Sechs Minuten, genau sechs Minuten zählte sie ab, Sekunde für Sekunde, und wartete auf das Ende des Leidens, auf das Ende der Folter, darauf, dass er nicht mehr in ihren Körper und in ihre Psyche eindrang. Dann konnte sie die Augen öffnen und mit ihrem Leben weitermachen. Bis zum nächsten Mal, drei Tage später, wenn sich die Tortur wiederholte.
„Jede Gemeinschaft hat ihre eigenen Sitten und Gebräuche, wenn es um Sex geht. Für uns war es jeden Dienstag- und Freitagabend”, erzählt mir Chavie Weisberger, während wir in einem Café in Brooklyns weitgehend chassidischem Stadtteil Borough Park miteinander reden.
Warum sechs Minuten?
„Ich habe im Bett immer auf die Zeit geschaut. Und ich habe gemerkt, dass es jedes Mal ungefähr sechs Minuten dauerte. Ein Jahr nach unserer Heirat sagte ich meinem Mann also: ‚Du hast genau sechs Minuten Zeit – tu, was du willst, aber nicht länger als sechs Minuten.‘”
Nicht nur die sechs Minuten, die sie ihrem Ehemann Naftali gab, zogen einen klaren, sehr engen Rahmen in der Welt der jungen Frau. Sie war sich unsicher, was ihre sexuelle Identität war, kannte aber nicht die Worte und Begriffe, um sich in ihrer schwierigen Situation zurechtzufinden. Ohne Freundinnen zum Reden; ohne zu verstehen, dass es mehr als den einen Weg gab, suchte sie nach ihrer Selbstdefinition – ohne zu wissen, dass das Leben nicht nur das war, was man ihr so viele Jahre darüber erzählt hatte.
„Ich war in einem Vorbereitungskurs für Bräute”, erinnert sie sich. „Man erzählte mir, was in der Hochzeitsnacht passieren würde. Aber nichts kann einen auf das echte Leben vorbereiten, auf diesen Moment, in dem man in einem Raum mit jemanden ist, den man nicht kennt und zu dem man sich nicht hingezogen fühlt.”
Zwei ratlose junge Leute in der Hochzeitsnacht
Das ist jetzt 16 Jahre her, Chavie war damals gerade mal 19 Jahre alt, das fünfte Kind von zehn Geschwistern in einer angesehenen chassidischen Familie aus Monsey in Rockland County, etwa eine Stunde nördlich von Manhattan. Monsey hat eine große ultra-orthodoxe Gemeinschaft. Chavie ist die Enkelin eines angesehenen Rabbiners; ihr Vater sah seine Lebensaufgabe darin, weltlichen Juden die Religion wieder näherzubringen. Ihre Brüder galten beim religiösen Lernen als Wunderkinder. Chavie selbst tat, was von ihr erwartet wurde, folgte den strengen Regeln der Gemeinschaft. Auch wenn das bedeutete, einen Mann zu heiraten, den sie erst zweimal getroffen hatte und für den sie nichts empfand.
„Wir kamen um drei Uhr morgens von der Hochzeit zurück”, erinnert sie sich. In ihrem neuen Zuhause in Borough Park war schon alles bereit für das neue Leben des jungen Paars. Aber noch bevor sie und Naftali sich gemeinsam auf das neue Sofa setzen, bevor sie ihre erste gemeinsame Mahlzeit am Esstisch einnehmen und bevor sie zusammen den Ausblick aus dem Wohnzimmerfenster genießen konnten, mussten sie einem Gebot folgen.
„Es fühlte sich für mich wie eine Vergewaltigung an”, sagt sie. „Auch wenn es mir schwerfällt, das so zu nennen. Ich bin ja nicht weggelaufen, ich habe nicht Nein gesagt, ich habe ihn nicht gebeten aufzuhören. Ich habe getan, was ich für richtig hielt. Aber es war trotzdem ein Trauma, über das ich auch jetzt noch nicht leicht reden kann.”
