Eine Frau mit leidendem Gesichtsaudruck, aber der Gesichtspartie durch eine griechische Statue ersetzt.

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Geschlecht und Gerechtigkeit

Wie sich Arbeit ändern muss, damit Frauen aus der Kümmerrolle kommen

Viel zu häufig sind es Frauen, die die emotionale Arbeit leisten. Nicht nur privat – auch im Job. Das ist sowas von ermüdend. Ich habe Vorschläge, wie wir das ändern können.

Profilbild von Franziska Schutzbach

Im Jahr 1938 kehrte die Künstlerin Meret Oppenheim von einem Auslandsaufenthalt in Frankreich zurück in die Schweiz. Sie hatte in Paris erfolgreich erste Werke ausgestellt. Während ihrer Pariser Jahre hatte sie bekannte expressionistische Künstler kennengelernt, sich einen Namen gemacht, ein Buch herausgegeben. Nichts schien einer gradlinigen Karriere im Weg zu stehen, dennoch hatte Oppenheim nach ihrer Rückkehr in die Schweiz zunächst eine sechzehn Jahre andauernde Schaffenskrise. Retrospektiv schrieb sie: „Es war mir, als würde die jahrtausendealte Diskriminierung der Frau auf meinen Schultern lasten, als ein in mir steckendes Gefühl der Minderwertigkeit.“

„Ich hasste die Vorstellung, Männern irgendwie zu dienen“

Auch andere Frauen und Künstlerinnen wie die US-amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath beschäftigte das Gefühl, nicht zu genügen. In den 1950er Jahren schrieb sie in ihrem berühmten Roman „Die Glasglocke“ die Geschichte von Esther Greenwood, einer jungen Collegestudentin und angehenden Schriftstellerin, die eine Existenzkrise durchmacht. Vor der Krise ist Esther zielorientiert, fleißig und gewinnt mehrere Auszeichnungen. Doch dann beginnt sie, an sich zu zweifeln: „Ich fing an, alles aufzuzählen, was ich nicht konnte.“ Sie kann aus ihren Talenten keine Kraft mehr schöpfen und fragt sich, warum sie es nicht mehr schafft, das zu tun, was sie eigentlich tun sollte: „Ich kam mir vor wie ein Rennpferd in einer Welt ohne Rennbahnen.“ Sie lässt Termine ausfallen, gibt Arbeiten nicht rechtzeitig ab.

Die Geschichte zeigt den Konflikt einer ehrgeizigen jungen Frau, die mehr will, als Hausfrau zu sein, die aber auch realisiert, dass sie in einer männerdominierten Welt nie genügen kann, die unter ständiger männlicher, gesellschaftlicher Beobachtung und Bewertung steht (Esther sagt: „Ich hasste die Vorstellung, Männern irgendwie zu dienen.“) und in der es kaum möglich ist, sich als Frau und Künstlerin selbst zu definieren.

Es überrascht angesichts historisch entstandener sexistischer Stereotype nicht, wenn Männer noch heute dazu neigen, Frauen nicht ernst zu nehmen und ihnen oft ungefragt die Welt erklären. Die US-Autorin Rebecca Solnit hat darüber einen mittlerweile weltberühmten Text geschrieben (Wenn Männer mir die Welt erklären, 2014). Er entstand am Tag nach einer Abendgesellschaft, bei der ihr Gesprächspartner ausführlich über ein kürzlich erschienenes Buch sprach, das just zu dem gleichen Thema erschienen war wie das Thema, das Solnit gerade angesprochen hatte. Er hatte eine Zusammenfassung davon in der New York Times gelesen, bemerkte aber nicht, dass die Verfasserin eben dieses Buchs Rebecca Solnit war. Er zeigte sich so selbstbewusst, dass sie einen Moment lang dachte, es könnte sich wirklich um ein anderes Buch handeln.

