Dieser Text ist provokativ. Vielleicht wirst du die Haltung der Autorin unsympathisch finden, vielleicht sogar empörend. Denn die Autorin spricht ein Thema an, das eigentlich ein Tabu ist: Sie nennt es „toxische Weiblichkeit“.
Von „toxischer Männlichkeit“ haben sehr viele schon gehört. Der Begriff beschreibt ein tiefsitzendes und seit Generationen überliefertes Verständnis davon, was männliches Verhalten ist: Der schweigsame Kerl, der rational denkt und nicht über seine Gefühle redet, der stark und dominant auftritt und Frauen sexuell erobert. Ein wichtiges Missverständnis ist, dass „toxische Männlichkeit“ eine Kritik an Männern bedeutet. Dabei sind mit dem Begriff nicht Männer gemeint, sondern eine gesellschaftliche Norm von Männlichkeit.
Die Autorin dieses Textes argumentiert, dass auch Frauen sich toxisch verhalten können. Weil die Vorstellungen von Weiblichkeit, die ihnen mitgegeben werden, ebenfalls überholt und destruktiv sind – genauso wie die normative Vorstellung von Männlichkeit es ist.
Das stereotype Bild von Weiblichkeit fällt positiver aus als das von Männlichkeit: Frauen sind demnach mitfühlend, kommunikativ, weich und hingebungsvoll. Das klingt nicht nur gut, sondern sogar moralisch überlegen. Aber in der Vorstellung, dass Frauen die besseren Menschen sind, steckt nicht weniger patriarchale Erzählung als in der vom harten Kerl, wie Esther Göbel in diesem Text beschreibt.
Der folgende Text von Meghan Daum soll deswegen wichtige Denkanstöße liefern. Für eine Diskussion, die hoffentlich weggehen kann von Wut auf „die Männer“ oder „die Frauen“ und die ein allgemein toxisches Geschlechterdenken aufbricht.
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte alle Frauen, die ich je gekannt oder kennen gelernt habe, einmal versammeln und eine informelle Umfrage mit ihnen machen:
-
Hand hoch, wenn du dich jemals schlecht benommen und es auf deine Periode geschoben hast
-
Hand hoch, wenn du dich schon einmal hilflos bei einer unangenehmen, wenn auch nicht körperlich anspruchsvollen Aufgabe verhalten hast, zum Beispiel bei einer Spinne im Haus
-
Hand hoch, wenn du jemals einen Mann zum Sex gedrängt hast, obwohl er es vielleicht nicht wirklich wollte
-
Hand hoch, wenn du dachtest, dass du diesen Druck ausüben darfst, weil Männer „es immer wollen“ und froh sein sollten, wenn sie es kriegen
-
Hand hoch, wenn du jemals damit gedroht hast, dich selbst zu verletzen, wenn ein Mann mit dir Schluss machen oder dich nicht mehr treffen wollte
-
Hand hoch, wenn du einem männlichen Partner gegenüber körperlich gewalttätig warst – in dem Wissen, dass du wahrscheinlich keine rechtlichen Konsequenzen dafür erleben wirst
-
Hand hoch, wenn du schon mal gelogen hast, dass du die Pille nimmst, oder wenn du eine Schwangerschaft vorgetäuscht hast, um zu sehen, wie ein Mann reagiert
-
Hand hoch, wenn du jemals eine Scheidung oder einen Sorgerechtsstreit zu deinen Gunsten manipuliert hast, indem du suggeriert hast, dass ein Mann dich oder dein Kind verletzt hat
Bei dieser Fantasie-Versammlung aller Frauen, die ich je kennengelernt habe oder denen ich je begegnet bin (ich stelle mir ein volles Fußballstadion vor), würde bei keiner meiner Fragen alle Hände unten bleiben, wenn die Anwesenden ehrlich wären, da bin ich mir sicher. Ich selbst habe mich an der Spinnenbekämpfungsfront schuldig gemacht. Und über einige der anderen Fragen denke ich lieber nicht zu lange nach.
Wir hören sehr viel über toxische Männlichkeit, diesen amorphen Begriff, der beschreibt, dass Merkmale wie Aggressivität und unterdrückte Gefühle männliche soziale Normen prägen. Der Begriff taucht auch häufig im Online-Feminismus auf, um verkürzt die Missbilligung von so ziemlich allem auszudrücken, was Männer tun. Aber wann werden wir den Frauen gleiche Rechte einräumen und zugeben, dass es auch toxische Weiblichkeit gibt – und dass sie genauso giftig sein kann?
Toxische Weiblichkeit kann sich im Kleinen zeigen, wenn man etwa irrationale Wutausbrüche später auf die Hormone schiebt, oder Hilflosigkeit vortäuscht, um zu bekommen, was man will. Stärker ist das Gift, wenn man die eigene Schwäche als Waffe nutzt, sodass diejenigen, die man angreift, sich schlecht wehren können, ohne selbst als Angreifer zu wirken. Frauen können diese Taktiken natürlich auch auf andere Frauen anwenden, inklusive ihrer Lebensgefährtinnen. Aber nehmen wir für diese Diskussion hier einmal an, dass wir über Frauen und Männer und Sex reden. Wir wissen bereits, dass viele Männer gesellschaftlich so konditioniert sind, dass sie meinen, Frauen wären ihnen Sex schuldig. Aber was ist mit den Frauen, die meinen, dass Männer für jeden Sex, den sie kriegen, dankbar sein sollten?
Jede:r hat die Freiheit, ein manipulatives, narzisstisches, emotional destruktives Arschloch zu sein
Ich habe in meinem Leben von unzähligen Männern Geschichten darüber gehört, wie sie Sex hatten, obwohl sie es eigentlich gar nicht wollten. Manchmal geschah es, weil sie die Gefühle einer Frau nicht verletzen wollten. Manchmal, weil sie Angst davor hatten, als Mann mit niedrigem Sextrieb wahrgenommen zu werden.
Eine bemerkenswerte Zahl an Männern hat mir von Momenten erzählt, in denen Frauen auf sie zugegangen sind und, oft wortlos, sexuelle Handlungen initiiert haben. Ohne den geringsten Anlass und ohne Fragen zu stellen – und ohne eindeutiges Einverständnis des Gegenübers. Ich habe mehr als einmal Geschichten von Männern gehört, denen als Jungs im Schulbus ungefragt einer runtergeholt wurde. Mir wurde auch von Schul-Campingtouren oder Übernachtungspartys erzählt, bei denen Mädchen, die sie kaum kannten, in ihre Schlafsäcke oder Betten schlüpften. In einigen Fällen kamen die Männer den Wünschen der Frauen gerne nach. In anderen Fällen zogen sie die Begegnungen aber auch deshalb durch, weil sie eine unangenehme Situation nicht noch unangenehmer machen wollten.
Diese Geschichten sind mir in einem Tonfall übermittelt worden, den ich nur als verblüfft beschreiben kann. Die Männer beschweren sich nicht, aber sie prahlen auch nicht. Wenn überhaupt, dann scheinen sie nur schwer die Worte für eine nicht ganz willkommene Begegnung zu finden, für die sie doch eigentlich nichts anderes als Dankbarkeit zu empfinden haben. Es versteht sich von selbst, dass sich eine ganz andere Lesart ergibt, wenn man sich eine dieser Situationen mit vertauschten Geschlechtern vorstellen würde.
Mir ist klar, dass die körperlichen Unterschiede zwischen den meisten Frauen und den meisten Männern bedeutet, dass der obige Vergleich nicht wirklich fair ist. Eine Frau, die sich sexuell aggressiv gegenüber einem Mann verhält, bringt ihn wahrscheinlich nicht in unüberwindbare körperliche Gefahr. Ich bin mir auch der Tatsache bewusst, dass es für jedes miese Verhalten, das ich in meiner Fragenliste am Anfang erwähnt habe, ein ebensolches mieses Verhalten von Männern gegenüber Frauen gibt, und dass dieses körperlich bedrohlicher ist.
Aber genau das ist mein Punkt: In einer freien Gesellschaft steht es jedem, unabhängig vom Geschlecht oder einer anderen Identifikation frei, ein manipulatives, narzisstisches, emotional destruktives Arschloch zu sein. Ich bin mir also nicht sicher, warum Männer in letzter Zeit die ganze Anerkennung dafür erhalten.
Die #BelieveWomen-Memes, die im Gefolge von #MeToo im Allgemeinen und der Brett-Kavanaugh-Affäre im Besonderen entstanden sind, folgen einem Impuls des Mitgefühls und guter Absichten. Aber sie berauben uns Frauen auch unserer Komplexität und Widersprüche und damit unserer Menschlichkeit (mehr zu den Kavanaugh- Hintergründen und zu „Believe Women” erfährst du, wenn du auf das „i“ klickst).
#BelieveWomen greift mit seiner Behauptung, dass Frauen ein einheitlicher Block sind, der von Natur aus moralischer, unschuldiger oder vertrauenswürdiger ist als Männer, nicht nur zu kurz, sondern ist beleidigend. Frauen sind keine einfachen, arglosen Geschöpfe, denen nur die unschuldigsten Motive zugeschrieben werden sollten. Beide Geschlechter sind vielschichtiger. Oder, wie der Comedian und Sozialkritiker George Carlin es ausdrückte: „Männer sind von der Erde, Frauen sind von der Erde. Kommt damit klar.“
#MeToo ist wichtig, #BelieveWomen ist eine hohle Parole
Meine Liste zu Beginn dieses Texts mit den „Hand hoch“-Fragen hat sicher manche von euch mit den Zähnen knirschen lassen. Es ist schwierig, zum Beispiel über Frauen zu sprechen, die Männer austricksen, damit sie schwanger werden. Nicht zuletzt deshalb, weil man sich dabei wie ein Teil der Männerrechtsbewegung anhört – eine lose und oft selbstzerstörerische Bewegung, die die Glaubwürdigkeit legitimer Klagen wie etwa über das System der Familiengerichte mit Frauenfeindlichkeit und Verschwörungstheorien zunichte macht.