Zwei junge Leute, die noch nicht einmal Händchen gehalten hatten, die nichts wirklich Persönliches über einander wussten und deren Gespräche sich bei den beiden einzigen Treffen vor der Hochzeit hauptsächlich um die wöchentliche Tora-Lektion gedreht hatten, befanden sich nun in einem dunklen Raum, untenrum nackt – und ratlos.
„Wir hatten beide keine Ahnung, was wir tun sollten”, sagt Chavie Weisberger. „Er hat versucht, sanft zu sein, aber die ganze Situation war komisch, seine Berührung fühlte sich nicht gut an, ich fühlte mich nicht zu ihm hingezogen.”
Gegen Morgengrauen, kurz, nachdem der frisch verheiratete Ehemann seinen sexuellen Höhepunkt erreicht hatte, rief er seinen Rabbiner an. „Naftali war sich nicht sicher, ob das, was wir taten, im religiösen Sinne gültig war. Es ging um die Frage, ob wir wirklich Geschlechtsverkehr gehabt hatten. Denn wenn es keine vollständige Penetration gegeben hatte, war ich rituell unrein, und wir durften nicht zusammen im selben Haus schlafen”, erzählt sie. „Aber der Rabbi sagte ihm, dass wir Sex gehabt hatten, und damit war alles in Ordnung.”
„Keine der anderen Frauen hatte mich gewarnt”
Die junge Frau war tief erschüttert von dieser Nacht. „Ich weiß noch, wie ich die Woche danach in einer dunklen Wolke aus Zorn und Verwirrung erlebt habe”, sagt sie. „Alle Frauen um mich herum waren verheiratet, und ich dachte mir: ‚Wie könnt ihr es wagen – ihr wusstet alle, was ich durchmachen würde, und habt mich nicht gewarnt.‘ Einige von ihnen, darunter auch meine Schwestern, sagten mir Sätze wie: ‚Das ist der schwierigste Teil‘, ‚Von jetzt an wird es nur noch einfacher’, ‚Wir wissen, was du durchmachst‘. Ich fühlte mich verraten: Sie wussten, welches Trauma mich erwartete und hatten nichts getan, um mich zu beschützen.”
Chavies Leiden wurde mit der Zeit nicht weniger. Das Trauma dieser ersten Nacht zog sich durch die folgenden Jahre. „Mir war nicht klar, dass ich den Sex genießen sollte”, meint sie, „und gleichzeitig wusste ich nicht, warum es sich so schrecklich anfühlte. Es war ein furchtbares Gefühl, dass mein Körper dafür da war, die Bedürfnisse eines anderen zu befriedigen. Dieses Gefühl ging nie weg – aber ich baute eine Mauer um mich und war unterwürfig.”
Hast du mit Naftali darüber gesprochen?
„Zuerst nicht ausdrücklich, aber er hat es auch so verstanden. Nach einer Weile habe ich ihm dann gesagt, dass ich es nicht mehr tun konnte. Man muss verstehen, dass es für uns beide eine schreckliche Erfahrung war. Wir hatten keine Ahnung, wie wir damit irgendwie würdevoll umgehen konnten. Irgendwann sprach er mit seinem Rabbiner. Später sagte er mir im Bett, dass der Rabbiner ihm erklärt hatte, wie er mich anfassen sollte. Ich war wütend und sagte zu ihm: ‚Was machst du da? Schaff den Rabbi aus unserem Bett.‘ Nach ein paar Jahren fingen wir schließlich eine Therapie an, aber da war es schon zu spät.”
Heute weißt du, dass du dich zu Frauen hingezogen fühlst. Denkst du im Nachhinein, dass du gar nicht in der Lage warst, einen Mann attraktiv zu finden?
„Ich weiß nicht, ob ich mich wegen ihm oder wegen mir so gefühlt habe. Es hat wohl nicht geholfen, dass er eine eindimensionale Person war, der außerhalb seiner religiösen Welt sehr wenig Persönlichkeit hatte. Ich denke jetzt, dass Sexualität eine komplexe Sache ist … Ich glaube, dass unsere sexuelle Identität aus unseren Lebenserfahrungen entsteht, und dass die genau so wichtig wie unsere Gene sind. Meine Sexualität ist fließend. Ich denke nicht, dass ich mich gar nicht zu anderen Männern hingezogen fühlen kann. Aber ich weiß genau, dass ich mich nicht zu Naftali hingezogen gefühlt habe. Dafür könnte es aber viele Gründe geben.”
Die Kunst, eine gute Partie zu finden
„Ich hatte eine normale und glückliche Kindheit”, sagt Chavie. Ihre Mutter war Hausfrau und widmete sich der Erziehung ihrer zehn Kinder. Chavies Vater war den ganzen Tag weg, er arbeitete an einer jüdischen Hochschule.
„Ich erinnere mich an die großen Schabbat-Abendessen mit den Schülern meines Vaters, an die Lieder, meine Geschwister und ihre Kinder. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Geschwistern und meinen Eltern. Manchmal verstehen die Leute nicht, dass eine Familie groß und religiös sein kann und gleichzeitig viel Freude und viel Spaß bereitet.”
Niemand zu Hause sprach mit Chavie über Sexualität. Schon in jungen Jahren wusste sie, dass es nur eine echte Erwartung an sie gab: eine gute Partie zu finden und so viele Kinder wie möglich zu gebären. „Als ich zwölf Jahre alt war, hat mein Vater mir ein besonderes Gebet beigebracht, um darum zu bitten, dass ich eine gute Partie finden würde”, erinnert sie sich. „Das war alles, was ich zu der Zeit wusste. Dass ich einen rechtschaffenen Mann zum Heiraten finden musste.”
Doch schon als junges Mädchen war Chavie ungewöhnlich neugierig auf die Welt außerhalb ihrer isolierten Gemeinschaft. „Als ich 13 Jahre alt war, habe ich als Babysitter in einem speziellen Programm gearbeitet, an dem meine Familie beteiligt war”, erklärt sie. „Es war für Menschen, die gerade frisch zum Glauben gefunden hatten. Da gab es also Mädchen in meinem Alter, die einen weltlichen Hintergrund hatten. Ich habe ihnen alle möglichen Fragen gestellt, und sie hatten viel Spaß daran, mir etwas über die Welt da draußen beizubringen. Ich werde nie vergessen, wie sie mir eines Tages ein Paar Jeans geschickt haben. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Jeans angefasst habe. Ich hatte solche Angst davor, erwischt zu werden, dass ich sie kein einziges Mal angezogen habe.”
Wenn sie zum Arzt ging, verschlang sie die Zeitschriften im Wartezimmer, um etwas über die Außenwelt zu erfahren. Rebellisch sei sie aber nie gewesen, nur neugierig, sagt Chavie heute.
Bist du wütend auf deinen Vater, weil er dich gedrängt hat, Naftali zu heiraten?
„Mein Vater hat mich zu nichts gezwungen. In der Gemeinschaft und Kultur, in der ich aufgewachsen bin, gab es kaum Platz für den Gedanken, dass ich auch nicht heiraten könnte. Ich bin nicht wütend auf meinen Vater, ich glaube, dass er ehrlich gute Absichten hatte. Wütend bin ich auf das System, das kleine Mädchen in dem Glauben erzieht, ihre einzige Aufgabe im Leben bestehe darin, gute Frauen und gute Mütter zu sein. Und ich bin wütend auf die Gemeinschaft, die meine Eltern dazu gebracht hat, zehn Kinder zu haben. Ich habe drei Kinder, und das ist viel und es ist anstrengend. Es ist schwer, auf die Bedürfnisse jedes einzelnen einzugehen und genügend Zeit mit ihnen zu verbringen.”
Herumgereicht wie kaputte Ware
Ihre Hochzeit an sich war eine angenehme, sogar glückliche Erfahrung, erinnert sie sich. Dann aber begann der Alltag. Ihr Mann besuchte bis zum Abend eine jüdische Hochschule, Chavie wiederum arbeitete in drei Jobs gleichzeitig. Sie unterrichtete Naturwissenschaften auf einer Mädchenschule, nahm an einem außerschulischen Förderprogramm teil und gab Privatunterricht. Chavie und ihr Mann schliefen immer seltener miteinander, zunächst zwei Mal pro Woche, jeweils sechs Minuten, und schließlich nur noch einmal im Monat.
Wann hast du begriffen, dass du dich zu Frauen hingezogen fühlst?
„Ich habe mich schon immer zu Frauen hingezogen gefühlt, aber ich wusste nicht, was das bedeutet, oder dass es dafür einen Begriff gab. Als ich meiner Mutter erzählt habe, wie ich mich mit Naftali fühlte, schickte sie mich zu einem religiösen Therapeuten aus der Gemeinde. Ich weiß noch, wie ich ihm gesagt habe, dass ich meinen Mann nicht liebe. Er hat mich gefragt: ‚Woher weißt du, was Liebe ist?‘ Und ich habe geantwortet, dass ich einmal verliebt gewesen war, in eine meiner Freundinnen aus der Schule. Da fragte er: ‚Meinst du, du könntest eine Lesbe sein?‘ Ich sagte, dass ich nicht wusste, was das war, also erklärte er es mir. Ich war so erleichtert, denn jetzt hatte diese Sache einen Namen. Bis zu einem gewissen Grad nahm es die Schuld von mir – das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmte.”
In Chavies Gemeinde herrschte die Ansicht, dass eine junge Frau wie sie „geheilt” werden könnte, dass sie nur die richtige Behandlung und ein unterstützendes Umfeld brauchte, um wieder in ein normales Leben zu finden. „Heil werden, das wurde zu meinem wichtigsten Ziel”, sagt sie. „Der Therapeut war sicher, dass mein Interesse an Frauen die Folge eines Kindheitstraumas sein musste. Immer wieder habe ich versucht herauszufinden, was dieses Trauma gewesen sein könnte – war ich vergewaltigt worden? Hatte ich sonst sexuelle Gewalt erlebt? Ich bat meine Mutter, mir davon zu erzählen, aber sie beharrte darauf, dass mir nichts passiert sei.”
Der Therapeut, der laut Chavie ein Mann mit professioneller Ausbildung, aber extremer religiöser Einstellung war, bestand jedoch auf der Trauma-Theorie. „Er hat mit mir eine Hypnosetherapie gemacht, um diese schlimme Erfahrung aus meiner Kindheit an die Oberfläche zu holen. Gleichzeitig hat er mir gesagt, dass ich mich beim Sex mit meinem Mann selbst hypnotisieren sollte, um mich von meinem Körper zu lösen und die Erfahrung zu genießen. Was mich heute wirklich wütend macht, ist, dass er ein gebildeter Mann war, der ständig versuchte, das Trauma aus meiner Vergangenheit zu finden und mich gleichzeitig aber ermutigt hat, mehr und mehr Traumata in der sexuellen Beziehung mit Naftali zu erleben.”
Als sei sie kaputte Ware, wurde Chavie von Therapeut zu Therapeut, von Rabbiner zu Rabbiner, vom Gemeindeaktivisten zum klinischen Psychiater weitergereicht. Das ging fünf Jahre lang so, von 2002 bis 2007. Schließlich beschlossen ihre Eltern in einem letzten Schritt der Verzweiflung, einen Rabbiner namens Gavriel Yosef Rosenberg aus Jerusalem einzufliegen, der bekannt dafür war, dass er Beziehungen wiederbeleben konnte. Doch statt Chavies Ehe zu retten, war er derjenige, der ihr endlich den Weg nach draußen zeigte.
„Nach einigen Treffen sagte er zu mir: ‚Du willst, dass ich dir sage, was du tun sollst, um deine Ehe zu retten. Oder dass ich dir sage, dass deine Ehe vorbei ist. Aber das werde ich dir nicht sagen. Was ich dir aber sagen kann, ist, dass du mit dieser Ehe fertig bist. Und dazu musst du stehen. Ich rate dir, dass du anstelle von mehr Paartherapie anfängst, an dir selbst zu arbeiten und dich auf die neue Situation vorzubereiten. Eine Scheidung kann ein sehr schwieriger Prozess sein.‘ Er hat mich wirklich gerettet. Seinetwegen habe ich beschlossen, mich scheiden zu lassen.”
Auf Anraten des Rabbiners begann Chavie mit einer Reihe therapeutischer Sitzungen, um sich auf die neue Situation der geschiedenen Frau in einer chassidischen Gemeinschaft vorzubereiten. Eine Therapeutin sagte ihr, wie sie sich benehmen sollte, um die Kinder nicht zu verlieren. Chavie war wütend auf die Frau, weil sie ihr Angst machte, „aber es stellte sich heraus, dass sie wusste, wovon sie sprach”.
„Ich fühlte mich wie neugeboren”
Die Scheidung selbst, im Jahr 2009, verlief überraschend einfach und reibungslos, erinnert sich Chavie. So trocken wie ein Autoverkauf: Du gehst vor Gericht, unterschreibst ein paar Papiere, und schon ist es vorbei. Sie erhielt das Sorgerecht für ihre drei Kinder (die damals zwei, drei und fünf Jahre alt waren), Naftali durfte sie alle zwei Wochen am Wochenende sehen. Er durfte auch die Schulen für die Kinder aussuchen, und beide verpflichteten sich, die Kinder nach den strengen Bräuchen ihrer chassidischen Sekte zu erziehen. „Ich hatte damals keinen Grund zu denken, dass ich sie auf irgendeine andere Art und Weise aufziehen sollte”, sagt Chavie.
Ihr neues Leben als Geschiedene war eine heilende, befreiende Erfahrung, ohne Ängste und Schmerzen – „Ich fühlte mich wie neugeboren”, sagt sie. Sie schrieb sich am Touro College in New York ein, studierte Sozialarbeit, unterrichtete weiterhin in einer Mädchenschule und prüfte einmal sogar die Möglichkeit einer neuen „Partie“.
Für Naftali waren die Dinge noch einfacher. „Innerhalb von vier Monaten war er wieder verheiratet, und als er seine neuen Kinder von seiner zweiten Frau bekam, verlor er das Interesse an unseren drei Kindern und sah sie kaum noch”, sagt Chavie.
Das störte sie wenig. Sie war damit beschäftigt, die Kinder großzuziehen, aufs College zu gehen und sich selbst zu entdecken. Ihr Studium zwang sie, sich einen Computer zu kaufen, „und dann ging ich online und fing an, Dinge zu lesen und meine Sexualität zu erforschen. Ich habe von einer Organisation namens Eshel gelesen, die LGBTQ-Personen hilft, die aus jüdisch-religiösen Familien stammen. Ich war begeistert, als ich erfahren habe, dass es einen Weg gab, wie ich mein Leben wirklich leben und dabei ehrlich mit mir selbst sein konnte. Dass ich mich nicht für meine Sexualität schämen musste und dass sie meinen Kindern nicht schadet. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass ich mich zwischen meiner sexuellen Identität und einer ehrlichen Beziehung zu meinen Kindern entscheiden musste, und plötzlich traf ich auf Familien, die völlig offen mit ihrer sexuellen Identität umgingen und gleichzeitig ein gesundes Familienleben hatten. Das öffnete mir eine ganz neue Welt an Möglichkeiten.”
Die Menschen in ihrer Gemeinde waren weit weniger begeistert. „Ich ging zu einigen Rabbinern, die ich kannte, und fragte sie, was meine Rolle als Lesbe in der Gemeinschaft sei, wie ich weiterhin ein Teil davon sein könne. Ihre Antwort war, dass das gar nicht ging, dass ich eine Wahl treffen musste. Das machte mich richtig wütend und brachte mich dazu, an allem zu zweifeln, was ich über mein Judentum und die chassidische Gemeinschaft und meine Beziehung dazu wusste.”
