Es begann mit einem Anruf – oder besser gesagt mit mehreren. Freundinnen von uns telefonierten sich im vergangenen Jahr durch Hamburg, Berlin und Frankfurt. Sie suchten eine Hebamme. Eine Frau hinterließ fünf Nachrichten auf der Mailbox, bis die Hebamme irgendwann versprach, sie noch dazwischenzuschieben. Eine andere Freundin wurde mit Wehen in einem Minibus, voll mit weiteren Hochschwangeren, quer durch Berlin gefahren, bis endlich eine Geburtenstation sie aufnahm. Es häuften sich Berichte, wie in ganz Deutschland Geburtsstationen schlossen und Hebammen die Geburtshilfe einstellten.
In der Zeit, in der unsere Freundinnen nach Hebammen suchten, bereiteten wir gerade eine Reise nach Bangladesch vor. Seit ein paar Jahren berichten wir regelmäßig aus Südasien. Bei der Recherche für die Reise stießen wir auf eine Überraschung: In Bangladesch gibt es den Beruf der Hebamme erst seit ein paar Jahren. 2012 wurden dort eine Berufsordnung und die Ausbildung für Hebammen geschaffen. Das Ziel: die Müttersterblichkeit im Land zu senken.
Mehr als 5.000 Frauen sterben in Bangladesch pro Jahr bei der Geburt, fast 33 Mal mehr als in Deutschland. Zwar ist die Sterblichkeitsrate im Land seit den Neunzigern kontinuierlich gesunken. Doch von den Millennium-Entwicklungszielen der Vereinten Nationen – die Mütter- und Kindersterblichkeit drastisch zu senken – war man weit entfernt. Bis 2015, verkündete Premierministerin Scheich Hasina Wajed dann öffentlich, sollten 3.000 Hebammen dabei helfen.
Etwa alle zwei Minuten stirbt auf der Welt eine Frau bei der Geburt oder an Schwangerschaftskomplikationen. Die Frauen verbluten, erliegen Krämpfen, sterben an Infektionen. Das Tragische daran: Mehr als achtzig Prozent aller Todesfälle von Müttern wären vermeidbar, wenn Hebammen sie umfassend betreuen würden. Hebammen können bis zu 87 Prozent der gesamten Versorgung leisten, die eine schwangere Frau oder junge Mutter und ihr Neugeborenes brauchen.
Das hat uns erstaunt: Hebammen, das wussten wir, sind wichtig. Aber lebenswichtig?
Zwei Wochen lang recherchierten wir in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka und im Flüchtlingslager in Cox’s Bazar, dem größten Badeort des Landes. Wir wollten wissen: Wie haben die Hebammen das Land verändert? Das Rollenbild der Frauen? Was kann man daraus lernen? Wir merkten schnell: Wie eine Gesellschaft mit Schwangeren umgeht, sagt viel über die Gleichberechtigung in einem Land aus.
Wer über den Körper einer (schwangeren) Frau entscheidet
In der Acht-Millionen-Stadt Dhaka begleiteten wir die Hebamme Afroja Akter. Sie besuchte eine junge Mutter. Die warme Luft roch nach Abgasen und überreifen Bananen, in der Ferne dröhnte das immerwährende Hupen des Verkehrs. Das Kellerzimmer war dunkel. Auf dem Bett lag ein 17 Tage alter Junge. „Schwester, schau mal“, sagte Afroja zur Mutter, als sie über das Gesicht des Säuglings strich. „Seine Augen sind gelblich. Er braucht Tageslicht.“ „Aber ich kann nicht raus“, sagte die 25-Jährige, „draußen sind so viele Menschen.“
Die Frau war Hindu. In der strengen Auslegung des Hinduismus gelten Frauen kurz nach der Geburt als unrein. Deshalb verlassen einige von ihnen in den ersten Wochen nach der Entbindung nicht das Haus. „Morgens zehn Minuten, das reicht“, sagte Afroja Akter.
Afroja Akter auf dem Weg zur Arbeit. Ihre Ausbildung wurde unter anderem vom britischen Entwicklungsministerium finanziert. © Fabeha Monir
Akter, 23 Jahre alt, pinkfarbenes Kopftuch und pinkfarbenes Kleid, arbeitet seit Mai 2018 als Hebamme. In der Zeit hat sie etwa hundert Babys auf die Welt gebracht. Sie klärt Schwangere über Gelbsucht bei Neugeborenen auf und hilft Müttern beim Stillen. Geburtsbegleitung, Vorsorge und Nachsorge – es sind dieselben Leistungen, die auch ausgebildete Hebammen in New York, London oder Stockholm anbieten; dieselben Leistungen, die auch unsere Freundinnen in Hamburg suchten.
Der Unterschied aber ist: Afroja Akter gehört zu den Pionierinnen dieser Profession; politisch gewollt, um die Müttersterblichkeit des Landes zu verringern. Die Überlegung hinter dem Schritt der Premierministerin war simpel: Die meisten Mütter sterben in den Ländern mit den wenigsten Hebammen. Hebammen sind günstiger als Ärzte, die Ausbildung einfacher und kürzer, sodass sie auch in entlegenen Gebieten Frauen versorgen können.
Doch die Umsetzung in Bangladesch ist kompliziert. Es ist eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt. Knapp die Hälfte aller Frauen gebärt zu Hause. Familienmitglieder oder Dais, traditionelle Geburtshelferinnen, assistieren bei der Geburt – weil viele Menschen abgeschnitten von medizinischer Versorgung leben oder Glaube und Traditionen sie davon abhalten, ins Krankenhaus zu gehen.
Das bedeutet häufig: Die Männer entscheiden, wie und wo eine Frau gebärt. Eine Textilarbeiterin in Dhaka, im vierten Monat schwanger, flüsterte der Hebamme Afroja Akter zu, ihr Mann wollte, dass sie für die Geburt zurück in ihr Heimatdorf ginge, wie sie es zuvor getan hatte. Sie aber wollte im Krankenhaus gebären. Die Frau hatte Angst: Ihr erstes Kind war bei der Geburt gestorben.
Akters Vater, ein Händler für Fahrradzubehör, hatte sich gewünscht, dass seine mittlere Tochter Medizin studiert. Aber ihre Schulnoten reichten nicht aus. “Die Ausbildung war eine gute Alternative”, sagte sie uns. Die drei Jahre waren kostenlos, finanziert unter anderem vom britischen Entwicklungsministerium. Als sie die Ausbildung anfing, wusste Afroja Akter zuerst nicht, was genau eine Hebamme ist. Dann lernte sie, was das Stillen mit körperlicher Nähe zu tun hat und dass man Neugeborenen mit schwachem Immunsystem keinen Honig geben sollte – entgegen der Tradition vieler Familien.
Was uns in Bangladesch besonders auffiel: der Stolz, mit dem die Hebammen ihren Beruf ausüben. © Fabeha Monir
Auch viele Bürger in Bangladesch wissen nicht, was genau eine Hebamme macht. Angehörige fragten bei der Geburt irritiert, wo der Doktor bleibe, erzählte Afroja Akter. Einmal rief eine Schwiegermutter: „Wie soll dieses kleine Mädchen, unverheiratet und kinderlos, unseren Enkel auf die Welt bringen?“ Akter, 1,52 Meter groß und zart wie eine 13-Jährige, lachte. Inzwischen sei sie gelassen. „Ich erkläre immer wieder, dass ich für Geburten ausgebildet bin.“ Und auf dem Weg ins Geburtshaus sagte sie: „Die meisten wissen es einfach nicht besser.“
Die Ermächtigung fängt bei den Hebammen selbst an
In vielen Entwicklungsländern erfüllen Hebammen Aufgaben, die in Deutschland Lehrerinnen, Eltern und Ärztinnen übernehmen: Sie klären auf, informieren über Geschlechtskrankheiten und Abtreibungen (was im muslimisch-konservativen Bangladesch übrigens „menstruelle Regulation“ heißt) und verschreiben die Pille.
Im Flüchtlingslager Kutupalong in Cox’s Bazar, wo seit vergangenem Jahr knapp eine Million Rohingya leben, verhelfen Hebammen Frauen zum ersten Mal zu so etwas wie zu körperlicher Selbstbestimmung. 70 Prozent der Bewohner sind Frauen und Mädchen. In ihrer Heimat Myanmar haben sie nie Krankenhäuser besucht, Verhütungsmethoden kennen sie nicht.
Das Hope-Field-Krankenhaus, das sich auf Frauen und Kinder spezialisiert hat, wirkte im Gewusel des Camps wie eine Ruheoase. Von der Hauptstraße führte eine Treppe hinunter in ein kleines Dorf aus grün und blau lackierten Wellblechhäusern. In der Aufnahmestation begleiteten wir Kanata Akter, 21 Jahre alt, die leitende Hebamme des Krankenhauses. Ihr weißer Hijab mit pinkfarbenen Blumen war farblich abgestimmt auf den pinkfarbenen Kittel, dem unverkennbaren Merkmal ihrer Zunft.
An einem Tag saß Halima im Sprechzimmer. Die 19-jährige Rohingya war schwanger, hatte bereits zwei Kinder, ihr jüngstes kam vor acht Monaten zur Welt. Die Abtreibungspille, für die sie hergekommen war, schluckte sie, ohne zu zögern. Ihr Ehemann sei damit einverstanden, murmelte sie, während sie ihre schmalen Knöchel knetete. Kanata Akter erzählte: „Viele Frauen kommen auch heimlich.“ Und die Hebammen fragen nicht nach.
Obwohl bereits bis zu 40 Frauen täglich zu Vor- und Nachuntersuchungen ins Krankenhaus kamen, brachten die wenigsten ihre Kinder im Krankenhaus zur Welt, erzählte uns Kanata Akter. „Die Gemeinschaft hier ist sehr konservativ“, sagte sie. Was sie damit meinte: Die Frauen haben Angst. Davor, Männern zu begegnen, dass die Ärzte ihren Babys etwas antun oder ihnen selbst. Solche Gerüchte machten unter Rohingya-Frauen im Camp die Runde, sie erzählten uns selbst davon.
Die Hebamme Kanata Akter sagt: „Viele Frauen kommen auch heimlich.“ © Fabeha Monir
Kanata Akter erinnerte sich, dass es in ihrem Heimatort Ramu, nahe dem Urlaubsort Cox’s Bazar, normal war, dass Nachbarinnen bei der Geburt starben. Sie fragte sich, wieso. Mit zehn musste sie wegen einer Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus und war fasziniert von den Krankenschwestern, die so viel wussten. Damals beschloss sie, in die Medizin zu gehen. Ihre Ausbildung zur Hebamme schloss sie im Februar 2018 ab. Der Unterricht lehrte sie alles über den weiblichen Körper und damit auch ihren eigenen. Bis dahin glaubte sie, Kinder kämen aus dem Anus.
Hebammen, das merkten wir schnell, kämpfen jeden Tag für die Rechte der Frauen – auch für ihre eigenen. Was uns besonders auffiel war der Stolz, mit dem sie ihren Beruf ausübten.
Die meisten von ihnen waren Anfang 20. Mehr als die Hälfte der Frauen in Bangladesch werden noch vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. Die 21-Jährige Kanata Akter aber lebt allein in einem Frauenhostel anstatt bei ihrer Familie. Sie verdient ihr eigenes Geld – und ist damit so etwas wie eine Rebellin. Sie habe gelernt, ihre Stimme zu erheben. Auch ihre Familie höre jetzt auf sie.
Kanata Akter kicherte zwar, als wir sie nach ihren eigenen Heiratsplänen fragten. „Es ist jetzt nicht die Zeit dafür. Es ist die Zeit für meine Karriere“, antwortete sie. Sie würde gern im Ausland studieren und internationale Hebammenexpertin werden. Was sie an ihrem Beruf besonders möge? Sie lachte, zeigte auf das Krankenhaus und sagte: „Hier bin ich die Königin.“
Das Flüchtlingslager Kutupalong in Cox’s Bazar. © Fabeha Monir
Statistisch kann man noch nicht nachweisen, wie die Hebammen die Müttersterblichkeitsrate in Bangladesch beeinflussen. Rondi Anderson, die Hebammenspezialistin des UN-Bevölkerungsfonds in Dhaka, hofft, dass dies in etwa zehn Jahren möglich ist. Insgesamt bräuchte man etwa 22.000 Hebammen, um alle Mütter betreuen zu können. Bislang arbeitet nur ein Zehntel davon.
Doch dazu kommen noch andere Schwierigkeiten. Es gibt keine erfahrenen Kollegen, die neu ausgebildete Hebammen anleiten. Manche Kliniken setzten die Hebammen wieder als Krankenschwestern ein und nicht im Kreißsaal. Außerdem fehlten Medikamente, erzählt Rondi Anderson: „Bangladesch steht noch am Anfang.“
Was das mit uns zu tun hat
Als wir nach Deutschland zurückkehrten, hatten wir einen neuen Blick auf Hebammen gewonnen. Natürlich kann man die Situation hier nicht mit Ländern wie Bangladesch vergleichen. Die Müttersterblichkeit in Deutschland ist eine der niedrigsten der Welt. Schulen klären über Sexualität auf. Schon junge Mädchen gehen zum Gynäkologen. Die meisten Geburten finden in Krankenhäusern statt, wo im Zweifel schnell geholfen werden kann.
Aber auch hier können Frauen sich nicht überall unbeschwert auf die Geburts- und Schwangerschaftsbetreuung verlassen. Allein zwischen 2008 und 2010 haben 25 Prozent der freiberuflichen Hebammen die Geburtshilfe aufgegeben. Sie leisten nur noch Wochenbettbegleitung. Häufig, weil sie sich die hohen Versicherungsbeiträge nicht leisten können. Die Zahl der Geburtsstationen in Deutschland ist in den zehn Jahren bis 2016 um etwa 20 Prozent zurückgegangen. Eine Landkarte der Unterversorgung zeigt ein (nicht repräsentatives) Bild davon, wer wann wie keine Hebamme gefunden hat.
Als wir nach der Recherche mit Schwangeren, Hebammen und Frauenärztinnen aus Deutschland sprachen, begriffen wir: Hier geht es um mehr als um die Wegrationalisierung medizinischer Versorgung. Es geht darum, dass dadurch einer der wichtigsten Quellen weiblicher Selbstbestimmung gefährdet wird.
Geburtshilfe war schon immer eine solidarische Tätigkeit unter Frauen, die in der Geschichte der Menschheit zwischen Anerkennung und Verteufelung schwankte. Bis ins Mittelalter hinein waren Hebammen auch in Deutschland die Einzigen, die über das Wissen verfügten, das Frauen ein klein bisschen Macht über ihr Leben gab. Männern war es nicht erlaubt, bei einer Geburt dabei zu sein.
Je weiter der Berufsstand und damit auch die Versorgung von Frauen reifte, desto größer wurde ein neuer Konflikt: der zwischen Ärzten und Hebammen, zwischen Geburt-als-Krankheit und Geburt-als-Ermächtigung; für viele auch: zwischen Männern und Frauen.
„Es ist hauptsächlich eine Profession von Frauen für Frauen. In einer Gesellschaft, in der Frauen nicht ermächtigt sind, haben weder Hebammen noch Schwangere Entscheidungsmacht“, sagt Michaela Michel-Schuldt. Die Mainzerin war die erste von der UN entsandte Hebamme in Bangladesch. Auch, wenn es bisher keine Studien zu dem Thema gibt, ist sie sich sicher: „Ich nehme an, dass in Ländern mit größerer Gleichberechtigung der Hebammenberuf stärker ist.“
In Deutschland gibt es viele Themen, die schwangere Frauen umtreibt: eine grobe Kreißsaal-Kultur etwa. Frauen fühlen sich in einem sehr verletzlichen Moment ausgeliefert und allein gelassen. Sie können nichts dagegen tun, dass der Arzt seine Hand unangekündigt einführt, ohne Erklärung auf ihren Bauch drückt, sie vielleicht sogar anschreit oder beleidigt. Für manche Frauen wird Geburt zum Trauma, dass sie jahrelang verarbeiten müssen.
Schwangerschaft und Geburt, beklagen Hebammenverbände, würden auf ein riskantes Lebensereignis reduziert, das medizinisch „korrigiert“ werden müsse. Tatsächlich wird jedes dritte Kind in Deutschland per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. Deutschland liegt damit über dem EU-Durchschnitt und weit über der von der WHO empfohlenen Obergrenze von zehn bis 15 Prozent. Auch hier zeigt sich, dass Hebammen wichtig sind, um ihr wichtigstes Anliegen zu vertreten: eine natürliche und sichere Geburt.
Und so funktionierte der Blick nach Bangladesch für uns als Erinnerung daran, dass Hebammen nicht nur helfen, Kinder zur Welt zu bringen oder sie im Anschluss zu stillen. Sie sind einer der wichtigsten Grundpfeiler weiblicher Selbstbestimmung und Ermächtigung – um die gerade ein Land wie Deutschland doch kämpfen sollte.
In dem kleinen Geburtshaus, in dem die Hebamme Afroja Akter arbeitet, konnte man sehen, wie sie einen Unterschied macht. Sie nahm sich Zeit, erklärte den Frauen, was ihnen vorher niemand beigebracht hatte.
Dort wurden vergangenes Jahr mehr als 500 Babys geboren. Die Familien schienen also offen zu sein, abseits von Ärzten und traditionellen Geburtshelfern zu entbinden. Auch wenn es sicher noch eine zweite Generation an Hebammen braucht, um die Profession zu etablieren – Afroja Akter scheint von den Frauen im Viertel angenommen zu werden.
„Du weißt am besten, was für deinen Sohn richtig ist“, ermunterte sie die Mutter, deren kleiner Sohn an Gelbsucht litt. Dann stellte sie die Neugeborenen-Waage auf. 3,2 Kilogramm. Der Säugling hatte seit seiner Geburt zugenommen. Die Mutter versprach Afroja Akter, dass sie am nächsten Tag rausgehen würde. Zehn Minuten, ganz früh am Morgen.
Diese Recherche wurde vom European Journalism Centre finanziert.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.