglich eine gemeinsame Vision für die Zukunft finden.
Die französiche Journalistin Caroline Fourest schreibt in ihrem Buch „Generation Beleidigt“, dass diese neue Generation „nur daran denke, zu zensieren, was sie kränkt oder beleidigt.“
Und in Deutschland warnte der SPD-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem Gastbeitrag in der FAZ vor Identitätspolitk.
Davon habe ich gehört. Das wurde wochenlang überall thematisiert.
Thierse glaubt, die Betonung von Identität zerstöre den Gemeinsinn einer Gesellschaft, anstatt ihn zu stärken. Er findet, dass „nicht nur Minderheiten, sondern auch Mehrheiten berechtigte kulturelle Ansprüche haben und dies nicht nur als bloß konservativ oder reaktionär oder gar als rassistisch denunziert werden sollte.“ Ihn stört zudem der „Mythos der Erbschuld des weißen Mannes“.
Ich finde, da hat er recht. Nicht alle Weißen sind privilegiert – es gibt weiße Arbeitslose und weiße, queere Menschen, die ebenfalls Diskriminierung erfahren.
Natürlich, auch weiße, heterosexuelle Menschen leiden beispielsweise unter Armut. Trotzdem, so entgegnet zum Beispiel die Politologin und Gründerin des Center for Intersectional Justice Emilia Roig in ihrem Buch „Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung“, sei es ein Privileg, etwa wie ein Joker beim Kartenspiel. Er garantiert dir nicht, dass du gewinnst. Aber verschafft dir von Anfang an einen Vorteil.
Was Thierse kritisiert, ist eine amerikanische Denkrichtung, die auf dieser Vorstellung beruht. Die „Critical Race Theory“ – um die tobt derzeit auch ein Streit.
Was ist das: Critical Race Theory?
Die Grundidee geht so: Rassismus ist nicht nur individuelles Fehlverhalten, sondern ein strukturelles Problem. Er ist in der Gesellschaft und ihren Institutionen verankert. Er steckt in unseren Gesetzen, der Art, wie wir Menschen behandeln und wie wir unsere Geschichte erinnern. Und weil Rassismus so tief in unsere gesellschaftliche DNA eingeschrieben ist, brauche es aktive Gegenmaßnahmen, zum Beispiel staatliche Stellen für Antirassismus, Antirassismus-Gesetze und Antirassismus-Workshops für Angestellte im Öffentlichen Dienst. Kurzum: Um Rassismus zu bekämpfen, reiche es nicht, nicht rassistisch zu handeln.
Sondern?
Man müsse aktiv antirassistisch handeln. Als einer der aktuell führenden Vertreter:innen der Critical Race Theory gilt Ibram X. Kendi, Autor des Buches „How To Be an Anti-Racist“, das meine Kollegin Belinda hier vorstellt. Im deutschsprachigen Raum gehören Tupoka Ogette, Alice Hasters und Natasha A. Kelly zu den prominentesten Stimmen.
Nun ist diese sehr vielfältige Denkströmung nicht neu. Ihre Wurzeln liegen in den 1970er und 1980er Jahren.
Auch Kritiker:innen gibt es: René Pfister schreibt im Spiegel, die Critical Race Theory sei ein „Angriff auf die Werte des Westens“.
Warum?
Kurz gefasst: Die Critical Race Theory spalte die Gesellschaft.
Die Annahme, Rassismus bestimme sämtliche Gesellschaftsbereiche sei nicht nur zutiefst pessimistisch, sondern auch antidemokratisch. Schließlich sei der Rechtsstaat in dieser Lesart bloß „Erfüllungsgehilfe eines systemischen Rassismus“, schreibt Pfister.
Critical Race Theory bezeichne alle weißen Menschen als Rassisten und Unterdrücker, das sei umgekehrter Rassismus. Schließlich bediene sie sich der gleichen Denkform, die sie zu bekämpfen vorgibt: der Einteilung von Menschen in Gruppen.
Hat er nicht recht? In unserer Verfassung steht: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Das identitätspolitische Argument sagt: So sollte es sein. Aber dieses Ideal entspreche nicht der Realität. Denn jeder Mensch mache aufgrund verschiedener Identitätsmerkmale wie Geschlecht, Sexualität, Herkunft, Behinderung, Hautfarbe, Ethnizität oder Klasse unterschiedliche Erfahrungen. Und weil Menschen ihre eigenen Interessen und Perspektiven vertreten, ließen sich solche Benachteiligungen am besten bekämpfen, indem man Unterschiede betone und Betroffenen mehr Mitsprache einräume.
Okay, die Critical Race Theory existiert also seit den 1970er Jahren und hat viele Kritiker:innen. Warum diskutieren jetzt auf einmal alle darüber?
Der Journalist Benjamin Wallace-Wells zeichnet hier nach, wie der konservative Aktivist Christopher Rufo den Begriff im vergangenen Jahr benutzt hat, um Wut zu schüren. Auch das Wort „Identitätspolitik“ wird heute vor allem als Kampfbegriff verwendet. Rechte und Konservative in den USA setzen ihn als Platzhalter ein für jede Form der Kritik an strukturellem Rassismus und warnen vor einem Kulturkampf. Und sie haben Erfolg: Wenn US-Bundesstaaten überlegen, Debatten über strukturellen Rassismus aus der Schule zu verbannen, die rechtsnationale Regierung in Ungarn dem Studiengang Gender Studies die Akkreditierung entzieht und der Hamburger CDU-Politiker Christoph Ploß das Gendern bei staatlichen Stellen verbieten möchte.
Ich sehe da immer noch einen Widerspruch: Menschen wollen nicht auf Herkunft, Hautfarbe, Sexualität, Behinderung oder Geschlecht reduziert werden – aber identifizieren sich dann mit genau diesen Kategorien?
Gute Frage! Sie bringt uns zu einem wesentlichen Dilemma linker Identitätspolitik. Ein Problem, das die Philosophin Hannah Arendt auf den Punkt gebracht hat: „Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen“, sagte sie in einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus.
Das bedeutet?
Wenn man als Gruppe angegriffen wird, liegt es nahe, sich als Gruppe zu wehren. Die fremdbestimmte Zugehörigkeit zu dieser Gruppe muss man akzeptieren, um sich gemeinsam dagegen zur Wehr zu setzen. Linke Identitätspolitik versucht, negative Zuschreibungen positiv umzudeuten.
Hast du ein Beispiel?
Das Wort „queer“ war einst ein Schimpfwort für Homosexuelle. Dann haben die Bezeichneten es sich zu eigen gemacht und positiv umgedeutet. Im Englischen nennt sich dieser Prozess „Reclaiming“. Das kann natürlich auch schiefgehen: wenn man plötzlich so in der rückeroberten Identität aufgeht, dass wieder Gruppen ausgeschlossen werden.
Noch ein Beispiel bitte.
Im Jahr 1851 hielt die afroamerikanische Frauenrechtlerin Sojourner Truth eine Rede vor weißen Suffragetten, also Frauen, die das Wahlrecht für Frauen forderten. Sie forderten es aber nur für weiße Frauen. Schwarze Frauen waren schlichtweg nicht mitgemeint. „Ain’t I a woman?“, fragte Truth in ihrer berühmten Rede. „Bin ich denn keine Frau?“ Das berührt den Kern von Identitätspolitik: Wer wird ausgeschlossen? Wer ist mit „wir“ gemeint?
So spielen wir Menschen doch gegeneinander aus – wenn wir sie immer weiter aufspalten.
Das ist einer der häufigsten Vorwürfe von Kritiker:innen linker Identitätspolitik: Die Stimmen aller Menschen sollten unabhängig von ihrer Identität gleiches Gewicht haben.