Sich in der eigenen Gewissheit erschüttern lassen, ist, so möchte man meinen, eigentlich etwas Erstrebenswertes. Aber in solchen Situationen geht es eben nicht um einen Austausch auf Augenhöhe, der dazu führen kann, eigene Positionen zu überdenken. Vielmehr geht es um Macht und darum, dass die Expertise von Frauen, ihr Können und ihre Perspektiven weniger ernst genommen, weniger beachtet werden. Nicht, weil diese Positionen argumentativ oder künstlerisch tatsächlich mangelhaft wären – selbst wenn auch dies selbstverständlich vorkommt –, sondern deshalb, weil sie Frauen sind.

Ich selbst kenne solche Solnit-Momente. Ich erinnere mich etwa, wie ich einmal nach einer Veranstaltung, auf der ich einen Vortrag gehalten hatte, gemeinsam mit allen Vortragenden und einigen Gästen bei einem anschließenden Abendessen zusammensaß. Am Tisch waren drei Frauen und drei Männer. Die Männer redeten den ganzen Abend über sich, ihre Publikationen, Thesen, Bücher. Die Frauen – ebenfalls hochkarätige Autorinnen – hörten geduldig, aufmerksam und höflich zu. Fragten nach. Keiner der Männer am Tisch stellte je eine Frage an eine der Frauen. Sie waren gänzlich auf sich bezogen. Ich versuchte etwa in der Halbzeit, mich einzubringen, warf lautstark eine These in die Runde. Ich hatte das Wort einige Sekunden lang. Einer der Männer knüpfte an meine These an, um seine eigene stark zu machen. Die anderen Männer diskutierten dann diese These. Später wechselte der eine Mann noch den Platz, zwischen ihm und dem „wichtigen Alpha“ hatte eine Frau gesessen. Der Mann also nahm ihren Platz ein, um in die Nähe der wichtigen Person zu gelangen, während sie auf Toilette war. Am Ende saßen die Männer gesammelt in der Mitte der Tafel, die Frauen gedrängt an das Tischende. Irgendwann sagte eine der Frauen in Richtung Männer – es wirkte schon fast tollkühn –, sie sei Reporterin und Schriftstellerin und arbeite gerade an … Da war aber der Abend schon vorbei. Die Männer gähnten. Man brach auf.

Die Autorin Franziska Schutzbach trägt ihr braunes Haar zurückgebunden, außerdem eine Metallbrille und dunkelroten Lippenstift, dazu ein grünes Hemd und einen karierten Blazer. Sie guckt selbstbewusst in die Kamera.

Franziska Schutzbach ist promovierte Geschlechterforscherin und Soziologin, Publizistin, feministische Aktivistin und Mutter von zwei Kindern. Im Jahr 2017 initiierte sie den #SchweizerAufschrei. Anja Fonseka

Das Gefühl, nicht zu genügen, nicht kompetent zu sein und Fehler ständig bei sich zu suchen, kennen auch Männer. Und umgekehrt gibt es Frauen, die mit viel Selbstvertrauen ausgestattet sind und die kein Problem damit haben, nicht zu gefallen, die sich verbal ohne Weiteres durchsetzen und in einer Abendrunde auf den Tisch hauen würden, wenn sie nicht zu Wort kämen. Vielen Frauen, und zu diesen zähle ich mich selber auch, fällt jedoch – auch weil Sexismus oft subtil und nicht direkt abläuft – meist erst hinterher auf, was wirklich passiert ist, was sie hätten tun und sagen können. Auch haben selbstsicher wirkende Frauen nicht selten ein schlechtes Bild von sich oder spüren große Unsicherheiten und Selbstzweifel – und versuchen, dies mit selbstbewusstem Auftreten und Agieren zu kompensieren.

Ich selbst komme vor der Kamera, auf Podien oder in anderen exponierten Situationen manchmal fast um vor Angst und Selbstzweifel, aber gleichwohl wirke ich, wie mir berichtet wird, selbstsicher. Tatsächlich begleitet mich eine tiefe Sorge, jemand könnte aufstehen und sagen: „Frau Schutzbach, das ist doch alles Unsinn, was Sie da sagen.“ Es ist das Gefühl, ich wäre unberechtigterweise hier, an diesem Ort, in diesem Raum, und der Platz auf dem Podium, in der Runde oder auch am Lehrpult würde mir eigentlich nicht zustehen. Das Thema würde vielleicht doch nicht in meine Kompetenz fallen oder andere könnten dazu differenziertere und substanziellere Dinge sagen (und es ist erschütternd, mir vorzustellen, wie bodenlos solche oder ähnliche Gefühle bei Frauen sein können, die nicht wie ich mit Bildungsprivilegien, einer bürgerlichen Herkunft, weißer Hautfarbe ausgestattet sind). Ich denke immer wieder über diese Empfindungen nach, und ich glaube, sie entspringen einer Art unbestimmten und subkutan gespeicherten Auffassung, im Prinzip in der Welt keine Daseinsberechtigung zu haben.

