Führt Stillen wieder zur klassischen Rollenverteilung zwischen Frau und Mann?

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Geschlecht und Gerechtigkeit

Führt Stillen wieder zur klassischen Rollenverteilung zwischen Frau und Mann?

Stillen oder nicht? Diese Frage scheint die Gesellschaft zu spalten. Dabei gilt für viele Menschen: Sein Baby nicht zu stillen, grenzt an Körperverletzung. Allerdings werden die Vorteile des Stillens maßlos übertrieben und ein Nachteil kaum beachtet: Durchs Stillen werden viele Paare wie sie nie sein wollten.

Profilbild von Dominik Ritter-Wurnig

Hier findet ihr Teil I, Teil II und Teil III der Serie.


Dann weinen wir alle drei. Hans schreit vor Hunger. Das Fläschchen mit abgepumpter Muttermilch halte ich direkt vor seinen Mund. Aber eher weint er sich vor Erschöpfung in den Schlaf, als vom Gummisauger zu trinken. Ich weine mit meinem Sohn, weil ich ihm das antue. Es ist mitten in der Nacht und das Babygeschrei lässt Matthäas Brüste anschwellen. Während sie Muttermilch abpumpt, weint sie still im Wohnzimmer. „Pffff, pffff“, macht die Milchpumpe im Takt, während das Wimmern aus dem Babyphone immer leiser wird.

Die Situation war absurd. Aber wir hatten ein Ziel: Ich wollte meine Elternzeit beginnen, Matthäa wieder arbeiten. Beides war nur möglich, wenn Hans Muttermilch aus der Flasche trank.

„Stillen ist Liebe“ – es kann aber auch die Familie verändern

„Muttermilch ist das Beste für ihr Kind.“ Diesen Satz liest man überall – sogar auf der Verpackung für die Ersatzmilch. Er ist gesetzlich vorgeschrieben. Wenn man heutzutage seinen Säugling nicht stillt, grenzt das in den Augen vieler an Körperverletzung. Stillen stärkt die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Aber dabei wird außer Acht gelassen, was für ein glückliches Kind ebenfalls entscheidend ist: Glückliche Eltern. Familie. Eine enge Vater-Kind-Beziehung. Und eine Partnerschaft auf Augenhöhe.

Meist läuft es ja so: Bis zur Geburt des ersten Kindes teilt das Paar ziemlich gleichberechtigt Rechte und Pflichten auf. Doch wenn das Baby da ist, kippt die Mutter in die traditionelle Kümmerrolle und der Vater ist hauptsächlich fürs Geldverdienen zuständig.

Ich bin überzeugt davon, dass das Stillen die Hauptursache dafür ist, warum viele Paare werden, wie sie nie sein wollten. Ich kenne kein Paar, in dem der Mann sich wünscht, dass die Frau zu Hause bleibt. Dass es trotzdem die Norm ist, ergibt sich aus Sachzwängen.

Wegen des Stillens geht die Mutter zuerst in Elternzeit – eine Spirale setzt sich in Gang

Man wägt die Argumente ab und entscheidet sich logisch: Das Kind soll gestillt werden, ist ja das Beste. Deshalb geht die Mutter zuerst und länger in Elternzeit. Und schon schnappt die Falle zu und die Spirale dreht sich. Die nächsten logischen Schritte folgen: Sie kann es besser beruhigen, sich besser bei Krankheit kümmern, die richtige Kita finden, weiß die Kleidergrößen – überhaupt kennt sie das Kind einfach besser.

Aus Vätersicht ist Stillen zweierlei: Super praktisch, weil man so die Ernährung komplett der Mutter überlässt. Super unpraktisch, weil man so die Ernährung komplett der Mutter überlässt.

„Vor allem im Bekannten- und Freundeskreis beobachten wir häufiger, dass Stillen dazu führt, dass das Kind automatisch deutlich mehr Zeit mit der Mutter verbringt, nicht mit dem Vater alleine sein kann (es könnte ja Hunger bekommen), nicht vom Vater beruhigt/ins Bett gebracht werden kann, etc. Bei uns hat sich das bei Kind eins nur deshalb nicht so stark ausgewirkt, da wir von Anfang an Pre-Nahrung zugefüttert haben“, schreibt mir eine Mutter und Krautreporter-Leserin.

