Ich sehe mich noch in der Praxis sitzen, die Ärztin blickt mich prüfend an. Über ihren Schreibtisch schiebt sie mir einen kleinen Plastikbecher rüber, darin eine Tablette. „Wenn Sie das jetzt nehmen, gibt es keinen Weg mehr zurück“, sagt sie. „Dann stirbt der Embryo in Ihrem Bauch.“
Ich starre den Becher an. Die Pille darin ist klein, weiß und rund. Unscheinbar sieht sie aus, unschuldig. Nichts deutet auf ihre Wirkung hin.
Ich spüre, wie Panik in meinem Kopf schießt. „Okay, will ich das jetzt wirklich? Ist es das jetzt?“, frage ich mich ein letztes Mal. Aber mein Bauchgefühl ist klar. „Bloß nicht heulen!“, denke ich, „du hast diese Entscheidung wochenlang abgewogen, in alle erdenklichen Richtungen!“
Ich weiß: Ich möchte dieses Kind nicht. Nicht jetzt.
Ich vertraue auf meine Entscheidung und nehme die Pille aus dem Becher. Ich lege sie in meinen Mund, schlucke. Und spüle mit einem großen Schluck Wasser nach.
Ich muss irgendwann in den ersten Tagen nach meinem Umzug schwanger geworden sein. Ich war 22 Jahre alt und wohnte in München, mein Freund Lars, einige Jahre älter als ich, lebte in Berlin. Wir waren seit einem Jahr zusammen, glücklich, auch wenn wir uns nur alle zwei Wochen sehen konnten. Lars stand schon sicher im Berufsleben, ich beendete in München meine Hotelfachausbildung – die ich hasste. Alles an dieser Ausbildung war stressig. Die Kollegen, die langen Arbeitszeiten, die Arbeit an sich.
Ich zog an dem Tag nach Berlin zu Lars, an dem ich meine Abschlussprüfung in München hinter mich gebracht hatte. Keinen Tag länger wollte ich in dieser Stadt bleiben. Ich wollte weg, so schnell wie möglich. Weg zu Lars. Er kam mich abholen, viel war es nicht, was wir in sein Auto laden mussten; mein ganzes kleines Münchner Leben passte in seinen Pkw. Ich war so fertig, dass ich während der ganzen Autofahrt nach Berlin schlief.
Als wir am Abend ankamen, trafen wir uns noch mit meiner besten Freundin, die zu diesem Zeitpunkt schon in Berlin lebte. Einerseits war ich erleichtert, dass ich nun bei Lars und bei ihr sein konnte, dass ich nie mehr einen Fuß in das Ausbildungshotel in München setzen musste. Ich saß im Schummerlicht der Bar und malte mir mein neues Leben aus: Wie ich mein Abitur nachholen würde, um danach studieren zu können, wie ich mir ein neues Leben in der fremden Stadt aufbauen würde, mit einem eigenen Freundeskreis, und nach der ersten Zeit auch mit einer eigenen Wohnung. Die Zukunft glühte.
Ich wusste, dass ich schwanger war, bevor ich den Test machte
Gleichzeitig war ich so erschöpft; der Umzug, der Prüfungsstress, die ganze Aufregung. Dadurch musste sich letztlich mein Zyklus verschoben haben. Lars und ich verhüteten nach Kalender. Vor der Beziehung mit ihm hatte ich die Pille als Verhütungsmittel zweimal ausprobiert, auch den Novaring; jedes Mal war es eine Katastrophe gewesen, hatte ich mich unter den Hormonen stark verändert: Aggressionsschübe, Stimmungsschwankungen, Gereiztheit; ich hatte mich selbst nicht mehr leiden können. Von der Spirale hatte mir meine Frauenärztin abgeraten, „nicht vor dem ersten Kind!“, hatte sie gesagt. Kondome waren für uns beide keine dauerhafte Lösung, also verhütete ich auf natürliche Weise, was bei meinem regelmäßigen Zyklus einfach war. Fruchtbare Tage: kein Sex. Unfruchtbare Tage: alles okay. Und da Lars und ich uns durch die Fernbeziehung sowieso nur ein paar Tage im Monat sahen, konnte ich gut den Überblick behalten – jedenfalls so lange meine Tage wirklich nach Kalender kamen.
Ich wusste, dass ich schwanger war, noch bevor ich den Test machte. Lars hatte mir zu meiner Abschlussprüfung eine Reise nach Paris geschenkt, an einem kalten Februarwochenende flogen wir hin. Wir spazierten durch die Straßen, sahen uns Sacré-Coeur an, den Louvre, den Eifelturm. Ich liebte es, an den kleinen Tischen vor den Bistros zu sitzen. Besonders romantisch war es trotzdem nicht; ich fror die halbe Zeit und hatte Schmerzen im Unterleib, die ich als Vorboten meiner überfälligen Regel deutete.
Als mir am Morgen nach unserer Rückkehr auch noch die Brüste schmerzten, war für mich die Sache klar. „Ich bin schwanger!“, sagte ich zu Lars. „Willst du nicht erstmal einen Test machen?“, fragte er. „Mach dich nicht verrückt.“ Aber ich wusste die Antwort; ich kenne meinen Körper. Gemeinsam gingen wir in die Apotheke und kauften einen Test. Ich hätte ihn eigentlich erst am nächsten Morgen machen sollen, aber ich konnte nicht mehr so lange warten. Während Lars zurück zur Arbeit ging, ging ich ins Bad. Was ich dachte, während ich auf das Ergebnis wartete? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, wie ich am Küchentisch saß. Ich wartete extra eine Minute länger als auf dem Beipackzettel stand, um ganz sicher zu gehen. Und als ich die beiden rosa Streifen im Ablesefenster sah, dachte ich nur: „Tja, ich wusste schon, warum ich mich so fühle.“
Auf die Kontraktionen war ich vorbereitet – aber nicht auf das, was dann wirklich kam
Das Ergebnis war weniger eine Überraschung als eine Bestätigung. Im selben Moment wurde mir übel, ich fühlte mich taub, als wäre die Welt um mich herum verschwunden. Dann rief ich Lars an. „Es wäre schön, wenn du heute früher nach Hause kommen könntest“, sagte ich. „Wir müssen etwas besprechen. Ich bin schwanger.“ Kurze Stille in der Leitung. „Okay“, sagte Lars. „Ich komme früher.“
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Nachdem ich unter Aufsicht der Ärztin jene Tablette geschluckt hatte, die den Embryo in mir abtöten würde, musste ich noch bis zum nächsten Tag warten. Erst dann konnte ich die zweite Pille nehmen, die schließlich die Blutungen auslösen würde. Die zweite Tablette schluckte ich am frühen Nachmittag. Lars würde früher als sonst von der Arbeit kommen, um die Sache mit mir gemeinsam durchzustehen. So hatten wir es vereinbart. Von der Wirkung der ersten Tablette hatte ich nichts gemerkt. Ab welchem Zeitpunkt genau der Embryo in meinem Bauch nicht mehr lebte, wusste ich nicht. Dass ich nach Einnahme der zweiten Pille starke Kontraktionen im Unterbauch bekommen würde, darauf war ich vorbereitet. Aber nicht auf das, was dann wirklich kam.
Ich hatte Lars noch schnell zum Einkaufen geschickt, denn ich dachte: „Wenn ich das hier überstanden habe, sollte ich vielleicht etwas essen.“ Er war keine fünfzehn Minuten weg, ich lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, wartete auf den Schmerz. Und dann ging es los.
Es ist unfassbar viel Blut, das aus mir herausfließt
Es fühlt sich an, als hätte jemand seine Hände in meinen Bauch gesteckt und würde mich von innen auseinanderreißen. „Oh Gott, ich verrecke!“, denke ich. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Schmerzen. Nicht vergleichbar mit Regelschmerzen – viel schlimmer. Ich fühle die Kontraktionen in meinem ganzen Körper, sie kriechen bis in meinem Kopf, ich kann nicht mehr denken, krümme mich zusammen. Dabei weiß ich, dass in einigen Minuten die Blutungen einsetzen werden. „Du musst ins Badezimmer kommen!“, denke ich. „Los!“ Ich stehe auf. Falle hin. Bleibe liegen. Wieder krümmt der Schmerz meinen Körper.
Ich weiß nicht mehr, wie, aber irgendwie schaffe ich es. Im Bad lege ich mich vor die Toilette, der kalte Boden an meiner Wange fühlt sich gut an. So bleibe ich liegen, vielleicht zehn, fünfzehn Minuten. Dann setzen die Blutungen ein. Ich schaffe es, mich halbwegs aufzurichten, ziehe meine Unterhose herunter und setze mich aufs Klo. Zähflüssig und tiefrot, fast violett bis schwarz fließt das Blut aus mir heraus. Es kommt mir unfassbar viel vor.
Ich hätte auch operativ abtreiben können. Aber ich hatte mich bewusst für die medikamentöse Variante entschieden. Weil ich wach sein wollte, wenn es passierte. Ich wollte nicht in ein Krankenhaus gehen, mich dort in einem kahlen Raum in ein steriles Bett legen, die Luft getränkt vom Geruch nach scharfem Desinfektionsmittel – um nach einer unbestimmten Zeit wieder aufzuwachen, ohne jegliche Erinnerung. Und ohne Embryo in meinem Bauch. Es war mir wichtig, die Kontrolle über meinen Körper zu behalten, auch, wenn das schlimme Schmerzen bedeuten würde. Nicht irgendwelche Krankenschwestern und Ärzte sollten diese Erfahrung für mich machen – es war meine und Lars’ Erfahrung. Ich wollte gemeinsam mit ihm durch die Abtreibung gehen, die unsere Entscheidung gewesen war. Ich wollte Erinnerungen haben.
An der roten Ampel denke ich an das Leben in meinem Bauch
In den zwei Wochen vor der Abtreibung hatten wir alle Varianten durchgespielt. Jeden Abend saßen wir an dem kleinen Ecktisch in der Küche, redeten. Ich hatte bis zu dem Tag, als der Schwangerschaftstest zwei rosa Streifen anzeigte, nicht daran gedacht, Mutter zu werden. „Wem sollte das irgendetwas bringen?“, so waren meine Gedanken gewesen. Ich kam selbst aus schwierigen Familienverhältnissen: Meine Mutter hatte sich von unserem Vater getrennt, nachdem ihr drittes Kind, meine kleine Schwester, geboren worden war. Ich war damals 14. Mein Vater? Ach, er ist ein schwieriger Mensch; manipulativ, cholerisch, ein Tyrann – aber auch charmant, gebildet, charismatisch. Ein Blender. Ich habe ihm eigentlich nur schlechte Dinge zu sagen. Und bis heute keinen Kontakt zu ihm.
Mein Leben hat sich immer schwer angefühlt. Da war nicht viel Leichtigkeit. Ich wollte nicht durch ein Kind mit Anfang zwanzig noch schwerer werden – und ich wollte meine Schwere nicht auf ein Kind übertragen. Ich hatte nie Kinder gewollt. Bis ich mit Lars zusammen kam, gab es auch keinen Mann, mit dem ich mir das hätte vorstellen können. Aber ihm traute ich die Vaterrolle zu. Er mir die Mutterrolle auch. Dass ich plötzlich schwanger war, war an sich auch nichts Trauriges. Ich fand die Vorstellung sogar schön! Und Lars ließ sich sehr schnell auf die neuen Umstände ein. An dem Abend, als ich ihm einige Stunden zuvor am Telefon gesagt hatte „Ich habe den Test gemacht. Positiv“, brachte er uns beiden ein Bier mit. Für mich ein alkoholfreies – und für sich auch. Wir saßen in der Küche, er rechnete aus, wie viel er mehr arbeiten müsste, um uns gut zu versorgen, wo wir hinziehen könnten mit Kind und wann wir anfangen müssten, nach einer größeren Wohnung zu suchen.
Ich erinnere mich noch an einen Moment in diesen zwei Wochen, es muss einige Tage nach dem Schwangerschaftstest gewesen sein: Ich stand im Prenzlauer Berg an einer Kreuzung, war zu Fuß unterwegs. Die Ampel zeigte rot; normalerweise kein Problem für mich. Ich gehe oft bei Rot über die Ampel. Aber plötzlich hielt ich inne. „Nein, STOP!“, dachte ich, „du kannst nicht mehr bei Rot rüber! Du bist jetzt für ein zweites Leben verantwortlich!“ Das war ein schöner Gedanke, er erfüllte mich mit Wärme. Zum ersten Mal konnte ich den Gedanken gänzlich zulassen: Ich, eine Mutter.
„Du gibst das Leben in deinem Bauch in die Gesamtheit der möglichen Leben zurück“
Aber wenn ich an den Muttis vorbeilief, die auf den Spielplätzen in meinem Kiez in Grüppchen herumstanden, oder wenn ich die Mütter beobachtete, die gemeinsam mit ihren Kids zusammen in einem Café saßen, konnte ich mich nicht in ihnen sehen. Es war nicht meine Rolle, ich fühlte mich fremd. Ohne meinen eigenen Platz gefunden zu haben, ohne Studium, ohne eigenen Freundeskreis, ohne eigenes Geld, ohne Freundinnen um mich herum, die auch gerade Mutter wurden. Ich wusste: Mit einem Kind wäre ich jetzt, zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben, isoliert. Ich brauchte erst ein eigenes Leben, um für ein neues sorgen zu können.
Trotzdem gab es in der Entscheidungsphase, in den zwei Wochen zwischen dem Schwangerschaftstest und der Abtreibung, Momente, in denen Lars und ich uns gemeinsam ausmalten, wie wir wohl als Eltern wären. Wie er den Kinderwagen schiebt, wie ich das Baby im Tragetuch durch die Stadt trage. Wie ich für mein Abi pauke, während er im anderen Zimmer das Baby in den Schlaf wiegt. Ich brauchte das, diese Momente, ich wollte sehen, wie Lars mit der Situation umgeht. Er unterstützte mich von Anfang an; er hätte mich auch unterstützt, wenn ich gesagt hätte: „Ich will das Kind bekommen!“ Dass er sich so schnell auf die die Situation einlassen konnte, bestärkte mich paradoxerweise in dem Gedanken: „Mit diesem Mann will ich mal ein Kind.“ Aber eben nicht jetzt.
Tendenziell stand ich trotzdem von Anfang an näher auf der Seite: nicht kriegen. Schuldgefühle? Ja, die hatte ich. Beim allerersten Arzttermin nach meinem Schwangerschaftstest hatte die Ärztin mir im Ultraschall erklärt, wo das Herz des Embryos liegt und wie es schlägt. „Das ist doch ein Leben, das du tötest, wenn du abtreibst, das kannst du doch nicht machen!“, dachte ich in der Anfangsphase. Aber ausgerechnet meine eigene Mutter nahm mir diese Schuld. Nach dem ersten Arzttermin hatte ich meine Sachen gepackt und war zu ihr nach München gefahren, wo ich zwei, drei Tage blieb. Ich erzählte ihr, was passiert war, dass ich das Kind nicht wollte. „Aber wenn ich die Schwangerschaft abbreche, ist das ja auch ein Leben, das ich abbreche“, sagte ich zu ihr. Da sagte meine Mutter: „Es gibt so viele Leben, die nie geboren werden. Das Leben in deinem Bauch, diese kleine Seele, die schafft es nicht in diese Welt – so wie viele andere kleine Seelen auch. Du gibst das Leben in deinem Bauch in diese Gesamtheit der möglichen Leben zurück.“
Ich bin kein religiöser oder esoterischer Mensch. Aber die Seele, die ist für mich unsterblich. Nach dem Gespräch mit meiner Mutter dachte ich: Ich töte diese Seele nicht. Sie bleibt einfach dort, wo sie ist. Durch diesen Gedanken konnte ich der ganzen Sache eine andere Form geben: Das Leben in mir war für mich noch kein Mensch. Aber auch kein Nicht-Mensch. Es war irgendetwas dazwischen. Etwas, das eine Seele hatte. Und die blieb, auch nach einem Abbruch. Dieser Gedanke beruhigte mich. Weil er mich tröstete.
Irgendwann höre ich es „Plopp“ machen – da liegt der Embryo in der Toilette
Aber in dem Moment, in dem ich unter Schmerzen auf dem Klo in Lars’ Wohnung sitze, helfen diese Gedanken mir überhaupt nicht. Das Blut fließt weiter aus mir heraus. Lars ist mittlerweile auch da. Er sitzt erst neben mir auf dem Badewannenrand, dann lässt er sich seltsamerweise ein Bad ein. Er zieht sich aus, lässt sich ins Wasser gleiten. Nicht, weil er sich entspannen will. Eher aus Hilflosigkeit. Er kann meinen Schmerz nicht lindern, mir in der Situation auch nicht sonderlich helfen. „Tut es sehr weh?“, fragt er. „Ist es sehr viel Blut? Es wird aufhören“, versucht er, mich zu beruhigen. Und vielleicht auch ein bisschen sich selbst. Gemeinsam versuchen wir einfach, die Zeit zu überstehen, eine Minute nach der nächsten.
Irgendwann höre ich es „Plopp“ machen. Dieses unangebrachte, weil so banale Geräusch! „Plopp!“ Ich sitze noch immer auf dem Klo, schaue durch meine Beine hindurch nach unten in die Schüssel – und da liegt er, der tote Embryo. Klein, vielleicht drei Zentimeter groß, blutverschmiert. Aber deutlich zu erkennen. „Oh, das sieht ja interessant aus!“, denke ich mit einer verqueren Neugierde. Ich bin nicht schockiert oder erschrocken, ich weine auch nicht; der wirklich schlimme Moment war der nach der ersten Tablette. Als ich wusste: „Jetzt stirbt das Leben in dir. Das ist jetzt final.“ Ich schaue mir selbst dabei zu, wie ich den Embryo in der Kloschüssel anschaue, der bis gerade eben noch ein Teil von mir war. Mittlerweile blute ich weniger. Die Situation hat etwas vollkommen Surreales, als würde ich selbst über mir schweben. Mein Kopf fühlt sich an wie Watte.
Etwa fünfzehn Minuten bleibe ich auf der Toilette sitzen und starre geradeaus. Ich überlege, ob ich mir den Embryo noch länger anschauen soll, aber denke dann: „Nein, es ist gut so. Besser nicht. Du hast alles erlebt, es ist okay.“ Irgendwann kommt endlich kein Blut mehr. Ich stehe auf, gehe zu Lars in die Küche, der einige Minuten früher aus der Badewanne ausgestiegen ist und mittlerweile Tee für uns beide kocht. „Das war’s jetzt, glaube ich“, sage ich zu ihm, „willst du den Embryo noch sehen?“ Lars zögert kurz, „ja“, sagt er dann.
Gemeinsam gehen wir zurück ins Badezimmer. Stellen uns vor die Toilette, blicken in die Schüssel. Und schauen für einen Augenblick auf das, was unser Kind hätte werden können. Dann geht Lars zurück in die Küche, ich drücke die Spültaste.
„Krass, das Kind auf der Straße könnte auch meins sein“
Als alles vorbei war, saßen wir wieder am Ecktisch. Und stritten. Lars kam mir teilnahmslos vor, distanziert. Obwohl er da war, fühlte ich mich allein. „Macht dich das nicht traurig? Wieso sagst du nichts? Willst du nicht für mich da sein?“, warf ich ihm an den Kopf und heulte dabei. Er wurde sauer: „Was willst du denn? Ich bin doch da! Was soll ich denn machen?!“ Dass er mir so distanziert vorkam, weil er sich hilflos fühlte, und dass die Hilflosigkeit kein Desinteresse war, sondern dass auch er durch die Abtreibung etwas verloren hatte, verstand ich erst später. In dem Moment aber war ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt.
Eine Abtreibung ist niemals schön oder geschieht „einfach so“. Wer das behauptet, hat nichts verstanden. Es ist eine Notfalllösung. Aber eine, die okay sein sollte. Junge Frauen sollten das wissen. Ich bin froh, dass ich mit Tabletten abgetrieben habe. Das hat die ganze Sache für mich greifbar gemacht. Natürlich ist es befremdlich, einen Embryo in einer Kloschüssel liegen zu sehen. Aber in der Verarbeitung hat mir das extrem geholfen. Was ich erlebt habe, war schmerzhaft, es hat mich traurig gemacht und verletzt. Aber da ist eine Erinnerung. Auch an den Schmerz. Ich kann meine Trauer in diesen Momenten in der Vergangenheit platzieren, an den Ort und den Schmerz zurückgehen.
Im ersten Jahr nach dem Abbruch war es hart; wenn ich manchmal Babys oder Kleinkinder auf der Straße sah, dachte ich: „Krass, das könnte jetzt auch dein Kind sein.“ Aber mittlerweile geht es mir gut. Ich habe alles verarbeitet und die Entscheidung nie bereut. Sie war richtig.
Lars und mich hat diese Erfahrung noch näher zusammengebracht. Ich weiß jetzt: Ich will irgendwann Mutter sein, mit Lars als Vater meines Kindes. Wir planen es nicht, aber bevor ich 30 bin, würde ich schon gern mein erstes Kind bekommen. Jetzt konzentriere ich mich aber erst einmal auf mein Studium. Wenn ich Glück habe, kann ich im nächsten Jahr mit meinem Traumfach anfangen. Das Abi habe ich gerade bestanden – mit einem Einser-Durchschnitt.
Im Krautreporter Podcast „Verstehe die Zusammenhänge“ spricht Martin Gommel mit Esther Göbel über ihr Protokoll
Das heutige Thema ist Abtreibung. Doch statt über das Für und Wider zu philosophieren, spricht Martin Gommel mit der Reporterin Esther Göbel über das Protokoll einer Frau, die ihre Schwangerschaft nicht operativ sondern medikamentös abgebrochen hat.
In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de
Die Namen der Protagonisten wurden geändert.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (unspash / Samuel Zeller) .