Erzählen meine Freunde von ihrer Arbeit in der Flüchtlingshilfe, sind harte, bewegende, traurige, frustrierende und auch hoffnungsvolle Geschichten dabei. Aber fast alle haben gemeinsam, dass darin Männer die Hauptrolle spielen. Wo sind die Frauen in diesen Geschichten?
Die Frage ist wichtig, weil für die Integration von Familien mit Migrationshintergrund “die Mütter entscheidend” sind. So steht es im neuen Koalitionsvertrag. Deshalb sollen die geflüchteten Frauen ab sofort sichtbarer werden, man will sie verstärkt fördern und unterstützen. Je besser die Mütter integriert sind, desto kleiner wird der Spagat, den auch ihre Kinder zwischen zuhause und Schule schaffen müssen. Auch das BAMF schreibt den geflüchteten Müttern deshalb eine „Schlüsselfunktion in der Integration ihrer Familien“ ein.
Wenn wir Integration verstehen wollen, müssen wir viel mehr über die Geschichten der Frauen hören. Ich mache mich also gezielt auf der Suche nach geflüchteten Müttern. Ich will wissen, wie ihr Alltag aussieht, was sie sich wünschen und wie es ihnen in Deutschland geht.
Wo sind sie, die geflüchteten Mütter?
39,5 Prozent der Geflüchteten, die von Januar bis Dezember 2017 nach Deutschland kamen, sind weiblich. Das ist zwar deutlich weniger als die Hälfte, aber eigentlich genug, um sichtbar zu sein. Trotzdem ist die Studie „Female Refugee Study“ der Berliner Charité bisher die einzige umfassende und repräsentative Untersuchung dieser Bevölkerungsgruppe – und auch diese weist Widersprüche auf. Laut der Studie stammen die Frauen, die nach Deutschland geflüchtet sind, vor allem aus den drei Ländern Syrien, Afghanistan und Irak. Mehr als zwei Drittel der Frauen sind verheiratet oder leben in einer Partnerschaft. 48 Prozent der syrischen Frauen wurden auf der Flucht von ihren Ehemännern begleitet. Das heißt, dass über die Hälfte der aus Syrien geflüchteten Frauen alleine die gefährliche Flucht auf sich genommen haben. Diese Zahl überrascht mich – ich schließe daraus, dass das Klischee der „unsichtbaren Flüchtlingsfrauen“, die sich hinter ihren Männern verstecken, ihnen die Entscheidungen und die Bürokratie überlassen, nur bedingt tragfähig sein kann. Von den geflüchteten Frauen aus Afghanistan werden immerhin 67 Prozent von ihren Männern begleitet, aber was ist mit den verbleibenden 33 Prozent der afghanischen geflüchteten Frauen? Zumindest ein Teil von ihnen müsste in Deutschland quasi ein Single-Leben führen, beziehungsweise alleinerziehend sein. Oder?
Die Suche nach einer geflüchteten Mutter gestaltet sich als schwierig. Auf meinen Facebook-Aufruf taggen viele Freunde andere Freunde, aber niemand hat einen direkten Kontakt zu einer geflüchteten Mutter, oder will diesen nicht preisgeben. Unterkünfte, die ich kontaktiere, verhalten sich zunächst zögerlich – die Frauen seien sehr vorsichtig gegenüber Journalisten, und die Menge der Anfragen von Medien sei enorm. Irgendwann platzt der Knoten, bei mir meldet sich Amina Abid, Syrerin und Mutter von zwei Kindern. Amina ist mit Sohn und Tochter, aber ohne ihren Mann aus Syrien geflohen. Schon am Telefon hatte sie angekündigt, nicht viel Zeit zu haben. Ich besuche sie an einem Sonntagnachmittag in ihrer Wohnung im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg.
Die anderen Frauen lästern, weil Amina allein ist
Amina, klein, rundlich, herzliches Lächeln, öffnet mir die Wohnungstür, führt mich ins Wohnzimmer und verschwindet sogleich wieder in die Küche. Ich setze mich auf das beige Ledersofa in dem perfekt aufgeräumten und etwas leer wirkenden Wohnzimmer. Im Nachbarzimmer höre ich die Kinder spielen, die Tür ist zu. Amina ist westlich gekleidet, unauffällig. Ihr Haar verbirgt sie in der Wohnung nicht mit einem Kopftuch, sondern unter einer weißen Wollmütze.
Es ist Amina sehr wichtig, ihre Identität zu verbergen: Kein Aufnahmegerät, geänderter Name, geändertes Alter. Warum, das verstehe ich nicht so richtig, respektiere es aber natürlich.
Amina ist heute 34 Jahre alt, vor zwei Jahren ist sie ohne ihren Mann nach Deutschland geflohen, zusammen mit ihrer damals achtjährigen Tochter Aylin und dem damals zweijährigen Sohn Yasin. Ihr Mann Khaled konnte nicht gleichzeitig mit seiner Familie fliehen, aus „bürokratischen Gründen“ habe er noch in Aleppo bleiben müssen, erklärt Amina. Mehr will sie aber nicht sagen. Bei der Recherche hatte ich von verschiedenen Betreuern gehört, dass es bei den Angehörigen in vielen Fällen als „haram“, also als falsch angesehen wird, wenn eine Frau ohne ihren Mann flieht. Amina sagt davon nichts. Fakt ist: Khaled hält sich aktuell in der Türkei auf, zusammen mit seinen Eltern. Durch den ausgesetzten Familiennachzug bleibt die Familie bis auf weiteres getrennt. Die Kinder vermissen ihren Vater sehr, fragen oft nach ihm. Immerhin über WhatsApp und Skype ist die Familie im ständigen Kontakt – manchmal sei es ihr sogar zu viel, sagt Amina und lacht – zum Beispiel, wenn Khaled haargenau wissen möchte, was sie an diesem Tag gemacht hat und mit wem sie sich getroffen hat.
Auch wenn laut Statistik die Hälfte aller geflüchteter Frauen wie Amina ohne ihre Männer nach Deutschland kommen, so scheint sich Amina dafür zu schämen. Denn in Syrien, erklärt Amina, hat eine Frau eher schlechte Karten, wenn sie mit Mitte dreißig keinen Mann hat. Sie habe deshalb nur wenig Kontakt zu anderen geflüchteten Frauen, weil sie immer das Gefühl habe, dass über sie gelästert werde – weil sie ohne ihren Mann hier ist. Sie vermisst Khaled aber auch und freut sich darauf, wenn er nach Deutschland kommt. „Es ist nicht gut für die Seele, von seinem Partner getrennt zu sein“, sagt Amina. Gleichzeitig berichtet sie, dass viele geflüchtete Frauen sich in Deutschland von ihren Männern trennten, weil sie ihn nicht mehr brauchen. „Der Mann hat einen sehr großen Platz in der Familie in Syrien“, meint Amina. Viele Frauen müssten bei ihrem Mann bleiben, weil sie keinerlei finanzielle Absicherung haben. Sie bräuchten das Geld für sich und ihre Kinder. „In Syrien sind viele verheiratet, aber nur sehr wenige verliebt“, erklärt Amina. Nach der Flucht nach Deutschland verstünden die Männer die Welt nicht mehr: „Warum trennt sie sich jetzt von mir, davor war sie doch glücklich mit mir?“, spielt Amina mit Männerstimme nach und lacht.
Es gibt noch keine zuverlässigen Erhebungen dazu, wie viele Scheidungen es nach der Flucht bei Geflüchteten in Deutschland gibt. Im November 2017 berichtete das Berliner Stadtmagazin Zitty einer „inoffiziellen Umfrage unter Flüchtlingshelferinnen“, nach welcher jede Flüchtlingshelferin einige Syrerinnen kannte, die sich von ihren Männern in Deutschland trennten.
In der „Female Refugee Study“ heißt es hingegen: „Entgegen den bisherigen Eindrücken konnte überraschenderweise festgehalten werden, dass 70 Prozent der Frauen ihre Beziehungssituation gut oder sehr gut einschätzen.“ An anderer Stelle berichten die Frauen in der Studie jedoch von einem starken Wunsch nach Unabhängigkeit, auch von den Ehemännern. Hierfür seien die meisten Frauen sehr motiviert, Deutsch zu lernen und eine eigene Arbeit zu finden. „Die Frauen möchten auf eigenen Beinen stehen. Es wurde viel Dankbarkeit für die Anwesenheit in Deutschland geäußert. Auf die Frage, wie sie ihre Rolle als Frauen in Deutschland wahrnehmen würden, antworteten die Teilnehmerinnen, sie fühlten sich befreit von der „unterwürfigen“ Rolle, die sie in ihrer Heimat innehatten.“
Amina macht auf mich keinen unterwürfigen Eindruck. Die Widersprüchlichkeit der Studie klingen aber auch in ihren Aussagen immer wieder durch: Denn selbst wenn die Beziehung mit dem Partner gut ist und gut war, so hinterlassen die Erfahrungen von Krieg, Flucht und Migration auch in Liebe und Partnerschaft ihre Spuren. Wie überall scheinen auch hier Gefühle nicht immer einer Logik zu folgen.
Die Flucht
Die 14-tägige Flucht mit ihren zwei Kindern verlangte Amina mehr Kraft ab, als sie jemals geglaubt hätte, in sich zu tragen. Im November 2015 stieg Amina mit Tochter Aylin und Sohn Yasin in einen Transporter. Es war unerträglich heiß und stickig, über holprige Straßen gelangten sie über den Libanon in die Türkei. Dort stiegen sie in ein Schlauchboot, welches sie nachts nach Griechenland brachte. Vier Stunden waren es. „Nur“ vier Stunden, sagt Amina, aber diese verbrachten sie, ihre Kinder und die anderen dicht aneinander gedrängten Passagiere in Todesangst. Am Horizont sahen sie im Mondlicht, wie ein anderes, überfülltes Boot kenterte. Es war zu weit weg, um zur Hilfe zu kommen, aber ihr eigenes Boot wäre ohnehin zu überladen gewesen, um weitere Passagiere aufzunehmen.