Männer hüpfen von Bett zu Bett, und Frauen halten sich sexuell zurück? Dieser Mythos ist längst widerlegt

© J.C. Leyendecker

Geschlecht und Gerechtigkeit

Männer hüpfen von Bett zu Bett, und Frauen halten sich sexuell zurück? Dieser Mythos ist längst widerlegt

Ein Wissenschaftler interpretiert seine Daten falsch – und schon hatte die westliche Welt ein unsinniges Geschlechterklischee mehr.

Profilbild von Zuleyma Tang-Martinez

Es ist ein weitverbreiteter Glaube, dass Männer von Natur aus promiskuitiv sind, Frauen dagegen schüchtern und wählerisch. Sogar viele Wissenschaftler – Biologen, Psychologen und Anthropologen – vertreten diese Ansicht. Vergewaltigungen, eheliche Untreue und auch häuslicher Missbrauch wurden darauf zurückgeführt, dass Männer eher wechselnde sexuelle Kontakte haben wollen, während Frauen sexuell eher zurückhaltend sind. Erst in jüngster Zeit haben einige Wissenschaftler dank moderner Datensätze begonnen, diesen Ansatz infrage zu stellen, und zwar sowohl die zugrunde liegenden Annahmen als auch das daraus resultierende Denkmodell.

Es geht um ein Phänomen, das Biologen „Anisogamie“ nennen: Bei den Menschen sind die weiblichen und männlichen Keimzellen sehr unterschiedlich. Spermien sind kleiner als Eizellen, ihre Produktion kostet weniger Energie. Charles Darwin war Mitte des 19. Jahrhunderts der erste, der auf diese Anisogamie als mögliche Erklärung für die Unterschiede im Sexualverhalten zwischen Mann und Frau hinwies.

Seine kurze Bemerkung dazu wurde von anderen zur Idee erweitert, dass sich Männer, weil sie Millionen von billigen Spermien produzieren, mit vielen Frauen paaren können, und zwar zu geringen biologischen Kosten. Umgekehrt produzieren Frauen relativ wenige, „teure“, nährstoffhaltige Eier; sie sollten folglich hochselektiv sein und sich nur mit dem besten Mann paaren. Der würde natürlich mehr als genug Sperma liefern, um alle Eier einer Frau zu befruchten.

Der erste, der Darwins Vorhersagen über die sexuelle Selektion und das männlich-weibliche Sexualverhalten überprüfte, war im Jahr 1948 Angus Bateman – ein Botaniker, der danach nie wieder etwas auf diesem Gebiet veröffentlichte. Er machte eine Reihe von Experimenten mit Fruchtfliegen und nutzte dabei Mutationen als Marker. Er steckte genauso viele Männchen wie Weibchen in Laborflaschen und ließ sie sich mehrere Tage lang paaren. Dann zählte er ihre erwachsenen Nachkommen und benutzte diese vererbten Mutationsmarker, um daraus abzuleiten, mit wie vielen Individuen sich jede Fliege gepaart hatte und wie viel Unterschiede es beim Paarungserfolg gab.

Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen von Bateman war, dass der männliche Fortpflanzungserfolg – gemessen an der Zahl der produzierten Nachkommen - linear zunimmt, je öfter sich die männlichen Fruchtfliegen paaren. Dagegen waren Weibchen bei der Fortpflanzung dann am erfolgreichsten, wenn sie sich mit nur einem Männchen paarten. Und Bateman behauptete dann einfach, das sei bei fast allen sich sexuell vermehrenden Arten so.

Der Vergleich einer Eizelle mit einem Spermium ist falsch

Der theoretische Biologe Robert Trivers griff 1972 auf Batemans Arbeit zurück, als er die Theorie der „elterlichen Investition“ formulierte. Sein Argument: Sperma ist so billig (geringe Investition), dass die Männchen den evolutionären Drang entwickelten, ihre Partnerin aufzugeben und wahllos andere Weibchen zur Paarung zu suchen. Die Investition der Weibchen ist viel größer (teure Eier). Deshalb paaren sich die Weibchen monogam und kümmern sich um den Nachwuchs. Trivers glaubte, dieses Muster treffe auf die große Mehrheit der Arten zu, die sich sexuell fortpflanzen.

Das Problem ist, dass moderne Daten die meisten Vorhersagen und Annahmen von Bateman und Trivers nicht unterstützen. Aber trotzdem beeinflusste das „Bateman-Prinzip“ jahrzehntelang das Nachdenken darüber, wie Evolution funktioniert. In Wirklichkeit ist es wenig sinnvoll, die Kosten für eine einzelne Eizelle mit denen eines einzelnen Spermiums zu vergleichen. Wie der Psychologe Don Dewsbury betonte, produziert ein Männchen Millionen von Spermien, um nur eine einzige Eizelle zu befruchten. Der relevante Vergleich sind folglich die Kosten von Millionen von Spermien im Vergleich zu denen einer Eizelle.

Darüber hinaus enthält das Sperma der meisten Arten biologisch aktive Substanzen, deren Herstellung vermutlich sehr teuer ist. Inzwischen ebenfalls gut dokumentiert ist die Tatsache, dass die Spermienproduktion begrenzt ist und den Männchen das Sperma ausgehen kann – Forscher sprechen dann von „sperm depletion“ (also Spermienarmut).

Wir wissen inzwischen, dass Männchen einem bestimmten Weibchen mehr oder weniger Sperma zuteilen können, das ist abhängig von ihrem Alter, ihrer Gesundheit oder ihrem vorherigen Paarungsstatus. Bei einigen Arten kann es sogar vorkommen, dass sich die Männchen weigern, sich mit bestimmten Weibchen zu paaren. Das männliche Paarungsverhalten ist mittlerweile ein besonders attraktives Forschungsgebiet.

Wenn Spermien so preiswert und unbegrenzt wären, wie Bateman und Trivers es unterstellen, warum gibt es dann Spermienarmut, Spermienzuteilung? Warum gibt es dann überhaupt männliche Paarungsstrategien?

Die Annahmen über Frauen stimmen nicht mit der Realität überein

Vögel haben eine entscheidende Rolle bei der Beseitigung des Mythos gespielt, Weibchen seien monogam. Noch in den 1980er Jahren galten etwa 90 Prozent aller Singvogelarten als monogam. Das bedeutet, ein Männchen und ein Weibchen paaren sich ausschließlich miteinander und ziehen ihre Jungen gemeinsam auf. Heutzutage werden nur etwa 7 Prozent als monogam bezeichnet.

Moderne Vaterschaftsanalysen zeigen, dass sowohl Männchen als auch Weibchen oft Nachkommen mit mehreren Partnern produzieren. Forscher sprechen dann von „Extra-Paar-Kopulationen“ und „Extra-Paar-Befruchtungen“.

Viele Wissenschaftler gingen zunächst davon aus, dass die promisken Männchen die zurückhaltenden Weibchen zu sexuellen Aktivitäten außerhalb ihrer Beziehung zwangen. In Beobachtungen wurde aber schnell klar: Weibchen suchen aktiv nach Männchen außerhalb der Beziehung.

Die Häufigkeit von Extra-Paar-Kopulationen und -Befruchtungen variieren stark von Art zu Art. Der prächtige Prachtstaffelschwanz ist eigentlich ein sozial monogamer Vogel, aber ein extremes Beispiel dafür, dass oft Konkurrenten im Spiel sind: Denn 95 Prozent der Gelege enthalten Jungtiere, die von fremden Männchen gezeugt wurden, und 75 Prozent der Jungen haben fremde Väter.

Dies gilt nicht nur für Vögel – im gesamten Tierreich paaren sich die Weibchen häufig mit mehreren Männchen und produzieren Nachwuchs mit mehreren Vätern. Tatsächlich kam Tim Birkhead, ein bekannter Verhaltensökologe, in seinem Buch „Promiscuity: An Evolutionary History of Sperma Competition“ zu dem Schluss: „Generationen von Reproduktionsbiologen nahmen an, dass Weibchen sexuell monogam sind, aber jetzt ist es klar, dass dies falsch ist.“

Ironischerweise enthält ausgerechnet Angus Batemans eigene Studie über Fruchtfliegen den Gegenbeweis für seine These, dass der weibliche Reproduktionserfolg nach der Paarung mit nur einem Männchen besonders groß sei. Als Bateman seine Daten präsentierte, tat er dies mithilfe von zwei verschiedenen Grafiken; nur eine Grafik (die weniger Experimente darstellte) führte zu seinem Schluss. Die andere Grafik – die in späteren Abhandlungen weitgehend ignoriert wurde – zeigte, dass die Zahl der Nachkommen, die ein Weibchen auf die Welt bringt, mit der Zahl der Männchen zunimmt, mit denen es sich paart.

Weibchen, die sich mit mehr als einem Männchen paaren, produzieren mehr Nachkommen. Das gilt für eine breite Palette von Arten, wie aktuelle Studien gezeigt haben.

Warum sahen die Wissenschaftler nicht, was vor ihren Augen lag?

Darwins Schriften waren stark von den kulturellen Überzeugungen des viktorianischen Zeitalters (1837 bis 1901) beeinflusst. Damals waren soziale Einstellungen und Wissenschaft eng miteinander verflochten. Der allgemeine Glaube war, dass Männer und Frauen radikal unterschiedlich sind.

Männer galten als aktiv, kämpferisch, variabler, entwickelter und komplexer. Frauen wurden als passiv und fürsorglich angesehen, auf einer Entwicklungsstufe, die der eines Kindes entspricht. Von „wahren Frauen“ wurde erwartet, dass sie rein, den Männern unterworfen und nicht an Sex interessiert sind. Diese Vorstellung wurde nahtlos auf weibliche Tiere übertragen.

Diese Stereotypen haben das 20. Jahrhundert überdauert und die Forschung über die sexuellen Unterschiede zwischen Weibchen und Männchen im Verhalten der Tiere beeinflusst. Viele Wissenschaftler sahen Promiskuität bei Männchen und Schüchternheit bei Weibchen, weil sie das erwarteten und weil ihnen das die Theorie – und die gesellschaftliche Denkweise – vorschrieb zu sehen.

Der Fairness halber sei gesagt, dass es vor dem Beginn der molekularen Vaterschaftsanalyse äußerst schwierig war, genau festzustellen, wie viele Paarungen ein Individuum tatsächlich hatte. Es ist auch erst seit kurzem möglich, die Spermienzahl genau zu messen, was zur Erkenntnis führte, dass Spermienkonkurrenz, Spermienverteilung und Spermienarmut wichtige Phänomene in der Natur sind. So trugen diese modernen Techniken auch dazu bei, Stereotypen des männlichen und weiblichen Sexualverhaltens aufzulösen, die seit mehr als einem Jahrhundert akzeptiert worden waren.

Batemans Ergebnisse sind nicht nachvollziehbar

Es stellt sich die Frage, ob Batemans Experimente wiederholbar sind. Da die Replikation ein wesentliches Kriterium der Wissenschaft ist und Batemans Ideen zu einem unbestrittenen Grundsatz der Verhaltens- und Evolutionswissenschaften wurden, ist es schockierend, dass mehr als 50 Jahre vergingen, bevor ein Versuch zur Wiederholung der Studie veröffentlicht wurde.

Die Verhaltensökologin Patricia Gowaty und ihre Mitarbeiter hatten zahlreiche methodische und statistische Probleme bei Batemans Experimenten gefunden; als sie seine Daten neu analysierten, konnten sie seine Schlussfolgerungen nicht nachvollziehen. Anschließend wiederholen sie Batemans entscheidende Experimente mit genau den gleichen Fliegenstämmen und Methoden – und konnten weder seine Ergebnisse noch seine Schlussfolgerungen reproduzieren.

Das „Bateman-Prinzip“ befindet sich derzeit im Zentrum einer ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung. In der Untersuchung des Sexualverhaltens könnte es zu einem Paradigmenwechsel kommen. Denn einfache Erklärungen des Sexualverhaltens sind einfach nicht mehr haltbar.


Zuleyma Tang-Martinez ist emeritierte Biologie-Professorin an der Universität von Missouri in St. Louis. In ihrer Forschung konzentriert sie sich auf das Sozialverhalten von Tieren, mit Schwerpunkt auf den Mechanismen, der Entwicklung und der Funktion des Sozialverhaltens von Wirbeltieren.

Diesen Artikel hat auf Englisch The Conversation veröffentlicht. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen. Übersetzung und Produktion: Vera Fröhlich; Redaktion: Philipp Daum; Bildredaktion: Martin Gommel.

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