Aber das Älterwerden bringt es mit sich, dass man im Laufe der Jahre immer mehr Menschen trifft und die verschiedenen Arten von Verwüstungen sieht, die sie anrichten können. Ich kenne Männer, die inmitten hitziger Scheidungsverfahren auf absurde Weise des Missbrauchs an Partnern und Kindern beschuldigt wurden. Ich kenne Frauen, die so geschickt in der dunklen Kunst der Manipulation sind, dass die Opfer ihrer Psychospielchen, seien es Partner oder Freund:innen, keine Chance haben. Einmal habe ich mitangehört, wie einige Highschool-Schülerinnen Witze machten. Darüber, dass sie an diesem Abend ausgehen wollten und „ältere Jungs anmachen, die nicht wissen, dass wir minderjährig sind. Und später sagen: Alter, du bist ein Pädophiler.“
Ich habe darauf vertraut, dass die Mädchen nur herumalberten und ihre Verachtung frauenfeindlicher Stereotypen über junge Frauen zum Ausdruck brachten, indem sie sich diese ironisch zu eigen machten. Ich versuchte, wie eine gute Feministin zu denken und daran, dass patriarchale Gesellschaften diese Art von manipulativem weiblichen Verhalten fördern oder sogar erzwingen, weil es oft die einzige Macht ist, die Frauen zur Verfügung steht.
Aber das ist eine Ausrede und eine schlechte noch dazu. Manche Frauen verhalten sich miserabel, weil manche Menschen sich miserabel verhalten.
Die berühmte Zeile „Feminismus ist die radikale Vorstellung, dass Frauen Menschen sind“ taucht seit den 1980er Jahren auf Autoaufklebern und T-Shirts auf. Doch weiterhin scheinen viele Feministinnen an der Idee festzuhalten, dass Frauen nach anderen Normen und Praktiken als Männer handeln und vielleicht doch nicht nur „Menschen” sind. Sie sagen, das liege daran, dass Frauen immer noch oft wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden; unterbezahlt in der Arbeitswelt, unterrepräsentiert in der Politik. Außerdem unterminiert und ignoriert, wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen.
Aber können wir das bitte in die richtige Perspektive rücken? Inzwischen gibt es eine ganze literarische Gattung – und darüber hinaus weite Teile der Mainstream-Medien –, die sich Frauen widmet, die über ihre Erfahrungen berichten. Die Geschichten rollen schneller durch meine Nachrichten-Feeds, als ich sie lesen kann, und ihre Schlagzeilen sind das perfekte Clickbait. „Danke, dass ihr uns nicht vergewaltigt habt, ihr guten Männer. Aber das ist nicht genug“, lautete etwa der Titel einer Gastkolumne der Washington Post.
Wenn wiederum Männer darüber sprechen, wie es ist, wenn man sie sexuellen Fehlverhaltens beschuldigt – oder einfach nur darüber, wie es allgemein ist, sich in der sexuellen Arena zu bewegen – besteht die einzige kulturell akzeptierte Reaktion auf sie darin, sie bestenfalls als privilegierte Jammerlappen und schlimmstenfalls als narzisstische und natürlich toxische Soziopathen darzustellen.
#MeToo ist wichtig. #BelieveWomen ist eine hohle Parole, die uns letztlich eher zurückwerfen als voranbringen wird.
Wie alle Bewegungen wird auch #MeToo in dem Maße aufleben oder absterben, wie die Aktivist:innen, die sich der Bewegung zugehörig fühlen, bereit sind, Menschen zu integrieren. Solange die Debatte keinen Platz dafür schafft, dass sie neben toxischer Männlichkeit auch toxische Weiblichkeit betrachtet – oder, noch besser, sich dieser bedeutungslosen Begriffe komplett entledigt –, wird sie weiterhin nur die Hälfte der Geschichte behandeln. Solange die Bewegung nicht zugibt, dass Frauen genauso manipulativ und gruselig und generell schrecklich sein können wie Männer, wird sie weiterhin die Botschaft aussenden, dass wir Frauen nicht wirklich ganze Menschen sind. Und warum sollte irgendjemand so etwas glauben?
Dieser Artikel ist in englischer Sprache im Oktober 2018 bei Medium erschienen.
Übersetzung: Sophie Barkey, Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Belinda Grasnick, Fotoredaktion: Verena Meyer.