Es handelt sich um jene in den verborgenen Poren des Körpers abgelagerten Erfahrungen der Missachtung, die von Frauengeneration zu Frauengeneration weitergegeben werden. Man stelle sich vor, mit welchen Herabsetzungen unsere Großmütter noch konfrontiert waren. Das ist keine hundert Jahre her, und sowohl Traumaforschung wie Epigenetik zeigen, dass Verwundungen, schwere und weniger schwere, weitergegeben werden, sich in der Psyche, aber auch im Körper festsetzen können. Es liegt deshalb nahe, anzunehmen, dass Erfahrungen der Demütigung und Herabsetzung weitergegeben wurden und auch bei den heutigen, bei jungen Frauen Wirkung haben, mit neuen Erfahrungen ergänzt und wiederum weitergegeben werden.

Sich ständig zu kümmern und zu sorgen ist wahnsinnig anstrengend

Wer sorgt dafür, dass der Büroalltag angenehm abläuft? Dass bei Besprechungen dem Kunden Kaffee nachgeschenkt wird, dass an Geburtstage von Kolleg:innen und Vorgesetzten gedacht wird? Wer hilft, wenn Hilfe benötigt wird? Wer hat ein offenes Ohr, wenn es einem Kollegen oder einer Kollegin nicht gut geht? In der Regel sind das eher die Frauen. Frauen tun nicht nur im Privaten mehr Dinge, die dem allgemeinen Wohlbefinden von Menschen dienen, sie kümmern sich oft auch in beruflichen Zusammenhängen darum, dass das Zwischenmenschliche funktioniert. Sie gestalten den Arbeitsplatz, bringen Blumen mit oder Schokolade. Sie sorgen dafür, dass andere sich wohl- und wertgeschätzt fühlen. Sie reagieren auf Bedürfnisse, hören zu und geben Vorgesetzten und Kolleg:innen das Gefühl, wichtig und interessant zu sein. Kurzum, sie leisten sogenannte Emotionsarbeit. Diese Emotionsarbeit trägt entscheidend dazu bei, dass Arbeitsorte erträglicher werden. Gleichzeitig ist diese Arbeit aber auch eine oft unbemerkte Quelle für Verausgabung. Denn Frauen machen diese Arbeit nicht hauptberuflich, sondern erledigen sie zusätzlich zu ihren offiziellen Aufgaben.

In den öffentlichen Debatten ist häufig die Rede von der in Familien geleisteten unsichtbaren Care-Arbeit. Es gibt aber auch innerhalb der Berufstätigkeit unsichtbare „Frauen-Arbeit“. Es handelt sich um emotionale Engagements und Anstrengungen, für die erst in den letzten Jahren eine Sprache gefunden wurde. Die oben beschriebene, sorgende Emotionsarbeit (Kümmerarbeit) ist eine davon.

Titel des Buches "Die Erschöpfung der Frauen". Der Hintergrund ist grau, die Schrift gelb.

„Die Erschöpfung der Frauen“ ist bereits das dritte Buch von Franziska Schutzbach. 2018 erschien „Die Rhetorik der Rechten“, 2020 ihre Betrachtung der WHO in Hinblick auf „Politiken der Generativität“. Droemer Knaur Verlag

Bei vielen Frauen ist das gewohnheitsmäßige Geben so fest in ihrem Verhaltensstil verankert, dass sie es an jedem Ort zum Einsatz bringen. Zu Hause, bei Freund:innen und eben auch im Beruf. Ihre „Dienste“ vermögen sie kaum von ihrer Selbstdefinition zu trennen, sie haben gelernt, in jeder Situation für Partner, Verwandte, Kinder, Arbeitskolleg:innen die „Beziehungsarbeiterin“ zu sein. Die Beziehungsarbeit im Berufsalltag bedeutet eine pausenlose Aufmerksamkeit und Präsenz für andere, während Frauen oft ihre eigenen Bedürfnisse nach emotionaler Versorgung oder Unterstützung vernachlässigen. Sie gehen emotional auf Distanz zu sich selbst, spüren die eigene Müdigkeit nicht, weil sie die ganze Müdigkeit und Bedürfnisse anderer spüren (müssen).