Das wichtigste und größte Versprechen der Moderne lautet: Alle Menschen sind gleich. Das Problem ist: Für viele Menschen ist dieses Versprechen noch uneingelöst. Männer werden oft besser bezahlt und bekleiden höhere Positionen als Frauen. Personen mit Zuwanderungsgeschichte werden seltener zu Bewerbungsgesprächen und Wohnungsbesichtigungen eingeladen, als Menschen ohne Migrationshintergrund. In Deutschland hat ungefähr jeder Vierte einen sogenannten Migrationshintergrund. Das trifft jedoch nur auf etwa jede:n zehnten Abgeordnete:n im neuen Bundestag zu (11,3 Prozent). Und von den 122 reichweitenstärksten deutschen Medien hatten bei einer Befragung des Netzwerks Neue deutsche Medienmacher:innen nur acht Chefredakteur:innen einen Migrationshintergrund.
Benachteiligte, so die Argumentation, sollten ihre eigenen Geschichten und Erfahrungen teilen und deuten dürfen.
Das heißt, dass man jetzt nur noch als Betroffene:r über Rassismus oder Sexismus sprechen darf.
Menschen sollten ein „Recht auf ihre Geschichte“ haben, wie die Autor:innen Friedemann Karig und Samira El Ouassil es in ihrem Buch „Erzählende Affen“ ausdrücken. Grundsätzlich dürfen aber natürlich alle über alles sprechen, was sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt. Respekt, Empathie und Selbstreflexion sind wünschenswert, würde ich sagen. Aber du darfst nicht vergessen: Wir haben ein Recht auf freie Meinungsäußerung – aber keines auf Widerspruchsfreiheit. Wer sich äußert, muss mit Kritik rechnen, gerade im Netz. Egal, wo er oder sie politisch steht.
Leicht gesagt. Gerade im Netz werden Menschen heftig angegangen, weil sie sich zu einem Thema kontrovers äußern.
Bei öffentlichen Debatten dauert es nicht lange, bis jemand den Begriff Cancel Culture in den Ring wirft. Der Begriff hat eine lange Geschichte und verweist in seiner heutigen Bedeutung laut der Journalistin Aja Romano ursprünglich auf den strategischen Versuch, Menschen für beleidigende oder diskriminierende Äußerungen oder Positionen zur Verantwortung zu ziehen – und aus dem Diskurs auszuschließen.
Diese Strategie sei aber häufiger ins Extreme umgeschlagen – und mittlerweile von Rechts umgedeutet worden. Inzwischen sei fast bei jedem Shitstorm, bei Kritik oder Widerspruch die Rede von einer „Cancel Culture“. Das Ziel sei, sagen Kritiker:innen, jegliche Kritik als antidemokratische Zensur darzustellen, ohne sich ihr inhaltlich zu stellen.
Wie wichtig es ist, dass Betroffene ihre eigenen Geschichten erzählen, zeigte der Skandal um die WDR-Sendung „Die letzte Instanz“. Darin diskutierten und urteilten ein (weißer) Moderator und vier (weiße) Halb-Promis über Rassismus und Antiziganismus. Ein Riesenshitstorm ging durchs Netz. Denn die vier Menschen auf dem Panel hatten weder Expertise noch Erfahrung auf dem Themengebiet.
Bist du ein Journalist mit Rassismuserfahrungen?
Nein.
Dann dürftest du dich zum Thema Rassismus doch gar nicht äußern.
Natürlich ist das nicht das Ziel. Vielmehr geht es darum, sich selbst manchmal zurückzunehmen, zuzuhören und unterrepräsentierten Menschen mehr Raum zu lassen. Das kann sehr aufschlussreich sein.
Trotzdem stellt linke Identitätspolitik am Ende Hautfarbe, Sexualität oder Geschlecht viel mehr heraus als das ihre Gegner tun.
Das Herausstellen und Betonen von Unterschieden hat ein Ziel: Gleichheit, im Sinne von Gleichberechtigung, erreichen wir erst dann, wenn wir ohne Angst verschieden sein können.
„Wahrhaft gleichberechtigt wäre es, feststellen zu können, dass alle Menschen unterschiedlich sind, aber keiner aufgrund der Unterschiede benachteiligt wird“, schreiben Karig und El Ouassil.
Das mag edel klingen. Ich finde es aber beleidigend, dass jetzt alle alten weißen Männer über einen Kamm geschoren werden.
Das ist verständlich: Wenn deine Identität derart reduziert wird, macht das all die anderen unsichtbar, mit denen man sich viel mehr identifiziert: Hobby-Angler, Segelfan, Patentante. Das ist frustrierend.
Genau.
Eine Interpretation lautet: Der Begriff „weiße alte Männer“ ist das Ergebnis einer Selbstermächtigungsstrategie von Minderheiten. Sie seien diejenigen gewesen, die bislang immer von außen benannt wurden. Sie waren nie einfach Menschen – oder Segelfans –, sondern immer Transsexuelle, Menschen mit Migrationshintergrund oder Ausländer. Jetzt würden sie sich herausnehmen, jemandem eine Identität und einen Namen aufzudrücken: den alten, weißen, Männern.
Ich finde das trotzdem nicht gut.
Das musst du auch nicht. Ich halte es mit der Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal, Autorin des hervorragenden identitätspolitischen Romans „Identitti“. Im Gespräch in der Sendung „Sternstunde Philosophie“ sagte sie, es führe dazu, „dass Menschen zum ersten Mal körperlich erleben, was andere ihnen die ganze Zeit versucht haben zu erklären“: Wie es sich anfühlt, auf eine Identität reduziert zu werden. Aber das dürfe natürlich kein Dauerzustand werden.
Laufen wir nicht Gefahr, eine Olympiade der Betroffenheiten zu starten? Jeder kommt und reklamiert für sich, noch diskriminierter zu sein.
Das wäre natürlich Unsinn. Wie wir gesehen haben, sollen die Bewegungen, die als Identitätspolitik bezeichnet werden, Unterschiede hervorheben, um Ungleichheiten auszuräumen. Dafür bedient sie sich einer Art Analysebrille der US-Wissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw: Intersektionalität.
Intersektion – also Kreuzung?
Genau. Crenshaw beschreibt damit, wie sich verschiedene Formen von Diskriminierung und Unterdrückung überkreuzen. Es ist ein sperriger Begriff, der eigentlich etwas Einfaches beschreiben will: Unterschiedliche Formen der Diskriminierung sind miteinander verwoben und passieren oft gleichzeitig. Sie verstärken sich gegenseitig und entwickeln Eigendynamiken.
Also geht es doch darum, wer am meisten diskriminiert wird.
Nicht mehr – anders! Schwarze Frauen werden zum Beispiel anders diskriminiert als Schwarze Männer. Die Aktivist:innen des Combahee River Collectives schrieben: „Gemeinsam mit Schwarzen Männern kämpfen wir gegen Rassismus, während wir gleichzeitig wegen Sexismus gegen Schwarze Männer kämpfen.“
Okay, verstehe. Ich fasse noch einmal zusammen: Es gibt politische Bewegungen, die Unterschiede hervorheben, um Ungleichheiten auszuräumen. Kritiker:innen aus allen Lagern nennen das linke Identitätspolitik – und befürchten, sie spalte die Gesellschaft. Rechte Identitätspolitik will die Privilegien der weißen Mehrheit bewahren. Das klingt, als könnten wir uns nicht darauf einstellen, dass die Diskussion bald aufhört, oder?
Im Gegenteil. Aber der Streit führt dazu, dass alle sich mit der einen Frage beschäftigen: In was für einer Gesellschaft möchten wir leben?
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger