Liebe alternative Clubs in Jena,
ich hab euch eigentlich ganz schön gern.
Bei euch kann ich mir experimentelle Theaterstücke anschauen, meine Bilder ausstellen, Bustickets zu Demos kaufen und die Nächte durchtanzen. Ihr unterstützt Jugendliche und soziale Projekte.
Bei euch würde ich mich wohlig wie zu Hause fühlen – wäre da nicht diese eine Sache.
Nachts fühle ich mich bei euch nicht sicher.
Ab einer bestimmten Uhrzeit werde ich oft gegen meinen Willen angefasst, geküsst, belästigt. Ich gehe nur noch selten feiern – und wenn, immer nur mit männlicher Begleitung.
Im Jahr 2017 schrieb die 19-jährige Schülerin Alina Sonnefeld einen Brief an zehn Clubs in ihrer Heimatstadt Jena, in dem sie sich über sexuelle Belästigung beschwerte. Die Lokalzeitung berichtete darüber. Und damit hätte die Sache vorbei sein können. Stattdessen passierte im kleinen Jena, diesem Dorf im Großformat, etwas, an dem sich Riesen wie Berlin und Hamburg ein Beispiel nehmen könnten und sollten: Die Clubs und das Kulturamt luden Alina ein, hörten ihr zu und gemeinsam überlegten sie sich, was man gegen das Grapschen und Antanzen tun könnte, es wurden Workshops und Diskussionsrunden organisiert, Statements veröffentlicht, Aufklärung betrieben.
Alinas Brief hat nicht nur ein paar Zeitungsleser zum Kopfschütteln gebracht, er hat Jenas Nachtleben verändert.
Das alles passierte noch vor der Diskussion über sexuelle Gewalt an Frauen, die im Herbst 2017 unter dem Hashtag #metoo entbrannt ist. Ich habe diese Diskussion sehr intensiv verfolgt, und ich halte sie für sehr wichtig. Aber wie sie geführt wird, ist vieles, nur nicht konstruktiv.
Nach wie vor sind es oft Männer, die per Leitartikel die Diskriminierung der Frauen kleinreden, die sie offenbar nicht im Ansatz verstehen, und sich selbst zum Opfer machen („Was darf man denn überhaupt noch?”), während tatsächlich Betroffene sich rechtfertigen müssen. Die Politik schweigt, Konsequenzen sind bisher ausgeblieben, und Kanzlerin Angela Merkel, immerhin eine der mächtigsten Frauen der Welt, will sich bis heute nicht zum Feminismus bekennen.
Ich habe mich gefragt, wie Alina es geschafft hat, dass die Diskussion in Jena so viel besser gelaufen ist.
Wie hat sie erreicht, dass ihr wirklich zugehört wird und heute viele Leute sagen: Das hat wirklich was gebracht!?
Deshalb habe ich mich in Jena umgehört, habe mit Clubs, Sozialarbeitern, Studenten, Mitarbeitern der Stadtverwaltung und Kulturschaffenden gesprochen. Und natürlich mit Alina selbst. Ich wollte herausfinden, was wir alle von dieser einzigartigen Geschichte lernen können.
„Du sagst, es war vor metoo – ich sag, es war nach Silvester in Köln”, erklärt Martin Dauel. Er arbeitet für das „Kassablanca”, einen Club in Jena. Er erinnert mich daran, weil es nach Alinas Brief erstmal nicht nur positive Reaktionen gab. Ganz im Gegenteil.
Seit der Silvesternacht 2015/16, in der am Kölner Hauptbahnhof zahlreiche Frauen bestohlen und sexuell belästigt wurden, zum großen Teil von ausländischen Männern, denken viele beim Thema sexuelle Gewalt sofort an Flüchtlinge und Migranten. Alinas Brief erschien ziemlich genau ein Jahr nach den Kölner Ereignissen, und viele Leute dachten sofort, Alina und ihre Freundinnen wurden von Flüchtlingen belästigt. Auch ich bin ursprünglich auf ihren Brief gestoßen, weil er von Rechtspopulisten gezielt unter dem Hashtag #keintagmehrohne verbreitet wurde.
Das war nicht das einzige Problem. Wie später bei der metoo-Debatte, suchten auch in Jena erstmal viele Leute den Fehler bei Alina. „Selbst schuld, wenn man sich so anzieht”, kommentierte ein Barbetreiber im Internet. Und auch aus ihrem privaten Umfeld gab es Stimmen, die vermuteten, Alina hasse wahrscheinlich einfach Männer, deshalb der Brief.
„Die meisten haben am Anfang nicht verstanden, dass ich damit nicht alle Männer angreifen will”, sagt Alina.
Sexismus in Clubs und die Frage: Was ist normal?
Heute ist Alina 20 Jahre alt und studiert in Leipzig Geschichte. Sie ist zierlich, hat glatte, lange Haare, ein breites Lächeln und spricht mit Binnen-I, sagt „Organisator_Innen” und „Mitschüler_Innen”. Ihren Brief hatte sie per E-Mail an zehn Clubs der Stadt geschickt. Zuerst antwortete das „Kassablanca”, und zwar direkt am nächsten Tag, und lud Alina zum Gespräch ein. Das „Kassa” ist der beste Club der Stadt, da gibt es in Jena eigentlich keine zwei Meinungen. Gegründet wurde er 1990. Er liegt am Westbahnhof, leicht oberhalb des Stadtzentrums, gleich neben Gleis 1. Rund 60.000 Gäste gehen jedes Jahr durch die graffitibesprühten Türen des Clubs.
Hier treffe ich Martin Dauel. Der 41-Jährige ist selbst als Jugendlicher ins „Kassa” zum Feiern gegangen und dann im besten Sinne hängengeblieben. Erst als Aushilfe in der Küche, dann als Zivi(ldienstleistender), immer als Gast, bald auch als Veranstaltungsorganisator und nun als stellvertretender Geschäftsführer. Bei einer Club Mate erzählt er mir, dass ihn Alinas Brief nicht überrascht hat:
„Jeder Club, der behauptet, Sexismus ist ein neues Thema, hat wahrscheinlich nicht aufgepasst. Das ist ein Problem, das ich kenne, seit ich mich in Clubs bewege. Für uns ist trotzdem wichtig, immer mal wieder dafür sensibilisiert zu werden. Wenn jemand hier im Club Probleme hat, wollen wir, dass der oder die Betroffene zu uns kommt und mit uns darüber redet, damit wir darauf reagieren können.”
Martin und sein Team tun viel dafür, dass sich jeder im „Kassa” wohlfühlt. Sich gegen Rassismus, Sexismus und allgemein jede Form von Diskriminierung einzusetzen, gehört zum Selbstverständnis des Clubs. Jeder Mitarbeiter muss das sogar unterschreiben, es ist Teil des Arbeitsvertrages. Und dennoch fühlte Alina sich nicht sicher, als sie hier feiern wollte. In ihrem Brief schreibt sie:
Von linken Clubs hätte ich mehr erwartet. Ihr setzt euch für Gleichberechtigung ein, aber schafft es nicht, sie auf eurer Tanzfläche durchzusetzen. Die Atmosphäre bei euch fühlte sich für mich nie so an, als ob ein offenes Ohr auf mich wartet, wenn ich von einem sexuellen Übergriff berichte. Ich traute mich nie, etwas bei der Security zu melden.
Alina sagt, dass sie die schlimmsten Party-Erfahrungen bereits im Alter von 15 oder 16 Jahren gemacht hat. „Das Antanzen und Angrapschen – ich dachte damals, dass das normal ist. Dass ich mir das reinziehen muss. Weil ich auch schon Situationen hatte, in denen ich stark bedrängt wurde und kein Mensch drumherum was gemacht hat, selbst Freunde nicht.”
Vier Forderungen an die Clubs
Trotzdem beschwerte sie sich bei den Clubs erst Jahre später. Warum? Alina sagt, dass sie damals nicht verstanden hat, dass sie das Recht hatte, sich zu beschweren. Dass das Angrapschen eben nicht normal ist, nur weil es häufig passiert.
Wie kann ein Clubbetreiber also dafür sorgen, dass sich seine Gäste nicht nur wohlfühlen, sondern auch dann zu ihm kommen, wenn sie sich nicht wohlfühlen? Alina hat in ihrem Brief vier konkrete Vorschläge gemacht:
- Hängt Plakate auf, die das Bewusstsein für sexuelle Gewalt schärfen.
- Richtet eine Anlaufstelle für alle Betroffenen ein und macht auf sie aufmerksam.
- Gebt öffentliche Statements ab, dass fairer gleichberechtigter Umgang in euren Räumen an erster Stelle steht.
- Schafft eine Atmosphäre, in der sich alle – unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Glauben – wohlfühlen.
Plakate sollen die Lösung sein? Das klingt erstmal nach nicht viel und auch nicht besonders innovativ. Martin sagt, sowas gab es früher schon im „Kassa”. Mit der Zeit seien die Plakate und Aufkleber aber wieder verschwunden, wurden geklaut, überklebt oder waren verschlissen. Sie zu ersetzen, hatte man vor, aber wie das oft so ist mit guten Vorsätzen, blieb der Plan irgendwo auf der Strecke. Bis Alina kam.
Denn ein vermeintlich banales Ding wie ein Schild auf dem Klo kann tatsächlich eine große Wirkung haben. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Es ist ziemlich normal, dass die persönliche Meinung von Menschen etwas anderes ist, als ihre öffentlich geäußerte Meinung.
Der Unterschied zwischen privater und öffentlicher Meinung
Bevor wir uns öffentlich äußern, beobachten wir ganz genau, was die bestehende öffentliche Meinung ist, wo die Grenze des Sagbaren liegt – und das sowohl bei der Mehrheit der Mitmenschen, als auch bei den Einzelnen, die abweichende Meinungen vertreten, und an denen wir beobachten können, was ihnen das einbringt. Preference falsification (Präferenzfalsifikation) nennt der Princeton-Professor Timur Kuran dieses Phänomen, man könnte es auch so übersetzen: Wir bewerten dauernd, was das Beste für uns sein könnte, und ziehen unsere Schlüsse daraus.
Alina geht darauf in ihrem Brief ein, wenn sie sagt: Die Atmosphäre bei euch fühlte sich für mich nie so an, als ob ein offenes Ohr auf mich wartet, wenn ich von einem sexuellen Übergriff berichte. Ich traute mich nie, etwas bei der Security zu melden und versuchte mich so direkt wie möglich zu wehren.
Die Schülerin hatte das Gefühl, dass das soziale Risiko, sexuelle Belästigung zu melden, zu groß für sie war, dass die anderen sie für unnormal halten, oder dass der obercoole Security-Typ sich über sie lustig machen könnte. Ein Plakat, das vom Betreiber eines Clubs für alle sichtbar aufgehängt ist, und das ganz einfach sagt: „Wenn du dich belästigt fühlst, dann ist das tatsächlich scheiße. Du kannst immer zu uns kommen, und uns das sagen. Wir nehmen dich ernst” – das kann schon den ganzen Unterschied machen.
Martin vom „Kassa” erklärt das so: „Betroffene fühlen sich anders wahrgenommen, wenn sie merken, dass sich der Laden schon mal damit auseinandergesetzt hat. Und auch potenzielle Täter kriegen mit, dass hier ein bisschen genauer hingeguckt wird und schaffen es dann vielleicht eher, auch in einem Zustand erhöhter Lebensfreude noch mal ’ne Bremse reinzuhauen und zu überlegen, was mach ich jetzt, was mach ich nicht?”
Die Pläne für neue Plakate und Aufkleber hatten im Kassa ja bereits in der Schublade gelegen und wurden nach Alinas Brief dann auch schnell umgesetzt. Andere Clubs übernahmen den Vorschlag ebenfalls und machten gute Erfahrungen. Im „Rosenkeller”, einem der ältesten Studentenclubs Deutschlands und einer echten Institution in der traditionsreichen Universitätsstadt Jena, treffe ich Sara Gaßen.
Die 32-jährige Juristin arbeitet in ihrer Freizeit in der „Rose”. Sie erklärt: „Wir haben uns Vorlagen im Internet angeschaut und die Plakate auf den Toiletten aufgehängt. Ich bin überzeugt, dass das eine echte Wirkung hat, auch wenn das erstmal sehr subtil daherkommt.”
Wieso die Stadt so gut mit den Clubs kann
Beim „Kassa” stieß Alina mit ihrem Brief sofort auf offene Ohren. Nach einer Woche war es aber bei dieser einen Reaktion geblieben, andere Clubs meldeten sich nicht zurück. Also schickte Alina den Brief an die Lokalpresse, und die machte daraus sofort einen großen Artikel. Und nun schaltete sich das Rathaus ein. Genauer gesagt das Kulturamt.
Dort ist Carsten Müller einer von zwei Chefs. Er bat alle Clubs der Stadt zum runden Tisch. Zum Austausch, gemeinsam mit Alina und ihren Freundinnen. Und zwar sofort, am Montag darauf. Man glaubt es kaum: Alle kamen, nicht nur die Frauen, sondern Vertreter aller Clubs. Auf einmal wollten alle darüber reden, wie man sexuelle Übergriffe beim Ausgehen verhindern konnte.
Das ist außergewöhnlich. Sicher, Jena ist nicht Berlin, hat nur 120.000 Einwohner. Dennoch: In vielen Städten hätte das Kulturamt Probleme, übers Wochenende auch nur drei konkurrierende Clubbetreiber gemeinsam an einen Tisch zu bringen. Wieso hat das ausgerechnet in Jena funktioniert?
Es kann nicht nur daran liegen, dass Jena, wie Martin und Sara sagen, ein Dorf im Großstadtformat ist, dass hier angeblich jeder jeden kennt, oder dass die Clubbetreiber sich mit dem Kulturamt gutstellen müssen, weil es ein wichtiger Sponsor für die Clubs ist.
Ein Türsteher als Kulturamtsleiter
Der Kulturamtsleiter Carsten Müller sieht ein bisschen aus wie der junge Bill Gates und war früher einmal Türsteher im „Kassablanca”. Er war also einmal einer dieser obercoolen Security-Typen. Und das ist wichtig: Denn es bedeutet, dass er nicht nur einen guten Draht zur Clubszene hat, sondern auch ein tieferes Verständnis dafür, wie sie funktioniert. Deshalb weiß Müller, dass zum Beispiel auch der Türsteher, vor dem Alina ein bisschen Angst hatte, für sie da sein wollte, und dass Sexismus im Club nicht erst seit der Silvesternacht von Köln ein Problem ist.
„Uns war wichtig, dass das Anliegen von Alina nicht banalisiert oder von populistischen Meinungsbildnern instrumentalisiert wird”, sagt Müller, „diese Tendenzen waren nach der ersten Veröffentlichung in diversen Kommentarspalten erkennbar. Wir haben uns deshalb von Anfang an klar positioniert.”
So kam es, dass am Ende des Treffens die Vertreter des Clubs sich mit den Vertretern der Stadt und Alina auf ein gemeinsames Statement einigten, das vom Kulturamt verbreitet wurde. Darin verurteilten sie Sexismus und ermutigten Betroffene, sich nichts gefallen zu lassen und darüber zu sprechen, wenn sie sich nicht gut fühlen. Auch ein Ansprechpartner für Betroffene wurden genannt, die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt.
Wie Jena neu definierte, wer die Mehrheit ist
Die Stadt nahm damit den Clubs die Pressearbeit ab und erfüllte zugleich Alinas zweite und dritte Forderung (Richtet eine Anlaufstelle für alle Betroffenen ein und macht auf sie aufmerksam; Gebt öffentliche Statements ab, dass fairer gleichberechtigter Umgang in euren Räumen an erster Stelle steht).
Martin Dauel vom „Kassa” sagt dazu: „Für uns alle war der Ansatz, dass wir eher konstruktiv arbeiten wollten an dem Thema, statt uns mit Außendarstellung zu beschäftigen.” Dadurch konnten sich alle auf Alinas letzte Forderung konzentrieren:
Schafft eine Atmosphäre, in der sich alle – unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Glauben – wohlfühlen.
Dafür wurde noch in derselben Woche ein offenes Treffen im „Kassa” organisiert, bei dem Ideen gesammelt wurden. Das Treffen wurde von Alina und ihren Freundinnen geleitet, und fast 50 Leute nahmen daran teil. Jemand schlug vor, dass in Schulen viel früher über Sexismus aufgeklärt werden sollte. Jemand anderes hatte die Idee, einen Preis an Clubs zu verleihen, die besonders vorbildlich mit dem Thema umgehen. Und dann gab es noch den Vorschlag, einen Workshop zu organisieren, in dem es darum gehen sollte, wo sexuelle Belästigung im Club eigentlich anfängt, was normal ist und was nicht.
Die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Jena hielt den Kontakt zu Alina und ihren Freundinnen aufrecht und bot ihre Unterstützung an, sowohl mit Geld als auch bei der Organisation. Möglichst viele der Vorschläge sollten umgesetzt werden.
Auch die Clubs blieben untereinander in Kontakt, und machten Alinas Forderungen intern zum Thema. „Wir haben nach guten Beispielen gesucht, an denen wir uns orientieren können. Dafür haben wir uns auch Soziologen und Psychologen mit an den Tisch geholt”, erklärt Sara Gaßen vom „Rosenkeller”. „Alinas Brief war überall Gesprächsthema. Das war für uns ein willkommener Anlass. Sexismus zu überwinden ist ein gesellschaftlicher Wachstumsprozess, es geht nur Schritt für Schritt und kann auch nicht erzwungen werden. Aber wenn die Diskussion das nächste Mal aufkommt, werden wir alle schon ein bisschen weiter sein.”
Hinter vorgehaltener Hand erfahre ich aber auch: Nicht alle Clubvertreter haben so gedacht wie die Leute vom „Kassa”, der „Rose” oder dem Kulturamt, erinnere dich an den Barbetreiber, der kommentierte: „Selbst schuld, wenn man sich so anzieht” – trotzdem haben alle das gemeinsame Statement mitgetragen. Denn: Es nicht zu tun, hätte bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen. Jena hat praktisch neu definiert, was die Mehrheitsmeinung beim Thema Sexismus ist.
Das Wichtigste: Alina war nicht allein
Aber was hat Alina eigentlich den Mut und das Wissen verliehen, diese Debatte nicht nur anzustoßen, sondern auch durchzustehen? Das Wichtigste ist vielleicht: Alina war nicht allein. In ihrem Brief schreibt sie:
Im Austausch mit anderen Mädchen und Frauen ist aufgefallen, dass es nicht nur meine individuelle Wahrnehmung ist, sondern vielen so geht. Fast jede weiß von Erfahrungen zu erzählen, bei denen ihre persönliche Grenze überschritten wurde.
Alina hat den Brief verfasst, aber noch sechs weitere junge Frauen haben ihn unterschrieben. Immer, wenn du in diesem Artikel den Name Alina liest, musst du dir eigentlich die Namen Lara, Hilde, Laura, Fiona, Jenny und Martha mitdenken.
Und auch, wenn weder Alina noch ihre Schule das hören wollen: Eigentlich ist der Brief eine Art Schulprojekt. Zumindest ist er daraus hervorgegangen. An Alinas Gymnasium nämlich wird der Ethikunterricht des gesamten Halbjahres in einer Projektwoche erledigt. Ihre Jahresstufe sollte sich in Gruppen organisieren und an einem Thema ihrer Wahl verschiedene philosophische Konzepte durchspielen. Alina wählte das Thema Rape Culture. Zu ihrer Gruppe gehörte kein einziger Mann, aber sechs Mitschülerinnen.
Mit dem Wissen und der Energie aus der Projektwoche schrieb Alina den Brief, sagt sie. Sie habe endlich verstanden, warum sie sich so schlecht fühlte, nachdem sie vor Jahren im Club angegrapscht wurde, und was man dagegen tun könnte. Sie besprach den Brief mit den Mitschülerinnen aus der Rape-Culture-Gruppe, gemeinsam verbesserten sie ihn und am Ende unterzeichneten alle mit ihren Namen und gingen auch später mit zu den Treffen im „Kassa”, dem Kulturamt, bei der Gleichstellungsbeauftragten.
Projektwoche Ethik – wie die Sache mit den Plakaten klingt das nach nicht viel. Aber in Jena hat es den Unterschied zwischen einer verletzenden und einer konstruktiven Diskussion gemacht.
Mit 15 machte es bei Alina „Klick”
Allerdings hat sich Alina nicht zum ersten Mal in der Schule mit dem Thema Feminismus beschäftigt. Das tut sie schon, seit sie 15 Jahre alt ist. „Ich kann mich exakt an den Moment erinnern, weil das so ein Wendepunkt in meinem Leben war”, sagt sie. Das war bei einem Feriencamp in Mecklenburg-Vorpommern. Dort wurden Workshops zum Thema Geschlechteridentität (Gender) angeboten.
„Ich bin da mit einer sehr abwertenden Haltung hingegangen, so äh Gender, das ist doch sinnlos. Aber dann mussten wir Männer- und Frauenklischees aufschreiben und darüber nachdenken, wie die Menschen sind, die wir kennen, wie die in diese Schubladen reinpassen. Und da ist mir aufgefallen: Boah, das haut ja gar nicht hin. Alle meine Freundinnen trinken Bier und spielen Fußball, und mein guter Freund, der sammelt Schuhe – jetzt denk mal drüber nach, Alina, vielleicht ergibt das doch alles keinen Sinn.”
Was für eine genderneutrale Erziehung spricht
Cornelia Bartlau ist die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Jena. Zuvor war sie 22 Jahre lang als Sozialarbeiterin unterwegs, sie kennt die Schulen, Kindergärten und Jugendclubs von Jena wie ihre Westentasche. Alina kannte sie schon als kleines Mädchen. Sie sagt: „Eigentlich ist es ein bisschen zu spät, wenn junge Menschen erst dann über Sexismus sprechen, wenn sie im Club erste schlechte Erfahrungen gemacht haben. Denn mit ihrer sexuellen Identität beschäftigen sich Kinder schon viel eher. Viele Lehrer, Erzieher und auch Sozialarbeiter wissen aber nicht, wie sie mit Kindern darüber reden sollen. Sie haben es nicht gelernt.”
Die schwedische Regierung hat bereits 1998 beschlossen, dass Schulen und Kindergärten für eine geschlechtsneutralere Erziehung sorgen und auf traditionelle Stereotypen von männlich und weiblich verzichten sollten.
Heute rangiert Schweden auf Platz vier (hinter drei anderen nordischen Ländern) beim „Global Gender Gap Report“ des Weltwirtschaftsforums, der das Niveau der Gleichstellung von Frauen und Männern und Frauen weltweit analysiert. Deutschland steht auf Platz 13, hinter beispielsweise Ruanda, den Philippinen und Burundi.
Aber zurück zu Alina. Mit 15 Jahren hatte sie also ihren Klick-Moment. „Und dann habe ich beschlossen, dass ich etwas ändern möchte. Ich hab gemerkt, wie sehr mich der Feminismus befreit hat von den Einschränkungen, die einen die Gesellschaft gibt als Frau oder auch als Mann.”
Alina begann mit ihren Freund_Innen über Feminismus zu sprechen, und Texte darüber zu schreiben. Als der beliebte Blog „This Is Jane Wayne” seine Leser und Leserinnen nach ihren Erfahrungen mit Sexismus befragte, schickte Alina einen ihrer Texte ein. Darin beschrieb sie, wie beklemmend es sich oft anfühlt, eine junge Frau zu sein, und wie verklemmt wir über Sex reden, wie befreiend es ist, mal keinen BH zu tragen, und wie kopflos die Reaktionen darauf meist sind, gerade in einer „Dorfgroßstadt”. Die ersten vier von Dutzenden Kommentaren unter dem Artikel:
Ich bin ein kleines bisschen beeindruckt von diesem Text und erst recht von der Autorin!” (Sophie)
Geht mir genauso Sophie! Schöner und ehrlicher Text. (Merle)
Tolle junge Frau! Mich hat der Text sehr berührt … (Maxi)
Hut ab und danke für diesen Text! You go, girl! (Kathi)
Alina fand ihre Stimme und Zustimmung. „Damals habe ich gemerkt, dass ich allein mit einem Text schon unglaublich viele Menschen bewegen kann. Und dass sich ganz viele Mädchen darin einfach wiedererkannt haben”, sagt Alina. Ihr erster richtiger Artikel war so etwas wie die Generalprobe für den Brief vom vergangenen Jahr. Und so nahm diese Geschichte ihren Lauf.
Lessons learned
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Der Brief: persönlich, konkret, konstruktiv. Alina hat in ihrem Brief klargemacht, dass sie helfen will, das Problem zu lösen, nicht einfach nur meckern. Den Clubs schrieb sie: Ich bin mir sicher, dass ihr viele Helfer*innen findet. Ihr habt die erste in mir.
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Die Clubs: Sie haben Alina beim Wort genommen. Und vor allem haben sie eins getan: zugehört statt sich zu rechtfertigen. Denn für Betroffene ist es extrem schlimm, wenn die Schuld auch noch bei ihnen gesucht wird. Wie wir mit ihnen umgehen, beobachten auch andere Betroffene und ziehen ihre Schlüsse daraus.
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Die Politik: Dass die Clubs so cool reagiert haben, lag bei einigen daran, dass sie sich selbst schon lange mit dem Thema Sexismus beschäftigt haben. Vor allem das „Kassablanca”, der „Rosenkeller”, aber auch das Café Wagner haben die Diskussion nicht als Angriff, sondern als Chance verstanden. Was ihnen gemeinsam ist: Die Clubs werden von Vereinen betrieben, und es ist anzunehmen, dass sie auch ohne Einmischung des Kulturamtes diesen Weg gegangen wären. Dass das Kulturamt aber schnell reagiert und auch die kleineren, rein kommerziellen Clubs mit an den Tisch brachte, stellte sicher: Hier ziehen alle am gleichen Strang. Zumindest öffentlich. Denn das gemeinsame Statement hat den Rahmen für die Diskussion geschaffen: Wer davon abweichen wollte, zum Beispiel lieber über Flüchtlinge oder kurze Röcke reden wollte, wäre negativ aufgefallen. Ein weiterer Grund, warum die Stadt so gut und konstruktiv reagierte: Ihre Vertreter kennen sich in der Clubszene aus und sind dort respektiert. Nur so kann man auch selbst Forderungen stellen, die akzeptiert werden.
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Genderneutrale Erziehung: Welches Geschlecht man hat, sollte in der Erziehung, in Kindergarten und Schule besser keine Rolle spielen. Es wird Zeit, dass das auch von der Politik so beschlossen wird und dass Eltern, Lehrer und Erzieher lernen, wie sie mit Kindern über Sexualität reden können
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Lokal: Sexismus ist ein globales Thema, sexuelle Gewalt an Frauen Alltag. Aber gelöst werden können diese Probleme nur zu einer konkreten Zeit und an einem konkreten Ort: da, wo du lebst und mit den Menschen, mit denen du umgehst.
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Repeat: Über Sexismus zu sprechen, ist Übungssache. Etwas dagegen zu unternehmen, ist Wiederholungssache. So wichtig der Impuls war, der von Alina und ihren Freundinnen ausging: Nach dem Abitur sind die jungen Frauen in die Welt gezogen. Einige Ideen wie der Feminismus-Workshop oder die Plakate wurden umgesetzt. Andere, wie der Preis für besonders vorbildliche Clubs, nicht. Einzelpersonen können nicht die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme stemmen. Dafür braucht es Institutionen – und zwar mit echtem Personal und Budget – wie zum Beispiel eine Gleichstellungsbeauftragte
Redaktion: Esther Göbel und Theresa Bäuerlein; Fotoredaktion: Martin Gommel; Fotos: Heidi Gumpert, Valentina Nicolae, Christian Gesellmann; das Aufmacherbild zeigt Alina Sonnefeld und ist von Leander Brandstädt; Schlussredaktion: Vera Fröhlich.