Als ich acht Jahre alt war, trat ich meinem Klassenkameraden Louis in die Eier. Er zettelte einen Streit an. Ich weiß noch nicht mal mehr, worum es ging. Irgendwann trat ich zu. Er griff sich zwischen die Beine. Verzog sein Gesicht. Es war eigentlich ganz still.
Kein Schreien oder Weinen. Leise flossen Tränen aus seinen Augen. Er fiel zu Boden. Plumps. Die anderen Kinder zeigten mit dem Finger auf ihn, und schon eilten die Lehrer:innen zu mir. „Ihr beiden kommt mit! SOFORT!“, rief meine damalige Klassenlehrerin.
Meine Mutter wurde kontaktiert, der Direktor redete auf mich ein. In dem Gespräch ging es nie um die Frage, warum ich so reagiert hatte. Mir wurde erklärt, dass ich das Leben von Louis zerstört habe. Dass er eventuell keine Kinder kriegen könnte. Danach wurde ich direkt nach Hause geschickt mit dem Satz: „Du musst einen anderen Weg finden, mit deiner Wut umzugehen.“
Meine Mutter und ich fuhren im Auto, und es war still. Sie drehte sich zu mir um und fragte, warum ich es getan habe, und ich antwortete: „Weil du mir erklärt hast, wenn ein Mann mir zu nahe kommt oder ich Angst kriege, soll ich ihm kräftig in die Mitte treten.“ Sie nickte und stellte fest: „Stimmt. Das habe ich gesagt.“
Natürlich ist es nicht in Ordnung, einen anderen Menschen zu verletzen. Wut hin oder her. Doch es gibt keinen Einführungskurs mit dem Titel: „So gehst du in einer patriarchalischen und rassistischen Welt adäquat mit deiner Wut um. So als Frau.“ Stattdessen lernen wir implizit und explizit, unsere Wut herunterzuschlucken.
Im Alter von etwa drei Jahren beginnt die Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Wut. Das stellte ein Forscher:innenteam um Susan Sterkel Haugh in den 1980er Jahren fest. In Kalifornien zeigten sie Kindern im Vorschulalter Videos von Säuglingen. Dabei wollte das Team herausfinden, ob die Kinder unsere gesellschaftlichen Geschlechtsstereotype bereits verinnerlicht hatten. Hatten sie.
Auf einem Video sahen die Kinder zwei Säuglingen dabei zu, wie sie mit einem Xylofon, Bilderbüchern, Stofftieren, Puzzles und vielen weiteren geschlechtsneutralen Gegenständen hantierten. Zudem achteten die Wissenschaftler:innen darauf, dass die Babys weder besonders männlich noch weiblich aussahen. Zu Beginn erklärten sie den Kindern, dass es sich bei den Babys um einen Jungen, Bobby, und ein Mädchen, Lisa, handelte. Ab dem Moment, wo die Drei- und Fünfjährigen erwarteten, dass eines der Babys ein Mädchen war, beschrieben sie den Säugling, den sie als weiblich betrachteten, als traurig und den vermeintlichen Jungen als wütend. Unabhängig davon, ob das tatsächlich der Fall war.
Auch Bezugspersonen reagieren auf das Geschlecht von Kindern. Mütter sprechen ausführlicher mit Kindern, die sie als weiblich wahrnehmen, während Jungs stärker zu motorischen Aktivitäten motiviert werden. Mit Mädchen wird mehr über Traurigkeit gesprochen, mit Jungen eher über Konflikt, Wut oder Rache.
Unser Geschlecht wird erlernt. Wut nicht so richtig oder zumindest nicht gleichmäßig. In diesem Prozess lernen Mädchen nicht, ihre Wut effektiv zu nutzen. Sie wird als ein zu kaschierender Makel postuliert. Das führt dazu, dass viele junge Frauen ihre eigene Wut nicht kennen oder verstehen.
Jungen sollen sich „wehren können“, Mädchen sollen „brav sein“
Depressionsraten unter Kindern sind zunächst ausgeglichen. Jungen werden im Kindergarten und in der Grundschule häufiger als „Problemkinder“ betitelt und erhalten in weit höherem Maße als Mädchen Psychopharmaka wie Ritalin. In der Pubertät kehrt sich dieser Umstand dann um: Ab dem Alter von etwa zwölf Jahren verdreifacht sich bei Mädchen die Depressionsrate. Während bei ihnen internalisierende, nach innen gerichtete Verhaltensweisen überwiegen, beispielsweise Essstörungen oder Selbstverletzung, treten bei Jungen externalisierende, nach außen gerichtete Verhaltensweisen wie Aggressivität auf.
Weibliche Jugendliche klagen häufiger über Beschwerden und Unwohlsein als männliche, sind häufiger in medizinischer Behandlung und bekommen mehr Medikamente verschrieben. Die Liste der Symptome wird dabei von Kopfschmerzen, Nervosität, Unruhe und Konzentrationsschwierigkeiten angeführt.
In ihrem Buch „Speak Out! Die Kraft weiblicher Wut“ wirft die Autorin Soraya Chemaly die Frage auf, ob diese psychologischen Auswirkungen eine Folge von sogenannten Self-Silencing sind. Dieser Begriff ist von der Autorin Dana Crowley Jack und ihrem Werk „Silencing the Self – Women and Depression“ geprägt und bedeutet, dass Frauen sich aufgrund der geschlechtsspezifischen Erwartungen unserer Gesellschaft innerhalb intimer Beziehungen selbst zensieren und einschränken.
Self-Silencing stellt die Sorge um eine andere Person über das Wohl des eigenen Selbst und wirkt sich auf die psychologische Gesundheit von Frauen aus. Dieser Mechanismus beginnt bereits im Teenageralter. So schreibt Soraya Chemaly, dass wütende Mädchen im Schulalter dazu neigen, ihren Gefühlen keinen freien Lauf zu lassen, sondern sich zu verschanzen und Wege zu finden, ihre Interessen im Stillen zu wahren. Eltern sprechen mit ihren Töchtern mehr über Emotionen und verwenden eine breitere Palette von Wörtern für diese Emotionen. Die einzige Ausnahme sind negative Gefühle, zu denen Wut zählt.
Es gibt keinen Trainingsplatz für Wut
Wie kann eine Frau eine gute Beziehung zu sich und ihrer Wut aufbauen, wenn sie nie den Raum erhält, die eigene Art des Ärgers zu schmecken? Es gibt keinen Trainingsplatz der Wut, um die eigene Form kennenzulernen, zu fühlen, sie zu regulieren und als Werkzeug zu nutzen. Nur weil die Gesellschaft verlangt, dass Mädchen lieb und brav sein sollen, heißt es nicht, dass sie keine Wut empfinden. Sie ist da.
Wir lernen nur sehr früh, einen wichtigen Aspekt unserer Emotionsklaviatur zu kaschieren. Die Botschaft lautet, dass junge Mädchen und ihre Bedürfnisse, Gedanken und Belange irrelevant sind. Dass sie diese unterdrücken sollen. Sich selbst unterdrücken müssen. Nur so wird aus ihnen eine gute Frau. Eine, die nie wütend ist.
Wenn Frauen trotzdem ihren Ärger ausdrücken, gibt es Mechanismen, um sie einzudämmen. Dann konzentriert man sich gern auf die Wut als Fakt – nicht auf den Grund dahinter. Wenn wir streiten, laut oder vielleicht sogar wütend werden, hören wir oft: „Man kann ja so nicht mit dir sprechen – du bist viel zu emotional.“ In diesem Prozess ist der Ausgangspunkt am Ende egal.
Dieses Phänomen hat einen Namen: Tone Policing. So wird es genannt, wenn eine völlig berechtigte Beschwerde wegen der Art und Weise, wie sie vorgebracht wird, als irrational abgestempelt wird. Wer sein Anliegen vernünftig und ruhig vorträgt, werde gehört, wird immer wieder von den Gesprächspartner:innen betont. Wer laut und wütend kritisiert, sei unkonstruktiv und irrational. Auf die eigentlichen Argumente wird nicht eingegangen.
Seit 1918 dürfen Frauen in Deutschland wählen. Gründe, warum sie es nicht dürfen sollten, wurden von Psychologen, Medizinern und Kirchenvertretern im 19. Jahrhundert reichlich vorgebracht: Das Hirn von Frauen sei zu klein, ihr Körper zu schwach, Mutterschaft und Haushalt entsprächen ihrer Natur sowie – und das ist mein liebstes Argument – Frauen seien einfach zu emotional für die Politik.
Um den Preußischen Innenminister Freiherr von Hammerstein zu zitieren: „Ich will nicht, dass Frauen in politischen Versammlungen mitreden. Ich glaube, es sähe traurig aus um unser preußisches Volk, um unseren preußischen Staat, wenn die leichte Erregsamkeit der Frauen in öffentlichen Versammlungen das Volk bewegen sollte.“
Wut ist theoretisch neutral. In der Realität allerdings nicht. Viele verschiedene Faktoren kommen zusammen, um weibliche Wut strukturell abzuwerten. Das vereinfacht es, sie zu ignorieren und zu verwerfen.
Wut ist theoretisch neutral
Wir leben in einer patriarchalischen Welt. Dieser müssen Frauen sich anpassen. Um darin zu bestehen, lernen wir früh, diese Welt zu navigieren und unser Verhalten anzugleichen.
Das Code Switching beschreibt in den Sprachwissenschaften die Fähigkeit, zwischen mehreren Sprachen innerhalb einer Konversation zu wechseln. Es kann sich aber auch um das Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen sozialen Identitäten handeln. Vor allem Frauen in der Businesswelt lernen, sich zu kontrollieren. Wenn sie zu wütend sind, sind sie Zicken. Wenn sie zu wenig wütend sind, zu lasch. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sie balancieren.
Wir gendern keine andere Grundemotion so stark wie die Wut. Nicht Freude, Überraschung, Ekel, Verachtung, Trauer oder Angst. Die letzten beiden tragen Ansätze davon, doch nicht in dem Ausmaß wie bei Wut.
Es gibt keinen Unterschied zwischen der Wut von Frauen und Männern. Trotzdem bezeichnet auch die Emotionsforscherin Ursula Hess die Wut von Frauen als „weibliche Wut“.
„Wenn ich weiblicher Ärger sage, dann meine ich, dass Ärger von Frauen anders ausgedrückt wird“, so Hess. „Wenn wir jetzt von Ärger zu Aggression übergehen, stellen wir fest, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann, der sich ärgert, aggressiv wird und dazu neigt, physisch zu agieren, höher ist als bei Frauen.“
In einem Versuch ließen sie und ihre Kolleg:innen das Geschlecht von androgyn aussehenden Personen durch Versuchsteilnehmer:innen bestimmen. Es zeigte sich, dass die Gesichter von Frauen mit ärgerlichem oder zornigem Gesichtsausdruck am seltensten korrekt als weiblich erkannt wurden.
„Unsere Forschung zeigt, dass die Verbindung zwischen Zorn und Männern einerseits und Fröhlichkeit und Frauen andererseits so stark ist, dass dies die Entscheidung beeinflussen kann, ob ein flüchtig betrachtetes Gegenüber als männlich oder weiblich gesehen wird“, erklärt Hess. Zorn macht Frauen offenbar unweiblich. Ihr Forscher:innenteam zeigte Bilder von dominant aussehenden Männern und Frauen sowie von solchen, die submissiv aussehen. Daraufhin erklärte sie den Teilnehmer:innen, dass es sich bei diesen Menschen um Anne und Mark handelt und sie gerade erfahren haben, dass ihr Auto vandalisiert wurde.
„Die gleichen Merkmale, die ein Gesicht männlich wirken lassen – eine hohe Stirn, ein kantiges Kinn und stärkere Augenbrauen –, werden auch mit der Wahrnehmung von Dominanz in Verbindung gebracht. Umgekehrt werden Merkmale, die ein Gesicht weiblich erscheinen lassen – ein rundes, kindliches Gesicht mit großen Augen –, mit Zugänglichkeit und Wärme assoziiert“, erklärt sie die Versuchsanordnung.
Sei süß, lieb, freundlich – sonst bleibst du für immer allein
Wer dominant aussah, dem wurde eher Wut zugestanden. Gut für manche Frau, könnte man jetzt denken. Bei einigen Frauen wird immerhin erwartet, dass sie Wut zeigen. Das hat aber einen Preis.
„Wir hatten auch eine Likeability-Einordnung. Mit der Frage, wie sympathisch man die Person findet. Und da stellte sich tatsächlich heraus, dass drei Personen ungefähr ähnlich sympathisch empfunden wurden, die beiden Männer und die submissive Frau. Und eine Person wurde anders beurteilt, und das war die dominante Frau. Die wurde als deutlich weniger sympathisch empfunden.“
Wütende Frauen sind also unsympathisch. Genau das ist unser Kryptonit. Das ist der rote Faden in allen Gesprächen. Das ist der Grund, warum Frauen ungern wütend sind, und gleichzeitig scheiden sich genau hier die Geister. Im Zuge meiner Recherche habe ich mit vielen unterschiedlichen Frauen über ihre Wut gesprochen. Der einen Gruppe ist es egal, ob sie von ihrem Umfeld gemocht wird, der anderen nicht. Die eine Gruppe hat eine gute Beziehung zu ihrer Wut, die andere nicht.
Die patriarchalischen Strukturen, die eine wütende Frau abstrafen, haben einen Tenor: Sei süß, lieb, freundlich, und du wirst alles im Leben erhalten. Darin soll unsere vermeintliche Macht liegen. Im Schönsein. Im Sich-schön-Verhalten. Ansonsten wirst du nicht gemocht und bleibst für immer allein. Lebst in einem Haus mit einem Dutzend Katzen und bist die fiese alte Dorfhexe. Dabei weiß jede junge Frau spätestens mit dem Start in die Teenagerzeit, dank heteronormativer Filme wie „Bridget Jones“ und vielen weiteren vermeintlichen Liebesromanzen, die ich zu meiner Schande auch gucke: Frauen möchten nicht allein sein.
Doch neue Studien zeigen, dass eher Männer einen deutlichen Druck verspüren, sich zu verpartnern. „Wenn Sie ein Mann sind, sollten Sie unbedingt heiraten. Wenn Sie eine Frau sind, können sie es ruhig lassen“, sagt Paul Dolan. Der Verhaltensforscher begleitete heterosexuelle cis-Menschen über einen längeren Zeitraum und stellte fest, dass Männer von der Ehe profitieren, weil sie, wie er es formuliert, ruhiger werden.
„Sie gehen weniger Risiken ein, verdienen mehr Geld bei der Arbeit und leben ein bisschen länger. Die Frau hingegen muss sich all das gefallen lassen. Sie stirbt früher, als wenn sie nie geheiratet hätte“, erklärt Dolan und schlussfolgert: „Die gesündeste und glücklichste Bevölkerungsuntergruppe sind Frauen, die nie geheiratet oder Kinder bekommen haben.“
„Wenn ich ganz ehrlich bin, tue ich das alles, weil ich Männern gefallen will“, erklärt mir meine Freundin Annika, als wir über ihre Wut sprechen und darüber, warum sie diese bei Männern nicht rauslässt. „Ich möchte die unkomplizierte Frau sein. Die coole Frau, also die Frau, der das alles nichts ausmacht.“ Diese coole Frau ist niemals wütend. Sie schwebt und steht über allem, fühlt keinerlei Rage. Sie ist eiskalt. Sie scheint die perfekte Frau zu sein. Für Männer. Nicht für sich selbst.
Und warum macht Annika das alles? Weil, wenn sie brav ist und sich an alle Spielregeln hält, dann kriegt sie, was sie will: einen Prinzen. Oder zumindest eine nette Beziehung. Doch was ist, wenn es nicht passiert? Über Jahre schluckt sie ihre Wut und weitere Emotionen herunter, um perfekt zu sein, und am Ende kriegt sie gar nichts.
Die Beziehung zu der eigenen Wut sowie die akkumulierten Erfahrungen spielen eine relevante Rolle darin, wie wohl sich frau mit ihrer Wut fühlt. Ich tendiere dazu, mich an all meine Wutmomente zu erinnern und mir neue Strategien zu überlegen, um sie beim nächsten Mal effektiver einzusetzen. Vermutlich auch, weil ich gemocht werden und als glaubwürdig erachtet werden will.
Trotz meines Vorfalls mit meinem Klassenkameraden Louis wurden wir Freunde. Allerdings mit einer gesunden Distanz zueinander – schließlich war ich diejenige, die ihn zwischen die Beine getreten hatte. An den Grund kann sich niemand mehr erinnern. Für mein Umfeld war es nur relevant, dass ich das Mädchen war, das sich nicht an das diplomatische Protokoll hielt. Ich kommunizierte meinen Ärger nicht mädchenhaft.
Nur brave Mädchen haben es leicht im Leben. Wenn ich mich an die Spielregeln halte, keinen Ärger verursache, nur dann wird alles gut, heißt es. Wenn ich als Mädchen bereits Erfolgserlebnisse mit meiner Wut hätte, wenn ich gemerkt hätte, dass sie mir hilft, etwas zu verändern, dann würde ich diese Emotion als stark und gut empfinden. Eine, die mich beschützt und weiterbringt.
Wenn wir aus Frauen Wut heraussozialisieren, bringen wir ihnen bei, dass sie machtlos sind. Wir leben in einer Ellbogenwelt. Wer geduldig und lieb wartet, geht leer aus. Brav sein zahlt sich nicht für Frauen aus, sondern nur für diejenigen, die ihre Macht über brave Frauen erhalten wollen.
Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch „Wut und Böse“ von Ciani-Sophia Hoeder. Das Buch ist im September 2021 im Carl Hanser Verlag erschienen.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Iris Hochberger