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Die Brust ist eine Wunderwaffe

Man muss schon aktiv dagegen arbeiten, damit Väter eine ebenso nahe Beziehung zu ihren gestillten Babys aufbauen können. Das antworten auch viele Krautreporter-Leser und -Leserinnen, die bei der Umfrage zum Thema Stillen mitgemacht haben. „Der Vater muss sich sehr aktiv um eine enge Beziehung bemühen, viel kuscheln und seinen eigenen Weg mit dem Baby finden“, schreibt Fenja, die ihr Kind 28 Monate gestillt hat. Ein Vater, der seinen Namen nicht nennen will, sagt: „Mir war es wichtig, dass durch anderes auszugleichen, und zwar nicht ‚nur‘ spielen, sondern andere Routinen: füttern, wickeln, gemeinsamer Mittagsschlaf und so weiter.“ Tragen im Tuch, Massieren, Baden oder Wickeln nennen wiederum andere, um die wichtige körperliche Nähe aufzubauen.

Trotzdem bleibt ein Ungleichgewicht. Väter müssen oft stundenlang den Kasperl machen, um das Kind halbwegs bei Laune zu halten. Glücklich ist es aber erst wieder, wenn der Busen ausgepackt wird. „Bei uns war die Brust eine Art Wunderwaffe, wenn nichts mehr ging“, sagt Krautreporter-Leserin Linda. Auch unseren Keksi konnte monatelang nur Matthäa zum Einschlafen bringen. Die Aufgaben waren damals sicher nicht halbe-halbe verteilt.

Es gibt einen Stilldruck in der Gesellschaft

Nicht immer war Stillen so populär wie heute. Im 19. Jahrhundert wurden Säuglinge vor allem durch Ammen, Tiermilch oder alternative Breiprodukte ernährt. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wird das Stillen durch Mütter oder Ammen gefördert – auch mit medizinischen Argumenten, um die Säuglingssterblichkeit zu senken. In der NS-Zeit wird das Stillen ideologisch enorm überhöht. „Deutsche Mutter, du musst dein Kind stillen! Aus deiner Brust fließt die nährende Quelle, vom weisen Schöpfer mit allen Eigenschaften ausgestattet, die dem Kinde Gesundheit und Gedeihen verbürgen. […] Deutsche Mutter, wenn du stillst, tust du nicht nur deine Schuldigkeit deinem Kinde gegenüber, sondern erfüllst auch eine rassische Pflicht“, heißt es etwa in dem 1940 erschienen Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“.

In den Nachkriegsjahren überwog dann die Fortschrittsgläubigkeit und Experten empfahlen die verbesserte Milchersatznahrung. Viele Mütter dieser Generation stillten ihre Kinder überhaupt nicht. In den 1970er Jahren begann das Pendel wieder umzuschlagen und das Stillen gewann an Popularität. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt heute Säuglinge in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen und erst nach 24 Monaten komplett abzustillen.

Stillen sind 720 Stunden unbezahlte Arbeit

Mit dem Hashtag #StillenistLiebe wird Stimmung gemacht und suggeriert, dass Nicht-Stillen keine Liebe wäre. Auf Instagram wird eine rosarote problemfreie Idylle vorgegaukelt. Dabei ist Stillen auch unbezahlte Schwerstarbeit. Ein beliebtes Argument – beispielsweise bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – lautet: „Muttermilch ist kostenlos.“ Doch kostenlos ist sie nur, wenn die Zeit der Mütter nichts wert ist. Hans wurde gut und gern achtmal täglich für je eine halbe Stunde gestillt – das sind vier Stunden täglich. In sechs Monaten entspricht das 720 Stunden oder 18 vollen Arbeitswochen. Zugegeben, auch das Füttern von sogenannter Pre-Nahrung nimmt Zeit in Anspruch – aber deutlich weniger. Vor allem wäre dann das Füttern nicht die alleinige Aufgabe der Person, die sowieso schon von der Gesellschaft benachteiligt wird.