Was als Zweifel begann, verschärfte sich allmählich. Chavie fuhr jetzt zweigleisig: Sie verließ die religiös kontrollierte Welt und setzte sich gleichzeitig mit ihrer sexuellen Identität als Lesbe auseinander. Ihre Fragezeichen verwandelten sich in Ausrufezeichen. Die Chavie, die mit 13 Jahren Angst gehabt hatte, die Jeans von ihren weltlichen Freundinnen anzuprobieren, verschwand nach und nach. Sie fing an, sich anders zu kleiden, zu essen und ein weltliches Leben zu führen.
„Ich erkannte, dass meine alten Werte nichts mehr mit mir zu tun hatten”, erzählt sie. „Ich habe über diesen Prozess mit meinen Kindern geredet, und wir haben gemeinsam über die Werte nachgedacht, nach denen wir leben wollten. Zu Hause habe ich eine Wand mit Familienwerten geschaffen, und jedes Mal, wenn wir auf einen wichtigen Wert für unsere Familie gestoßen sind, haben wir ihn aufgeschrieben. Meine Kinder gingen weiter auf die religiöse Schule, aber gleichzeitig habe ich ihnen auch eine andere Welt gezeigt. Ich habe ihnen erklärt, dass es in jeder Gemeinde gute und schlechte Menschen gibt und überall auch Probleme. Ich habe sie zu Straßenfesten in der Stadt mitgenommen und zu Museen und Veranstaltungen. Ich wollte ihnen die Freiheit geben, selbst zu schauen, wie sie ihr Leben leben wollen.”
„Ich war naiv“
Wenn aber ein Mitglied einer geschlossenen Religionsgemeinschaft seinen Lebensstil ändert, entstehen schnell Gerüchte, die sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Die Geschichten über die junge Frau, die vom rechten Weg abgekommen war, erreichten bald Naftali. Chavie störte das nicht – auch nicht, als man sie warnte, dass sie dafür teuer würde bezahlen müssen.
„Ich war naiv”, gibt sie zu. „Schließlich hatte ich Naftali angefleht, sich mehr in das Leben der Kinder einzubringen. Und als ich hörte, dass er mich vor Gericht bringen könnte, dachte ich, dass kein Richter ihn ernst nehmen würde. Dass der Richter ihn als erstes fragen würde: ‚Wo warst du denn all die Jahre bis jetzt?‘”
Doch sie hatte die Lage falsch eingeschätzt. Im November 2012 wurde sie vor ein Amtsgericht in Brooklyn geladen. Sie kam mit einem Schreiben einer Rechtshilfeorganisation, die sie um Hilfe gebeten hatte, und beantragte eine Verschiebung des Verfahrens, weil sie noch nicht die Zeit gehabt hatte, einen Anwalt zu benennen.
„Ich komme also vor Gericht”, erzählt sie, „und Naftalis Anwalt gibt mir einen riesigen Stapel von Dokumenten mit allen Anschuldigungen gegen mich. Und ich stand allein da und war mir sicher, dass der Richter den Prozess stoppen würde, bis ich einen Anwalt gefunden hatte.”
Allerdings war ihr nicht bewusst gewesen, dass der Vorsitzende Richter Eric Prus, ob zufällig oder nicht, selbst ein orthodoxer Jude war. „Er fragte mich, ob ich die Dokumente gelesen hatte. Ich sagte ihm, dass ich dazu noch keine Gelegenheit gehabt hatte und auch noch keinen Anwalt. Und er gab zurück: ‚Du willst mir sagen, dass ein Mädchen wie du, das bei einer Zeitschrift arbeitet [Chavie war damals bei einer jüdischen Zeitschrift angestellt], kein einfaches Englisch verstehen kann?‘ Er behandelte mich wie ein Kind. Als wolle er mich absichtlich erniedrigen.”
Sie versuchte, Richter Prus zu erklären, dass die Dokumente in juristischer Fachsprache verfasst waren und dass ihr Anwalt sie durchsehen würde, aber ohne Erfolg.
Zu Chavies Erstaunen und Entsetzen akzeptierte Prus ohne Umschweife das Argument des Klägers, dass sie gegen die zentrale Klausel des Scheidungsabkommens verstoßen habe, in dem sie sich verpflichtet hatte, die Kinder in einem religiösen Umfeld aufzuziehen. Daraufhin ordnete er an, ihr das Sorgerecht für die Kinder zu entziehen, bis sie mit einem Rechtsbeistand vor Gericht zurückkehrte.
Morgens säkular, abends religiös
„Ich stand unter Schock”, erinnert sie sich. „Ich konnte nicht glauben, dass das wirklich passierte, und ich reagierte heftig, attackierte den Richter und forderte das Recht ein, meine Kinder zu schützen.”
Schnell verstand sie aber, dass ihr nur wenige Möglichkeiten blieben. Noch am selben Tag packte sie eine Tasche für die Kinder und übergab sie ihrem Ex-Mann. Nach Jahren der Entfremdung nahm der die Kinder in sein neues Zuhause auf.
Trotzdem durfte Chavie die Kinder weiterhin sehen. Dafür gab es eine Vereinbarung mit drei Hauptklauseln: Erstens waren die Kinder jede Woche von Montag bis Donnerstag bei ihr und von Donnerstag bis Montag bei Naftali. Zweitens hatte Naftali das ausschließliche Recht, über die Schulbildung der Kinder und ihre Erziehung zu entscheiden. Und drittens verpflichtete sich Chavie, in der Gegenwart der Kinder eine religiöse Lebensweise aufrechtzuerhalten.
Morgens also lebte sie ganz säkular, aß, was sie wollte, kleidete sich nach Lust und Laune und lebte das Leben, das sie sich wünschte. Aber sobald die Kinder von der Schule nach Hause kamen, musste sie so tun, als ob sie gehorsam die Gebote ihrer Religion beachtete.
Wie haben die Kinder es aufgenommen?
„Es war eine merkwürdige Situation für uns alle, aber meine Kinder [die jetzt 10, 12 und 14 Jahre alt waren] verstanden, dass die Situation von einem Gericht angeordnet worden war und dass wir keine andere Wahl hatten. Aber wenn man einmal etwas Neues probiert hat und sich für eine andere Lebensweise öffnet, gibt es kein zurück mehr. Die Kinder erzählten mir oft, wie sehr sie unsere bisherige Lebensweise vermissten, aber sie hatten genauso viel Angst vor dem Gericht wie ich. Ich sagte ihnen, dass bald alles wieder wie vorher sein würde. In gewisser Weise haben uns all diese Erfahrungen als Familie sogar einander nähergebracht. Außerdem brachte es den Vater zurück in das Leben der Kinder, und das ist ein Segen.”
Wie haben deine Eltern reagiert?
„Meine Eltern haben mich in keiner Weise unterstützt. Sie wollten, dass die Kinder bei Naftali einzogen, weil sie hofften, dass sie dadurch religiös bleiben würden. Ich habe auch die Unterstützung der meisten meiner Geschwister verloren. Wenn Naftali nicht die Unterstützung der Gemeinschaft, meiner Familie und der Rabbiner gehabt hätte – dann hätte er wahrscheinlich nicht so intensiv gegen mich gekämpft. Nur deswegen hat er mich vor Gericht gebracht.”
Keine Rache
Chavie Weisberger legte gegen die Sorgerechtsentscheidung Berufung ein. Im August letzten Jahres hat die Berufungsabteilung des New York State Supreme Court ihr das volle Sorgerecht für die Kinder zugesprochen – wie es in der ursprünglichen Scheidungsvereinbarung von 2009 vorgesehen war. Das Gericht hob auch die Klausel auf, nach der die Mutter sich verpflichten musste, die Kinder nach einer bestimmten Lebensweise zu erziehen.
In seiner Entscheidung stellte das Gericht fest, dass „die Beweise nicht den Schluss zulassen, dass die Mutter im Interesse der Kinder ihre tatsächlichen Gefühle und Überzeugungen vor diesen verbergen muss oder sich an Praktiken und Überzeugungen zu halten hat, die sie nicht mehr teilt”. Die Jury stellte außerdem fest: „Es ist eindeutig, dass sich die Mutter während und nach der Heirat um die körperlichen und seelischen Bedürfnisse der Kinder gekümmert hat, während der Vater nach der Trennung der Parteien weder seine Besuchsrechte vollständig ausgeübt noch seine elementarsten finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Kindern erfüllt hat.“
Das Gericht ließ jedoch die Klausel unverändert, die allein Naftali die Entscheidung über die Erziehung der Kinder zusprach. Sie sind also weiterhin Teil des Haredi-Bildungssystems im Borough Park. Naftali bekam auch das Recht, die Kinder jedes Wochenende und an den jüdischen Feiertagen zu sich zu nehmen. Eine weitere Klausel, in die Chavie eingewilligt hat, besagt, dass die Kindern in beiden Haushalten nur koschere Lebensmittel bekommen dürfen.
Chavie legt Wert auf die Feststellung, dass sie den neuen Sorgerechtsvertrag vollständig akzeptiert. Sie habe nie ein Interesse daran gehabt, sich an Naftali zu rächen, sagt sie, und freut sie sich darüber, dass die Kinder wieder eine Beziehung zu ihrem Vater haben. Mit der schulischen Situation ist sie viel weniger zufrieden. Leider hat sie keine Möglichkeit, hier einzugreifen.
Was ist, wenn die Kinder, wenn sie erwachsen werden, genauso religiös sein wollen wie ihr Vater?
„Ich möchte, dass sie die besten Menschen sind, die sie sein können, und gleichzeitig den Werten folgen, die mir wichtig sind. Ich möchte, dass sie entscheiden dürfen, wer sie sind und wie sie leben wollen. Ich werde sie lieben und unterstützen – ganz gleich, wie ihre Zukunft aussieht. Das Problem, das ich mit der chassidischen Gemeinschaft habe, ist der Mangel an Bildung und die mangelnden Wahlmöglichkeiten. Aber wenn man einmal freie Wahl und Zugang zu Bildung hat, ist das eine ganz andere Geschichte.”
Es gebe viele schöne Dinge in der chassidischen Gemeinschaft, sagt Chavie Weisberger, wie die Schabbat-Mahlzeiten, das Essen, die Lieder, die Wärme und die Liebe. „Gleichzeitig will ich nicht, dass sie die schlechten Werte annehmen, denen ich in der Gemeinschaft ausgesetzt war, den Rassismus und die Homophobie zum Beispiel.”
Hast du immer noch Kontakt zu deinen Eltern? Kannst du ihnen ihr Verhalten verzeihen?
„Mein Vater ist nicht mehr am Leben, aber ich habe eine enge – wenn auch komplizierte – Beziehung zu meiner Mutter. Gleichzeitig kann ich ihr immer noch nicht verzeihen. Es wird immer etwas zwischen uns stehen, obwohl sie sich entschuldigt hat. Ich weiß, dass sie es immer noch besser finden würde, wenn die Kinder bei Naftali und nicht bei mir leben würden. Ich kann ihr dafür aber nicht die volle Schuld geben. Ich glaube nicht, dass sie sich je erlaubt hat, eine unabhängige Meinung zu entwickeln.”
Hast du seit dem Urteil jemals Liebhaber mit nach Hause gebracht?
„Noch nicht. Wenn ich mal eine ernsthafte Beziehung mit jemandem haben werde, dann kommt die Person auch zu uns nach Hause. Aber meine Kinder kennen jetzt schon einige meiner lesbischen Freundinnen und auch Transsexuelle und Schwule. Meine Kinder sind sensibler, offener und rücksichtsvoller als die meisten säkularen Kinder. Ich bin wirklich froh, dass ich so kluge und sensible Kinder habe.”
Dieser Text ist zuerst auf Englisch in der israelischen Tageszeitung Haaretz erschienen. Mit Genehmigung des Autors hat Vera Fröhlich den Artikel übersetzt. Redaktion Theresa Bäuerlein, Bildredaktion Martin Gommel, Schlussredaktion Rico Grimm.