Diese Sorgearbeit kann Frauen auch Selbstwert geben, es kann eine Methode sein, mit der sich ansonsten untergeordnete oder marginalisierte Menschen ein Stück Präsenz und Bedeutung verschaffen. Viele Frauen lernen schon als Mädchen, dass sie am ehesten Anerkennung erhalten, wenn sie sich um andere kümmern, wenn sie etwa emotionale Zustände und Launen von anderen erspüren und herausfinden, was im Familienzusammenhang gebraucht wird und von wem. Ein Grund dafür ist auch, dass in der Tendenz für Töchter die Fürsorge, die sie als Kinder erfahren, schneller endet als für Söhne. Töchter werden eher auf sich selbst gestellt oder sogar vernachlässigt, man traut ihnen schneller Autonomie und Selbstständigkeit zu, man überträgt ihnen Verantwortung für kleine Geschwister oder Großeltern, während Söhne eher überversorgt werden. Zwar wird Jungen oft Abenteurertum und Autonomie unterstellt, aber zugleich erwartet man von ihnen weniger als von Mädchen, dass sie sich um sich selber kümmern, geschweige denn um andere.

Mädchen ziehen aus diesem frühen Fürsorgeentzug oft unbewusst den Schluss, dass sie, wenn sie selber in die Rolle der Sorgenden schlüpfen, diesen erlebten Mangel irgendwie beheben können, und sie hoffen – wiederum unbewusst –, dass sie Anerkennung und Aufmerksamkeit für die richtige Emotions- und Beziehungsarbeit bekommen.

Sie beginnen, darauf zu achten, wer gerade zornig ist und wer traurig, wer Aufmerksamkeit braucht und welche Harmonisierungsarbeiten erforderlich sind. Und auch, ob es eine Situation verlangt, dass sie lieb, still, fröhlich oder interessant sind. Schon kleine Mädchen entwickeln einen feinen Sinn für Stimmungen, lernen, am Geklapper der Töpfe in der Küche zu erkennen, wie der Vater heute gelaunt ist, sie richten ihre Aufmerksamkeit auf die Signale und Stimmungen anderer. Auch beginnen sie, Verantwortung zu übernehmen und Zuständigkeit zu empfinden für die Gestaltung ihres Umfelds und die Beziehungen darin. Dabei lernen sie, dass ihnen diese Emotions- und Beziehungsarbeit auch einen gewissen Einfluss sichert. Die Aufopferung für andere kann Identität stiften – auch wenn es oft bedeutet, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und sich zu verausgaben.

Viele Frauen übernehmen die Rolle der Sorgenden nicht nur in der Familie, sondern auch im Beruf. Sie nehmen ihre Sensibilität für emotionale Ungleichgewichte und Disharmonie mit in den Beruf und übernehmen oft auch gleich die Verantwortung dafür, diese Disharmonien auszugleichen. Das Potenzial für Verausgabung liegt bei dieser Art Arbeit darin, dass sie nicht als „Arbeit“ wahrgenommen wird, überhaupt als Tätigkeit gar nicht greifbar ist, sondern als etwas Abstraktes, Moralisches, Persönliches, Altruistisches, Automatisches und nicht zuletzt Angeborenes erscheint – als etwas, das irgendwo aus dem Inneren kommt.

Auch handelt es sich um eine Tätigkeit, die meist zusätzlich und gleichzeitig neben vielen anderen Aufgaben erledigt wird. Wir wissen, dass Arbeit, bei der Menschen sich stark auf andere Menschen konzentrieren (müssen), in besonderem Maße ermüdend ist. Zwischenmenschliche Interaktion erfordert eine Form hoher Aufmerksamkeit, und es entsteht ein Gefühl von weniger Selbstbestimmtheit, weil das eigene Verhalten andauernd in Beziehung zu anderen abgestimmt wird. Beziehungsarbeit zu leisten bedeutet, dass die eigene Zeiteinteilung und der eigene Zeitfluss unterbrochen und in kleine Scheibchen fragmentiert werden, dass sie durch die Bedürfnisse anderer beansprucht und bestimmt werden. Da Frauen diese Art Arbeit aus den oben skizzierten Gründen häufiger machen als Männer, haben sie insgesamt weniger Pausen, weniger Nicht-Zuständigkeit, weniger Zeit für sich, aber auch weniger Zeit für vertieftes Arbeiten, um die eigenen Projekte oder die eigene Karriere voranzubringen.

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Diese Kümmerarbeit an sich ist nichts Negatives. Im Gegenteil, sie ist sinnstiftend und verbindend, sie macht das Zusammensein und Zusammenarbeiten nicht nur angenehmer, sondern überhaupt erst möglich. Dass Menschen sich für das Wohlbefinden anderer zuständig fühlen, ist also nicht das Problem, sondern es ist notwendig und elementar. Menschen können ohne Anerkennung, Zuwendung und Freude weder gut arbeiten, noch leben. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass die Kümmerarbeit vor allem von manchen erwartet und auch erledigt wird und dass sowohl diese manchen wie auch die Arbeit selbst abgewertet werden. Es ist wichtig, klarzustellen, dass nicht alle Frauen sich für diese Art Emotionsarbeit zuständig fühlen. Und dass es umgekehrt natürlich auch Männer gibt, die diesen Part übernehmen. Aber in der Regel wird die umsorgende Emotionsarbeit als weibliche Tugend naturalisiert und im gleichen Atemzug entwertet („Weiberkram“). Diese Abwertung wirkt sich auf Frauen und ihre Karrieren oft nachteilig aus, denn diese zusätzliche Arbeit kostet Zeit und Energie, wird aber nicht entlohnt. Ferner führen das Gefühl und der Druck, für alles, auch für Emotionsarbeit, zuständig zu sein, bei vielen Frauen nachweislich zur Ausweitung von Arbeitszeit, die Frauen oft klaglos hinnehmen und die für Erschöpfung sorgen.

So können Frauen aus der Kümmerinnen-Rolle im Job rauskommen

Die zentrale Frage ist: Wie können wir Bedingungen schaffen, unter denen Sorgearbeit von allen geleistet und gerechter verteilt werden kann? Mich persönlich überzeugt die Stoßrichtung, die Erwerbsarbeit zu reduzieren und neue Zeitmodelle zu lancieren. Im Jahr 2008 präsentierte die feministische Soziologin Frigga Haug die Vier-in-eine-Perspektive: eine „Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist.“ Sie stellt darin die patriarchale und kapitalistische Prämisse infrage, dass Lohnarbeit das Wichtigste sei und sich unser gesamtes Leben daran anzupassen habe. Ihre Forderung: andere Tätigkeiten, wie Sorgearbeit, aber auch politisches (etwa ehrenamtliches) Engagement oder kulturelle Projekte als gleichrangig mit der Erwerbsarbeit zu betrachten – auch was den zeitlichen Aufwand angeht. Nur so lasse sich eine gerechtere Verteilung von Haus- und Lohnarbeit verwirklichen.

Haugs Utopie geht davon aus, dass jeder Mensch (bei acht Stunden Schlaf) etwa 16 Stunden am Tag für die einzelnen Tätigkeitsbereiche aufwenden kann. Bei einer gerechten Verteilung von Zeit und einer Gleichwertigkeit der Tätigkeiten würde das bedeuten, dass alle Menschen etwa je vier Stunden am Tag für Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, kulturelle Selbstverwirklichung und politisches Engagement investieren können. Denn diese vier Bereiche sind für die Gesellschaft und auch für jede:n Einzelne:n wichtig. Die vier Stunden sind dabei nicht absolut, sondern nur als Orientierung gedacht. Die Idee dahinter ist, ein Umdenken herbeizuführen und nicht länger die profitorientierte Lohnarbeit als einzig anerkannte menschliche Arbeit gelten zu lassen, sondern Care-Arbeit, politische und kulturelle Arbeit aufzuwerten. Haug argumentiert, dass eine Befreiung aus der Erschöpfung innerhalb der bestehenden Strukturen nicht möglich sei. An der Erschöpfung könne nur dann etwas geändert werden, wenn die Strukturen selbst verändert würden.

