Im März 2019 veröffentlichten fünf Wissenschaftler:innen eine Studie, in der sie untersuchten, wie sich Kinderkriegen auf das Einkommen der Eltern auswirkt. In allen sechs untersuchten Ländern – Dänemark, Schweden, dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten, Österreich und Deutschland – zeigte sich derselbe Effekt: Nach dem ersten Kind verringert sich das Einkommen der Mutter stark. Das Einkommen des Vaters kaum. Die Wissenschaftler:innen betiteln diesen Effekt „Child Penalties“. Auf Deutsch: Strafen fürs Kinderkriegen.
In Deutschland ist dieser Effekt am größten: Mütter verdienen bis zu zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes im Schnitt 61 Prozent weniger als im Jahr davor. Bei Männern steigt das Einkommen um durchschnittlich zwei Prozent. Die Datenerhebung für die Studie ist auf zehn Jahre begrenzt, über die Zeit danach sagt die Studie also nichts aus. Josef Zweimüller, der das Paper mit verfasst hat, macht im Interview der Süddeutschen Zeitung aber eine Prognose: „Die Lücke (zwischen dem Einkommen von Vater und Mutter, Anm. d. Red.) würde sich vielleicht noch ein bisschen verringern, aber nicht viel. Während Frauen sich um ihre Kinder kümmern, machen Männer Karrieresprünge.“
Hier siehst du, wie groß die Einkommensverluste der Mütter in den sechs untersuchten Ländern sind:
Ich habe mich gefragt: Ist es Frauen in Deutschland bewusst, was für ein finanzielles Risiko Kinderkriegen ist? Was verändert das im Leben der Frauen? Wie wird das in den Partnerschaften ausgehandelt? Und wie sieht das an einem konkreten Beispiel aus?
Deshalb habe ich mich auf die Suche nach einem KR-Mitglied gemacht und Verena Birkhold gefunden. Ich habe sie in Neureut besucht, einem Stadtteil im Norden von Karlsruhe, wo sie mit Freund und Tochter ein Einfamilienhaus mit Garten bewohnt, und die Rechnung an ihrem Beispiel durchgespielt.
Wie die Studie funktioniert
Für die Studie werteten die Wissenschaftler:innen das Einkommen von Männern und Frauen aus, die im Alter von 20 bis 45 Jahren ihr erstes Kind bekamen. Genauer: die jährlichen Einkommen in den fünf Jahren vor dem Geburtsjahr des ersten Kindes, im Jahr der Geburt, und in den zehn Jahren danach.
Mit den Daten verglichen die Wissenschaftler:innen, wie viel mehr oder weniger die Mütter und Väter nach der Geburt des ersten Kindes verdient haben. Der Vergleichspunkt: das Kalenderjahr vor der Geburt.
Sicherheitshalber betrachteten die Forscher:innen auch die fünf Jahre vor der Geburt. Diese Werte sind wichtig, um zu belegen, dass der starke Knick der Einkommenskurve tatsächlich im Zusammenhang mit der Geburt des ersten Kindes steht.
Um vergleichbare Ergebnisse zu liefern, rechneten die Wissenschaftler:innen die Parameter Alter und Kalenderjahr heraus: Ältere verdienen mehr – außerdem stiegen in den vergangenen Jahren die Einkommen.
In allen sechs Ländern passiert das Gleiche: Vor der Geburt entwickeln sich die Einkommen von Frauen und Männern ähnlich. Dort lässt sich also kaum ein Gender Pay Gap feststellen, also eine geschlechterspezifische Lohnlücke zwischen Frauen und Männern.
Nach der Geburt des ersten Kindes passiert das hier: Die Einkommenskurve der Mütter bricht stark ein und erholt sich in den nächsten zehn Jahren nie vollständig. Die Einkommenskurve der Väter bleibt stabil. Ein großer Anteil des Gender Pay Gaps lässt sich also mit Elternschaft erklären. Sie hat Einfluss darauf, ob und wie viel Männer und Frauen arbeiten und wie gut sie dabei bezahlt werden.
