Jenny, 35, hat zwei Väter verloren
Als mein Vater starb, standen die Reste des Mittagessens noch auf dem Tisch. Es war Nikolaustag, am Morgen hatten meine beiden Schwestern und ich noch aufgeregt nachgesehen, was der Nikolaus in unsere Stiefel gesteckt hatte, die Mandarinen, Nüsse und Süßigkeiten nachgezählt. Jetzt fragte meine Mutter meinen Vater, ob er das letzte Hähnchenbein essen wolle. Mein Vater antwortete nicht, stattdessen starrte er seltsam geradeaus. Meine Mutter fragte noch einmal, mein Vater antwortete immer noch nicht. Stattdessen sackte er wortlos über die eine Seite von der Küchenbank, ganz langsam, bis er auf dem Boden lag. Plötzlicher Herzinfarkt. Meine Mutter versuchte noch, ihn wiederzubeleben. Keine Viertelstunde später war mein Vater tot.
Ich war damals sechs Jahre alt. Unsere Mutter hat noch einmal geheiratet, zweieinhalb Jahre, nachdem mein Vater gestorben war. Wir Kinder haben unseren Stiefvater geliebt. Dann erkrankte er an einem Plasmozytom: Knochenmarkkrebs. Ich weiß noch, wie meine Mutter uns Kindern einmal beim Mittagessen sagte, dass er vielleicht sterben würde. Zu dieser Zeit lag er längst im Krankenhaus, es ging ihm sehr schlecht. Wütend schob ich meinen Teller weg, stieß meinen Stuhl zurück und rannte heulend auf mein Zimmer. Mein Stiefvater starb schließlich, als ich neun Jahre alt war. Nur acht Monate, nachdem meine Mutter und er geheiratet hatten.
In unserer Familie wurde nicht viel über den Tod beider Väter gesprochen, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Ich glaube, jede war auf eine stille, einsame Weise mit sich selbst beschäftigt – und damit, zu funktionieren. Die eigene Trauer irgendwohin zu packen, wo sie nicht allzu schmerzhaft war.
„Ein potenziell traumatisches Erlebnis ist zum Beispiel eine lebensbedrohliche Situation, oder die Beobachtung, dass jemand anderes neben mir in seinem Leben bedroht ist, oder eine schwere körperliche Verletzung genauso wie sexuelle Gewalt.“
Julia Schellong, Leitende Oberärztin
Wie traumatisch der Verlust beider Väter war, habe ich erst im Erwachsenenalter verstanden. Anders als den meisten meiner Freunde fehlt mir jegliches Grundvertrauen, eine Sicherheit in die Welt. Früher bestimmte die Angst mein Leben, in allen möglichen Situationen: Jedes Praktikum war eine riesige Herausforderung, weil ich Angst hatte zu versagen; jedes Mal, wenn ich einen Mann kennenlernte, war ich mir sicher, dass er nicht wirklich mich meinte. Und es gab Zeiten, da konnte ich mein E-Mail-Postfach nicht öffnen, weil ich ständig mit einer universellen Angst durchs Leben lief, es könnte im nächsten Moment etwas Schreckliches passieren: Eine wütende E-Mail des Chefs, eine Katastrophen-Nachricht von zuhause, mein Freund, der mit mir Schluss machen würde, bestimmt. Meine Angst schaffte es immer wieder, dass ich mir die dunkelsten aller Zukunftsszenarien ausmalte.
Sie schafft das auch heute noch. Aber nicht mehr in diesem Ausmaß. Ich bin besser darin geworden, nicht ihr, sondern mir zu vertrauen.
Und wenn ich heute, wie jetzt in diesem Moment, vom Tod meiner Väter erzähle, ergibt sich eine seltsame Situation: Beide Verluste begleiten mich mein ganzes Leben lang, und ich weiß mittlerweile, dass es immer so sein wird – aber gleichzeitig wirken die Erlebnisse so weit weg, als hätte sie eine andere Person erlebt.
Ich habe mehrmals eine Psychotherapie gemacht, vor allem die letzte hat mir sehr geholfen. Ich würde mittlerweile nicht nur sagen: Ich habe die Geschehnisse von damals gut verarbeitet. Sondern auch, dass die frühe Erfahrung eines großen Verlustes mich stark gemacht hat. Meine beiden Schwestern und ich sind sehr selbstständig – weil wir es früh sein mussten. Ich kann viel aushalten und bin stressresistent – weil ich schon sehr früh in meinem Leben viel Stress ausgehalten habe. Und ich glaube, dass mich der frühe Verlust zu einer empathischeren Person gemacht hat. Weil ich weiß, wie dunkel es plötzlich um dich herum werden kann.
Wenn ich heute auf meine Familie blicke, bin ich stolz. Wir haben alle viel geschafft, es war ein langer Weg. Der immer noch nicht zu Ende ist, denn ab und zu kreuzt die alte Trauer diesen Weg, auch die alte Angst verschafft sich manchmal noch Zugang zu meinen Gedanken. Sie ist hartnäckig. Aber wenn ich heute vor einer schwierigen Situation in meinem Leben stehe, die mir Angst macht, sagt meine Mutter zu mir: „Du hast schon so viel geschafft, das hier schaffst du auch!“ Und ich denke: „Stimmt!“
Silke, 61, hatte plötzlich Existenzängste
Die Arbeit bei der Zeitschrift war mein Traumjob: Ich konnte die Geschichten machen, die ich wollte, die Chefin war toll – und ich fühlte mich endlich: angekommen. Mein Weg war immer krumm gewesen, aber mit dem Job bei diesem Magazin hatte ich beruflich einen Ort gefunden, der passte. Ich fühlte mich sicher. Und dann, plötzlich, killte der Verlag unsere Zeitschrift. Ich weiß noch, wie wir eines Tages alle in den 13. Stock des Verlagsgebäudes gebeten wurden. Völlig ahnungslos stand ich im Fahrstuhl. Und dann platzte die Bombe: Jeder Dritte würde gekündigt werden.