Das Bild der guten Mutter ist sehr stark mit der stillenden Mutter verknüpft, die nicht zu kurz, aber auch nicht zu lange die Brust gibt. Das geht so weit, dass heute viele Frauen einen Stillzwang empfinden. „Ich finde es wird massiv Druck aufgebaut, stillen zu müssen. Ich habe mich bei Kind zwei bewusst dafür entschieden, nicht zu stillen, aus für mich guten Gründen. Weil ich nicht wollte, nicht weil ich nicht konnte – schneller kann man sich fast gar nicht unbeliebt machen bei Frauenärztinnen, Hebammen, anderen Müttern etc.“, schrieb uns eine Mutter, die ihren Namen lieber nicht nennen will.

Mehr Mütter in Deutschland stillen

In Deutschland beginnen über 80 Prozent der Mütter ihre Babys direkt nach der Geburt zu stillen. Sechs Monate später sind es aber nur noch rund 50 Prozent der Kinder, denen überhaupt noch die Brust gegeben wird. In Norwegen werden in diesem Alter noch 80 Prozent der Babys voll gestillt. Die Stillrate ist außerdem unter Frauen mit guter Bildung deutlich höher – nicht nur in Deutschland, sondern etwa auch in den USA. Deutschland hat sich jedenfalls in einer breiten Initiative zum Ziel gesetzt, stillfreundlicher zu werden.

Matthäa kann sich nicht daran erinnern, dass sie gefragt wurde. Rund zwölf Stunden nach der Geburt sagte eine Krankenpflegerin zu ihr: „Haben Sie überhaupt schon abgepumpt?“ (Zur Erinnerung, unser Sohn kam als Frühchen zur Welt, an Anlegen war zunächst überhaupt nicht zu denken.) Nachdem sie erklärt hatte, wie die Milchpumpe funktionierte, murmelte die Krankenpflegerin im Weggehen noch: „Sie wollen doch stillen, oder?“ Die Antwort wartete sie nicht ab.

In unserem „stillfreundlichen Krankenhaus“ wird Muttermilch als Allheilmittel geschildert: Ein paar Tropfen Muttermilch vor der Blutabnahme sollen die Schmerzen durch die Nadel lindern. Das Baby hat Schnupfen? „Träufelt Muttermilch in die Nase.“ Muttermilch helfe auch gegen Allergien und schützt das Baby ähnlich einer Impfung, bekommen wir zu hören. Wir trauen uns nichtmal darüber nachzudenken, uns gegen das Stillen zu entscheiden.

Stillen war bei uns nicht natürlich – Keksi war ein Frühchen

Sofort nach der Geburt ist klar, wir müssen unseren Stillplan über den Haufen werfen. Lange hatten wir über die Elternzeit diskutiert und das Stillen war der Knackpunkt. Mir war immer klar: Ich will nicht durch die Stadt fahren, um Hans zu Matthäas Brust ins Büro zu bringen. Für mich war Pre-Nahrung auch immer eine gute Option. Denn vor allem hatte ich das Gefühl, Stillen könnte meiner Idee einer aktiven Vaterschaft im Weg stehen.

Mit einem Frühchen ist vieles anders – Hans musste acht Monate ausschließlich durch Muttermilch ernährt werden, da die Sechs-Monate-Stillempfehlung ab dem errechneten Geburtstermin gilt. Dabei konnte er ja anfangs nicht mal von der Brust trinken. Stillen sei natürlich, heißt es. Aber natürlich war am Stillen bei uns nichts. Ohne Laktaktionsberaterin und Technik hätte das nicht geklappt. Die ersten Tropfen Muttermilch hat sich Matthäa mit ihren Fingern aus der Brust gestrichen und ich habe sie über einen Schlauch direkt in seinen Magen gespritzt. In den Wochen danach pumpte Matthäa ab, Hans saugte an meinem kleinen Finger und mit der anderen Hand flößte ich ihm mit einer Spritze Muttermilch ein. Erst nach fast zwei Monaten war er stark genug und konnte selbst ausreichend Milch von Matthäas Brust saugen.

Stillen ist eine Ursache für Eisenmangel und erhöhtes Allergierisiko

So groß der Stilldruck ist, würde man wohl annehmen, dass die Vorteile auch groß sind. Dabei sind die wissenschaftlichen Beweise relativ dünn und widersprüchlich. Erwiesen ist: Ausschließliches Stillen reduziert das Risiko von Infekten, insbesondere des Verdauungstrakts. Laut einem Bericht der New York Times kann ausschließliches Stillen im ersten halben Jahr bei jedem sechsten Kind eine Ohrinfektion verhindern. Daneben werden in der WHO-Empfehlung nur noch zwei andere Vorteile des Stillens als sicher benannt: Schnellerer Gewichtsverlust der Mutter nach der Geburt (!) sowie ein längeres Ausbleiben der Menstruation (!!), womit eine (unsichere) Empfängnisverhütung einher geht.