Vor allem Mütter kehren nach der Geburt nicht wieder in ihren Beruf zurück, oder sie arbeiten weniger. Dadurch verdienen sie nichts oder weniger. Während dieser Zeit sammeln sie weniger Berufserfahrung und nehmen weniger an Weiterbildungen teil.
Diese ersten Jahre nach der Geburt haben also einen großen Effekt: Selbst, wenn die Mütter später wieder Vollzeit arbeiten sollten, wird sich ihr Lohn weniger schnell erhöhen als der der Väter, die in den Jahren davor Vollzeit gearbeitet haben. Der Forscher Josef Zweimüller sagt im Interview der Süddeutschen Zeitung, dass die niedrige Arbeitsmarktbeteiligung von Müttern die Hälfte des Effektes ausmachen, den die Studie gefunden hat. Und: „Ein großer Teil der durchschnittlichen Einkommenseinbußen sind auf Mütter zurückzuführen, die gar nicht mehr arbeiten gehen.“
Wie ist es bei Verena?
Bei meinem Besuch sitzt Verena unter dem Kirschbaum in ihrem Garten und blickt hin und wieder zu ihrer Tochter Carlotta herüber. Die lässt gerade ihre kleinen Schuhe auf dem Wasser treiben, das Verena in die blaue Riesenmuschel gefüllt hat. Verena Birkhold wollte immer Kinder haben. Als ihre Tochter Carlotta geboren wurde, war sie 32. Das war 2017, jetzt ist Carlotta eineinhalb Jahre alt und hinterlässt überall Buntstiftspuren.
Verena arbeitete eine Zeit lang freiberuflich als Übersetzerin. Das war ihr zu unsicher, sie wollte eine Familie. Sie studierte noch einmal „was Richtiges“, Maschinenbau, und arbeitet heute als Unternehmensberaterin für eine Ingenieursgesellschaft. Sie berät vor allem die Automobilbranche.
Vor der Geburt reiste Verena viel geschäftlich herum, pendelte von Karlsruhe nach Stuttgart, wo die Firma ihren Sitz hat. In der Schwangerschaft und nach Carlottas Geburt war das nicht mehr möglich. Nach vier Monaten im Mutterschutz nahm Verena ein Jahr Elternzeit, jetzt arbeitet sie 20 Stunden in Teilzeit von zu Hause aus, während Carlotta in der Kita ist. So muss sie nicht pendeln, kann sich ihre Arbeit flexibel einteilen und sich im Notfall um Carlotta kümmern.
Ihr Freund nahm keine Elternzeit, sondern arbeitete weiter in Vollzeit. Er verdient mehr als Verena, hat aber durch seinen Sohn (aus einer früheren Beziehung) noch eine weitere finanzielle Verpflichtung als Verena. Die beiden zahlen gleich viel auf ein gemeinsames Konto ein.
Sie habe Glück gehabt mit dem Wiedereinstieg, findet Verena. Carlotta hat es auf Anhieb gut in der Kita gefallen, und ihr Arbeitgeber hatte viel Verständnis und war mit Teilzeit oder Homeoffice einverstanden. Als sie von ihrer Schwangerschaft erzählte, wurde sie beglückwünscht. Niemand fragte, wann sie denn dann wieder da sei. Stattdessen hieß es, sie solle sich Zeit lassen.
Im Homeoffice fehle ihr aber manchmal der Anschluss zum Büro, der direkte Austausch mit Kolleg:innen, meint sie. Sie mache auch „einen Tick“ weniger Fortbildungen. Bei internen Schulungen und einem Teamausflug war sie aber dabei.
Aufstocken will Verena jetzt nicht. Ihre Hand streicht über ihren gewölbten Bauch. Das zweite Kind ist unterwegs. Sie wird wieder ein Jahr Elternzeit nehmen.
