Glaubst du, in Hollywood wird das Geld in der Kulturindustrie gescheffelt? Das stimmt schon lange nicht mehr. In den USA wird mittlerweile viel mehr Geld mit Computerspielen verdient als mit Filmen. 180 Milliarden Dollar Umsatz hat die Gaming-Industrie im Jahr 2020 gemacht. Mehr als die Film- und Musikindustrie zusammen.
Weil die Branche immer größer wird, arbeiten natürlich auch immer mehr Menschen bei den Spieleherstellern. Was für ein Traumjob, oder? Du kannst kreativ sein, den ganzen Tag zocken und Millionen von Menschen freuen sich über deine Arbeit. So müssen sich die rund 9.000 Mitarbeitenden von Activision Blizzard fühlen, einem der größten Computerspiel-Entwicklungsstudios der Welt. Sie haben weltbekannte Spiele erfunden und mit ihnen ganze Genres geschaffen: Diablo, Warcraft, Starcraft, Tony Hawk, Candy Crush. Hunderte Millionen Menschen sind vor ihren Geräten schon in den ausgedachten Universen versunken.
Doch Ende Juli wurde ihr Arbeitgeber angeklagt. Es solle eine „Burschenschaftskultur am Arbeitsplatz“ herrschen, in der Männer über Vergewaltigungen scherzen und Frauen routinemäßig belästigt und schlechter bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen.
Diese Klage ist ein Zeichen dafür, dass die größte Unterhaltungsindustrie der Welt die gleichen Fehler macht wie ihr großer Bruder Hollywood – und dass es nun auch für sie allerspäteste Zeit wird, sich zu verändern.
Zwei Jahre sammelte die kalifornische Behörde für faire Arbeitsbedingungen und Wohnungen, das „Department of Fair Employment and Housing“ (DFEH), Vorwürfe, analysierte Arbeitsverträge und die Firmenstruktur. Dass ausgerechnet eine staatliche Stelle die Anklage erhebt und nicht eine Privatperson, ist ein gutes Zeichen. Erstens weil es sich somit um ein öffentliches und nicht um ein privates Schiedsverfahren handelt, zweitens, weil so der öffentliche Druck, Veränderungen anzustrengen, viel größer wird.
Die Anklage selbst zählt Ungerechtigkeiten auf, sexuelle Belästigungen, verkaterte männliche Mitarbeiter, die Frauen ihre eigene Arbeit aufdrücken würden. Und sie erzählt eine grauenhafte Geschichte: Eine Mitarbeiterin hatte sich auf einer Geschäftsreise umgebracht, laut Anklage aufgrund einer sexuellen Beziehung, die sie mit ihrem männlichen Vorgesetzten hatte, der, wie die Polizei feststellte, Sexspielzeug auf eben jene Reise mitgebracht hatte. Darüber hinaus, so zeigt die Klage, sei die Mitarbeiterin zuvor am Arbeitsplatz immer wieder sexuell belästigt worden, Kollegen hätten bei einer Firmenfeier ein Nacktbild von ihr herumgereicht.
Es ist eine Anklage, die verdeutlicht, wie sehr sich die Industrie verändert. Weg von der „Bro-Culture“ hin zu einer Arbeitsatmosphäre, in der nicht der Penis und die Kumpelhaftigkeit die Aufstiegschancen bestimmen, sondern die Fähigkeiten. Immer mehr Frauen fassen in der Branche Fuß. Sie erwarten zu Recht gleiche Chancen wie ihre männlichen Kollegen. Dass die Anklage die Chance ist, nachhaltig Änderungen zu bewirken, zeigen die Reaktionen in der Szene. Youtuber:innen, die angewidert von den Vorwürfen sind, andere Entwicklerstudios, die sich mit den Betroffenen solidarisieren. Sogar bei Blizzard selbst fordern über 400 Mitarbeiter:innen Konsequenzen und protestierten am 28. Juli mit einem Streik vor der Firmenzentrale im kalifornischen Irvine – was in den USA mit ihrer Hire-and-Fire-Mentalität durchaus den Arbeitsplatz gefährdet. Es ist eine notwendige Entwicklung einer Branche, die sich vom Außenseiter zur wichtigsten Kulturindustrie des 21. Jahrhunderts entwickelt hat.
Sicher, die Corona-Pandemie hat es der Spielebranche leicht gemacht: Wir konnten die Couch ja so oder so nicht verlassen. Und das hat sich für die Branche gelohnt: Im ersten Corona-Jahr ist ihr Umsatz um 27 Prozent gewachsen. Wer in letzter Zeit versucht hat, eine Konsole oder Computerteile zu kaufen, weiß, wie groß die Nachfrage ist. Für viele waren Spiele eine Möglichkeit, Langeweile und Einsamkeit zu bekämpfen. Auch in Deutschland ist Gaming längst ein Geschäft: Die Spielehersteller sind mit einem Umsatz von rund acht Milliarden Euro genauso groß wie die Fahrradbranche.
Die Hälfte der Spielenden sind mittlerweile Frauen
Überhaupt ist Gaming schon lange kein vermeintliches Nerd-Thema mehr: In Deutschland spielen über 34 Millionen Menschen an ihren Computern, Konsolen oder Handys – die Hälfte davon ist weiblich. Das heißt aber nicht, dass Spiele besonders inklusiv sind oder sich Spieler:innen repräsentiert fühlen. Die Bitkom ist der Bundesverband, der die IT-Branche vertritt. Eine ihrer Umfragen aus dem Jahr 2019 zeigt, dass acht von zehn Frauen die Darstellung von Frauen in Spielen weder angemessen noch zeitgemäß finden – mehr als die Hälfte der Männer sieht das genauso. Olaf May aus dem Präsidium von Bitkom fasst das Problem so zusammen: „Je mehr Frauen in der Spielebranche arbeiten, umso positiver wird sich das auf das Frauenbild und die Vielfalt in Spielen auswirken.“
Aktuell sind nämlich nur etwas mehr als ein Viertel aller Beschäftigten in diesem Bereich weiblich. Was das für Folgen haben kann, steht in der Anklageschrift gegen Activision Blizzard: Sogenannte Cube Crawls, bei denen Männer sich in den Büros besoffen haben, während sie durch die kleinen abgetrennten Büroplätze, die sogenannten Cubes, krochen. Den Mangel an Frauen in Führungspositionen. Die ungleiche Bezahlung von Frauen und die Untätigkeit der Personalabteilung bei vielen dieser Beschwerden. In der Klage werden auch die mutmaßlichen Taten des mittlerweile gefeuerten Senior Creative Director Alex Afrasiabi hervorgehoben, dem es laut Anklage erlaubt war, „eklatante sexuelle Belästigungen zu begehen, ohne dass dies zu Konsequenzen führte.“
Die Vorwürfe erinnern stark an andere große #metoo-Skandale. Sei es der Weinstein-Skandal um den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, die problematische Unternehmenskultur beim chinesischen Konzern Alibaba oder auch die Diskussion über den Umgang des ehemaligen Intendanten der Berliner Volksbühne Klaus Dörr mit seinen Mitarbeiterinnen.
Immer wieder sind es toxische Strukturen innerhalb der Betriebe, die von Männern aufrechterhalten werden, begleitet von Alkohol- und Drogenkonsum. Deswegen ist es nicht überraschend, dass vor einem Jahr schon einmal eine Größe der Gaming-Industrie vergleichbaren Vorwürfen ausgesetzt war. Damals traf es Ubisoft, in deren Büros “institutionelle Belästigung” herrschen solle. Mehrere Betroffene hatten sich beschwert. Auch hier verloren leitende Angestellte ihre Posten und die Firma versprach Besserung.
Trotzdem bestehe das Problem bis heute, beklagen sich Angestellte. Kurz nachdem die Klage gegen Activision Blizzard öffentlich wurde, veröffentlichten sie einen offenen Brief. „Wir haben nicht mehr gesehen als freundliche Worte, leere Versprechungen und Unwillen oder die Unmöglichkeit, bekannte Täter zu kündigen“, schreiben sie, und, „dass in der Branche eine weit verbreitete und tief verwurzelte Kultur missbräuchlicher Verhaltensweisen herrscht.“ Es brauche echte, tiefgreifende Veränderungen in der ganzen Industrie, schließt der Brief.
Mehr Frauen einzustellen, reicht nicht
Der Kampf der Frauen in der Gaming-Branche hat schon begonnen. Die Konferenz „Womanize!“ der Initiative „Booster Space“ soll für mehr Sichtbarkeit von Frauen im Gaming-Bereich sorgen – nicht nur in der Entwicklung, sondern auch auf Gaming-Plattformen wie Twitch. Die Frauen, die hier teilnehmen, wollen sich vernetzen, inspirieren und gegenseitig helfen.
Die Initiative „Hier spielt Vielfalt“ hat Ubisoft sogar selbst unterschrieben. Die Unterzeichner:innen verpflichten sich, „sich aktiv gegen Belästigung und Machtmissbrauch einzusetzen“ und sich „für ein diskriminierungs- und angstfreies Arbeitsklima zu engagieren.“ Nun, ja. Geholfen hat es nicht.
Für Lena Alter ist das kein Wunder. Sie ist Projektleiterin bei der Konferenz Womanize! und vernetzt Frauen aus der Branche miteinander. Sie sagt: „Die Entwicklung kann nicht nur daraus bestehen, einfach mehr Frauen einzustellen.“ Gerade die jüngere Generation sei aber sensibilisiert, dass nur diverse Teams die besten Ergebnisse bringen. Es brauche einen grundsätzlichen Wandel – übrigens nicht nur in der Gaming-Branche. Alibi-Veranstaltungen oder -stellen zu schaffen, um Diversität zu zeigen, sieht Alter aber kritisch. Solchen Aktivismus vergleicht die Projektleiterin mit sinnlosem, aber publikumswirksameren Bäumepflanzen mancher Unternehmen.