Die Vier-in-einem-Perspektive hat folgende Auswirkungen:

  • Eine Verkürzung der Vollerwerbsarbeitszeit auf vier Stunden pro Tag beziehungsweise vergleichbar 20 Stunden pro Woche; das ermöglicht den Zugang für mehr Menschen, vor allem für mehr Frauen, zu Lohnarbeit.
  • Eine stärkere Einbindung von Männern in unbezahlte Sorge-, Pflege- und Hausarbeit.
  • Insgesamt mehr Zeit für die sogenannte kulturelle Arbeit, das heißt für die persönliche Entwicklung – die nicht ein Privileg der Reichen sein dürfe.
  • Für alle mehr Zeit für politisches Engagement, um die Gesellschaft aktiv mitzugestalten, anstatt politische Entscheidungen einigen wenigen zu überlassen.

Aber wie genau soll das konkret umgesetzt werden? Die zentrale Forderung ist die Verkürzung der Arbeitszeit auf vier Stunden pro Tag. Haug plädiert quasi für „Teilzeitarbeit für alle“. Teilzeit bedeutet entsprechend in der Konsequenz, dass sie die neue Vollzeit ist und verbunden sein muss mit einem Recht auf einen Arbeitsplatz. Von dem Lohn, der in der Lohnarbeit verdient wird, soll gut gelebt werden können. Das Einkommen muss eine Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben garantieren. Auf die Frage, wie mit einer 20-Stunden-Woche ein ausreichendes Einkommen garantiert werden solle, antwortet Frigga Haug mit einer Kritik der aktuellen Verhältnisse: Sie skandalisiert, wie selbstverständlich hingenommen wird, dass einige Millionen verdienen und Gewinn ansammeln, während andere an prekären Arbeitsplätzen um jeden Euro kämpfen: „Seit 30 Jahren sinken die Reallöhne, und die Gewinne steigen unermesslich – wäre da nicht woanders anzusetzen?“

Haug zufolge geht es unter anderem um eine gerechtere Verteilung von Gewinnen. Auf diese Weise kann gewährleistet werden, dass Menschen genug Zeit für die ebenfalls existenziell wichtige Sorgearbeit haben. Die Vier-in-einem-Perspektive ermöglicht, Sorge in einem umfassenden Sinne zu denken und dabei mehr Sorgfalt, Rücksicht und Zeit im Umgang mit anderen, der Natur, aber auch der Einzelnen mit sich selber zu ermöglichen. Alle Menschen, auch Männer, sollen hier ihre sozialen Fähigkeiten entfalten können. Ziel ist nicht nur ein achtsamerer Umgang der Geschlechter miteinander, sondern auch mit dem Planeten.

Die Veränderung der Gegenwart kann nur auf Basis der aktuellen, das heißt auf der Basis von unzulänglichen gesellschaftlichen Bedingungen erfolgen. Wir haben nun mal keine andere Welt als diese, in der wir unser Handeln ansiedeln können, wir müssen mit den Möglichkeiten agieren, die es gibt, wir müssen unsere Sehnsucht nach Veränderung und unser Handeln innerhalb eines falschen Systems ansiedeln. Gleichzeitig, und dazu lädt die Perspektive von Frigga Haug ein, sollten wir auch an dem Ziel festhalten, das Fundament und die Strukturen, auf denen wir Veränderung anstreben, selbst zu verändern.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Die Erschöpfung der Frauen – Wider die weibliche Verfügbarkeit“ von Franziska Schutzbach. Das Buch ist im Oktober 2021 im Droemer Knaur Verlag erschienen.

Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger

Wie sich Arbeit ändern muss, damit Frauen aus der Kümmerrolle kommen

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