Das heißt wieder ein Jahr Elterngeld statt Einkommen, wieder ein Jahr ohne Berufserfahrung und Weiterbildung, was Einfluss auf ihre künftigen Einkommen hat.
Wie hoch ist ihre Strafe fürs Kinderkriegen?
Verenas Arbeitsvertrag verbietet es ihr, das Gehalt öffentlich zu nennen. Deshalb improvisiere ich etwas. Ein durchschnittliches Bruttoeinkommen in der Unternehmensberatung liegt bei 60.000 Euro im Jahr, so sagt es ein Karriereportal. Gehen wir mal davon aus. Wichtiger sind ohnehin die Prozentangaben, das fiktive Gehalt soll es nur etwas klarer machen.
Und hier ist das Ergebnis:
2016, im Jahr vor Carlottas Geburt, (Jahr -1 in der Grafik) verdient Verena also 60.000 Euro. Im November 2017 wird Carlotta geboren, Verena konnte fast das ganze Jahr in Vollzeit arbeiten. Im Vergleich zu 2016 hat sie sogar sechs Prozent Gewinn gemacht, 3.600 Euro, die Kurve geht im Jahr 0 nach oben. Die Studie nimmt aber nicht das höchste Jahresbruttoeinkommen als Maßstab, sondern das Bruttoeinkommen im Kalenderjahr vor der Geburt. 2018, im Jahr 1 nach Carlottas Geburt, hat Verena kein Einkommen, sie ist in Elternzeit. Die Kurve fällt steil ab.
Natürlich würden die meisten Elterngeld trotzdem als „Einkommen“ bezeichnen. Bei einem Gehalt von 60.000 Euro wären das etwa 21.600 Euro, das lässt sich mit dem Elterngeldrechner ausrechnen. Die Studie aber zählt Elterngeld nicht als Einkommen. Also halte ich mich daran. Verena verdient damit 60.000 Euro weniger als 2016.
2019, in Jahr 2 nach Carlottas, arbeitet Verena Teilzeit und wird das bis zur Geburt ihres zweiten Kindes im September tun. Sie wird also voraussichtlich 36.600 Euro weniger verdienen. 2020, in Jahr 3, werden es 44.400 Euro weniger sein – vorausgesetzt, sie steigt nach der Elternzeit wieder in Teilzeit ein. Ende des Jahres 2021, Jahr 4, plant Verena, wieder in Vollzeit einzusteigen. Von da an wird sie jährlich mindestens wieder so viel verdienen wie vor der Geburt von Carlotta.
Wenn sie an ihrem Plan festhält, unterscheidet sich Verena deutlich vom Durchschnitt der Mütter in Deutschland, die 61 Prozent weniger verdienen als vor der Geburt des ersten Kindes. Trotzdem haben Verenas Kinder Einfluss auf ihr Einkommen. Die Child Penalty liegt bei ihr bei 21 Prozent, oder 126.000 Euro – für die zehn Jahre nach der Geburt.
Das ist mein Ergebnis. Als ich Verena die Grafik zeige, ist sie kurz irritiert und will die genaue Rechnung nachvollziehen. Genau aufgeschlüsselt zu sehen, wie viel man durch ein Kind weniger verdient, ist etwas anderes als zu ahnen, dass Kinder Geld kosten.
„Frauen haben schon die Arschkarte gezogen“, sagt sie. Aber sie bereut es nicht, sie würde nichts anders machen.
Was hilft?
Die sechs in der Studie untersuchten Länder unterscheiden sich, was Elternzeit, Elterngeld und Kinderbetreuung angeht. In Dänemark und Schweden sind die Einkommenseinbußen der Frauen am niedrigsten. Und sie sind am progressivsten, was gesellschaftliche Erwartungen angeht.
Die Studie untersuchte nämlich auch Gendernormen: also die von Frau und Mann erwarteten Rollenbilder. Zum Beispiel: „Ein Mann hat zu arbeiten“ und „eine Frau bleibt zu Hause bei den Kindern“.
Und tatsächlich fanden die Forscher:innen einen Zusammenhang zwischen Gendernormen und Einkommensverlust. Sie verwendeten Daten aus dem International Social Survey Program, dort wurde gefragt, ob Frauen mit kleinen Kindern zu Hause bleiben sollen. In Deutschland antworteten 35 Prozent mit ja. Das erklärt laut Forscher:innen, wieso hierzulande vor allem Frauen Elternzeit nehmen, in Teilzeit arbeiten und dadurch auf Einkommen verzichten. In Ländern mit konservativen Ansichten (Deutschland, Österreich) haben die Mütter die höchsten Einkommenseinbußen. In Ländern mit progressiveren Ansichten (Dänemark und Schweden) sind die Einbußen am geringsten.
In Deutschland nehmen Väter nur sehr kurz Elternzeit. Dafür gibt es zwei Gründe: Meistens haben Väter ein höheres Einkommen als Mütter, eine Elternzeit für sie lohnt sich also für die Familie weniger. Und dann gibt es besagte Rollenverständnisse. Das führt dazu, dass Frauen länger zu Hause bleiben. Der Forscher Zweimüller schlägt in der Süddeutschen Zeitung vor: „Das Ziel muss sein, die Einstellung der Männer zu verändern. Sonst wird der Großteil der Erziehungsarbeit weiter von Frauen gemacht.“
Es müssen also mehr Anreize für Männer geschaffen werden, Elternzeit zu nehmen. Kinderkriegen darf keinen Einkommensverlust darstellen, der nicht mehr aufholbar ist, sodass sich Eltern dafür entscheiden können, dass die besserverdienende Person (meist der Mann) zu Hause bleibt. Im Idealfall würden weder Väter noch Mütter Verluste machen, weil genug Sozialleistungen gezahlt werden. Die Entscheidung, wer Elternzeit nimmt, wäre somit keine finanzielle. Sie könnte so aufgeteilt werden, dass beide Elternteile wieder gut in ihren Beruf einsteigen können, weil sie nicht zu lange „weg“ waren.
Ob ihr Freund Elternzeit nehmen würde? „Wenn ich es hart einfordern würde“, sagt Verena. So richtig darüber gesprochen haben sie nicht. Jetzt, zum zweiten Kind, zahlt sie aber weniger auf das gemeinsame Konto ein. Schließlich wird sie wegen der Teilzeitarbeit nach Carlottas Geburt weniger Elterngeld bekommen. Verena weiß, dass Elternzeit und die Arbeit in Teilzeit für sie einen Knick in der Karriere und finanzielle Konsequenzen bedeuten, an die Rente gar nicht erst zu denken. Aber sie verbringt gerne Zeit mit Carlotta, genießt es, sie aufwachsen zu sehen. Gerade im ersten Jahr hätte sie es sich gar nicht anders vorstellen können. Karriere ist ihr nicht so wichtig, Hauptsache, sie ist finanziell unabhängig. Da muss sie sich in ihrem Beruf vermutlich keine Sorgen machen.
Ein drittes Kind will Verena trotzdem nicht. Sie glaubt, die Einschränkungen werden mit dem zweiten Kind größer – größeres Auto, größere Unterkünfte im Urlaub. Der Wiedereinstieg in den Beruf wäre nach einem dritten Kind viel zu schwierig, sagt sie. Aber so wie jetzt ist sie zufrieden und freut sich auf ihr zweites Kind.
Ihr Blick wandert mal wieder zu Carlotta. Sie hat das Planschbecken inzwischen verlassen, sitzt auf ihrem Bobbycar und singt vor sich hin. Vermutlich ein Lied, das sie aus der Kita kennt.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.