Pinkwashing statt Greenwashing, das reiche einfach nicht: „Die Firmen können sich nicht einfach mit so etwas freikaufen“, sagt sie. Die personellen Konsequenzen, die Vorfälle wie bei Activision Blizzard und Ubisoft inzwischen haben, begrüßt sie dennoch. Denn das habe es bisher kaum gegeben. „Es ist zwar hart gesagt, aber wenn er oder sie nach solchen Taten nicht an sich arbeitet, dann sind Kündigungen und Schwierigkeiten, einen neuen Job zu bekommen, vielleicht auch Konsequenzen, mit denen man dann am Ende leben muss.“
Thamiris Jung ist eine der Frauen in der Spieleindustrie. Noch studiert sie an der SAE-Hochschule in Berlin Game Art und Animation, sie hat aber auch schon eine eigene Spielefirma mitgegründet. Jung überrascht es nicht, dass Sexismus ein Problem in der Gaming-Branche ist, auch wenn sie bisher nicht betroffen war. Nur dieser eine Mann, der habe sie und ihre Freundinnen merkwürdig behandelt, auf der anderen Seite sei er aber „auch generell ein Arschloch gewesen“ – auch zu den Männern.
Wie geht es also weiter?
Die Programmiererin Jennifer Scheurle hat mit ihren Spielen Preise gewonnen und arbeitet mit der NASA zusammen. Sie schreibt dazu auf Twitter: „Ich bin davon überzeugt, dass ein großer Teil der Lösung unserer Probleme in unserer Branche im kulturellen Wandel und in der kulturellen Führung liegt.“ Dazu müssten aber nicht nur die Frauen die Branche verändern. Sie schreibt nämlich auch: „Wir sind nicht in diese Branche eingestiegen, um all das zu beheben, sondern weil wir genauso wie alle anderen Videospiele machen wollten.“
Frauen wie Scheurle sind wichtig für die Entwicklung der Branche, selbst wenn sie nicht öffentlich gegen die Zustände kämpfen. Sie sind trotzdem Vorbilder. Solche Menschen braucht es, sagt Lena Alter. Und es brauche positive Gegenstücke zu den Klagen. Wenn solche Positivbeispiele auch in der Öffentlichkeit stehen würden, umso besser. „Ich höre immer wieder von Frauen, die sagen, dass sie nur in ihrer Position angekommen seien, weil sie von anderen Frauen wussten, die das Gleiche gemacht haben.“
Wie das Arbeitsumfeld in der Branche ist, hängt aber auch davon ab, in welchem Bereich man arbeitet: Jung ist 3D-Künstlerin, das heißt, sie baut zum Beispiel die Türen, die ein:e Programmier:in im Spiel später auf- und zugehen lässt. In diesem kreativen Bereich seien Frauen sogar teilweise in der Überzahl. Die Programmierer in ihrem Jahrgang seien aber ausschließlich Männer. Früher träumte Jung davon, für die Entwicklungsfirma Naughty Dog zu arbeiten, weil die ihr Lieblingsspiel „Uncharted“ herausgebracht habe. Nachdem auch bei Naughty Dog Mitarbeiter:innen die Unternehmenskultur kritisierten – in diesem Fall waren es exzessive Überstunden –, weiß sie heute nicht mehr, ob das wirklich ihr Traumjob wäre. Sexismus ist also nicht das einzige Problem dieser sich noch findenden Branche.
Am Ende könnte neben Versprechen und Initiativen eine ganz andere Sache den Anfang für Veränderungen bringen: das Geld. Nach der Veröffentlichung der Anklage fiel der Kurs der Aktie von Activision Blizzard um 15 Prozent. Investor:innen mögen keine negative Presse und fürchten die möglichen finanziellen Schäden durch Entschädigungs- und Bußgeldzahlungen. Einige Sponsoren haben schon ihre Verträge für Veranstaltungen von Activision Blizzard gekündigt. Außerdem zeigten sich zahlreiche Streamer:innen solidarisch mit den Mitarbeiter:innen oder kündigten gleich an, keine Blizzard-Spiele mehr zu streamen. Und in den Foren der Spiele und auf Reddit war die Stimmung am Boden. Auf Screenshots zeigten viele ihre Kündigungen für Spiele-Abos. Denn Alternativen gibt es genug.
Das gilt auch für die Menschen, die in der Gaming-Branche arbeiten. In den letzten Jahren hat sich die Indie-Spieleszene stark weiterentwickelt. Indie-Spiele kommen meist aus kleinen Teams, oft bilden die sich aus Freund:innen, manchmal sogar nur ein oder zwei Personen, die gemeinsam eine Idee haben und sie umsetzen wollen. Manche dieser Spiele werden sehr erfolgreich, oft begleitet von einem Hype in den sozialen Medien. Thamiris Jung kann das verstehen. In den kleinen Indie-Firmen kann man sich an verschiedenen Stellen einbringen und muss nicht für das gesamte Projekt ausschließlich Türen oder Bäume modellieren. Und weil die Teams meist sehr klein und familiär wären, wären die Probleme, die bei den großen Firmen bestehen, meist kein Thema. Oder sie fallen zumindest schneller auf.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele