Dieser Beitrag ist etwas Besonderes: Journalismus zum Hören, produziert und vor wenigen Tagen zuerst veröffentlicht von unserem Partner Deutschlandfunk Kultur. Er erlaubt etwas, was wir bei KR ganz besonders schätzen, den Perspektivwechsel. Nimm dir eine knappe Stunde Zeit, setze einen Kopfhörer auf und tauche ein in diese Geschichte.
„Intersexualität? Das ist doch ein Luxusproblem.” So reagierte ein Kollege, als ich ihm von meinem aktuellen Thema erzählte. Er konnte es nicht begreifen: Seit Jahrzehnten ging ich dahin, wo es weh tut: Völkermord in Srebrenica, Flucht und Vertreibung, Zwangsarbeit, tödliche Erbkrankheiten, Leben mit Alzheimer, Sterbehilfe, Kinderhospiz. Immer geht es ums Ganze, um Leben und Tod. Und nun dieses „Luxusproblem“?
Der Kollege hatte keine Ahnung. Und ich war ihm am Anfang der Recherche nur ein paar Schritte voraus. Beide entsprechen wir der Norm und übersehen nur zu leicht, wie diese Norm andere missachtet und degradiert. Und zu welchen monströsen Mitteln Eltern überredet werden, um Abweichungen zu vertuschen oder der Norm anzugleichen.
Zwar sind geschlechtsangleichende Operationen mittlerweile höchst umstritten, aber die Häufigkeit hat nicht abgenommen. Noch heute werden Klitorisoperationen im frühen Kindesalter durchgeführt, werden Neovaginas und Penisplastiken konstruiert – vielleicht manchmal zum Segen, oft aber mit traumatischen Folgen für die Zukunft dieser Kinder. Da lamentiert die westliche Welt, zu Recht, über Genitalbeschneidung, ohne wahrzunehmen, das derlei tagtäglich auch hierzulande geschieht.
Auf der Suche nach dem ursprünglichen Körper
Nach mehr als 30 Jahren in der Frauenrolle erfährt Sandrao von seiner/ihrer Intersexualität und der erzwungenen Geschlechtszuweisung und kämpft seitdem um „Menschenrechte auch für Zwitter“.
Malte ist gerade im Abitur, als ihm die Ursache der vielen Operationen im Kindesalter klar wird: Pseudo-Hermaphroditismus. Seitdem ringt er um sein Selbstbild als Mann.
Sandrao und Malte, beide Mitte 30, erzählen uns ihre Geschichte über die Suche nach der eigenen Identität, dem ursprünglichen Körper und einem dritten Geschlecht. Und über die Zumutungen einer Gesellschaft, die zum Anpassen und Vertuschen zwingt, weil sie ein „Dazwischen“ nicht erträgt.
Wir müssen denen zuhören, die gekränkt und verstümmelt wurden
Ich bin jetzt 75 Jahre alt, bilde mir ein, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und habe von all dem nur wenig gewusst. Um so wichtiger ist es, denen, die von der Norm abweichen, zuzuhören, wenn sie von den alltäglichen Kränkungen und den Folgen ihrer Verstümmelung erzählen.
Um so wichtiger ist es, einer schlecht informierten und ideologisch vergifteten Debatte Stimme und Geschichte zu verleihen, um Köpfe und Herzen für gesellschaftlichen Wandel vorzubereiten. Genau das habe ich mit meinem Feature versucht.
Der kritische Kollege übrigens hat gehört und dazu gelernt.
Karla Krause, geboren 1942, war Reporterin, Buchautorin, Dramaturgin und Fernsehproduzentin. Seit 2000 arbeitet sie als Autorin vor allem für das Radiofeature. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Geschichten zur medizinischen Ethik.
Regie: Guiseppe Maio; mit: Lisa Hrdina, Gabriele Blum, Andreas Tobias, Romanus Fuhrmann; Ton: Michael Kube; Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2017. Produktion bei Krautreporter: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel; Schlussredaktion: Rico Grimm.