Keine positiven Effekte durch ausschließliches Stillen konnten bei Größe, Gewicht, Übergewicht, Karies, Asthma, kognitiven Fähigkeiten oder Verhalten bewiesen werden, wie diese Meta-Studie zeigt. Auch der Effekt des Bondings zwischen Mutter und Kind durch das Stillen ist kaum wissenschaftlich belegt. Stattdessen kamen inzwischen britische Forscher zum Schluss, dass die WHO-Empfehlung zu Eisenmangel und einem erhöhten Allergierisiko beim Kind führe. Dabei hatte man noch kurz davor angenommen, Stillen würde vor Allergien schützen. Noch viel mehr Links zu Studien und Artikeln findest du, wenn du auf das „i“ klickst.

Alles in allem ziemlich wenige Vorteile für extrem viel Aufwand, wie ich finde.

Die Erkenntnislage ist auch deshalb so unübersichtlich, weil die Auswirkungen schwierig zu erforschen sind: Es wäre unethisch, Kontrollgruppen einzusetzen und damit Kindern womöglich die optimale Ernährung vorzuenthalten. Außerdem gilt die WHO-Empfehlung weltweit. Während in Industrieländern die Versorgung mit Milchpulver und sauberem Trinkwasser unbedenklich ist, kann das bei den Ärmsten in Entwicklungsländern zum Problem werden. Die WHO-Empfehlung ist dementsprechend vor allem dort sinnvoll, wo Alternativen riskant sind. Aber nicht in Deutschland.

Was in der Forschung und Gesundheitspolitik außen vor bleibt, sind die sozialen und psychischen Auswirkungen. Viele Eltern kämpfen mit Überlastung, Druck, Stress und psychischen Problemen, um die Erwartungen zu erfüllen. Paare scheitern reihenweise daran, sich die Care Arbeit fair aufzuteilen. Ich bin kein Still-Gegner. Aber ich bin überzeugt davon, dass das Stillen zu dieser Misere beiträgt.

Das Fläschchen war ein Akt der Selbstermächtigung

Die Totalverweigerung von Keksi gegen die Muttermilchfläschchen hat zum Glück nur wenige Tage angehalten. Geholfen hat mir in diesen harten Tagen ein Ratschlag: Babys haben nur eine Gedächtnisspanne von drei Tagen. Wenn du ihm drei Tage ein Fläschchen anbietest, ist es am vierten ganz normal. Unsere Nacht der Tränen haben wir mit einer Familienumarmung überwunden.

Das Fläschchen ist für mich als Vater ein kleiner Akt der Selbstermächtigung. So kann ich mich ein Stück von Matthäa emanzipieren – auch wenn sie weiter die Last für Hänschens Ernährung fast alleine trug. Es war ja ihr Körper, ihre Arbeit, die die Milch produzierte.

Das änderte sich erst, als Hans im Januar anfing Brei zu essen. Während Matthäa arbeitete, las ich Ratgeber, kochte Brei nach Rezept, fütterte Hans immer größere Portionen und putzte weg, was auf dem Boden landete. Ich zeigte unserem Keksi so lange, wie er den Mund zu öffnen hat, bis mein eigener Mund schmerzte. Nun konnte ich mich um sein Essen kümmern. Und Matthäa fragt jetzt mich, ob Hans wohl wieder Hunger hat, welcher Brei richtig ist und ob es jetzt ein guter Zeitpunkt sei, ihn zu stillen.

Jede Entscheidung beim Stillen ist die richtige

Denn trotz aller Argumente und Überlegungen: Wir haben uns für das Stillen entschieden und das ist auch gut so. Genauso gut wie jede andere Entscheidung.

Für unsere Familie war es schwierig aus der Still-Falle wieder rauszukommen. Ich denke – und ich bin dabei nicht ohne Stolz – wir haben das geschafft. Hans hat heute nicht eine, sondern zwei erste Bezugspersonen: Mama und Papa.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Produktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel.