Betrunken wie ein Seemann klingelt die Nachbarin an meiner Tür. „Bist du noch wach?“, fragt sie. „Sieht ganz so aus“, sag ich. Sie ist leicht verheult und hat eine Flasche Weißwein dabei. Ich lasse sie rein. Sie wohnt über mir, hat einen Sohn, sie fährt Moped und ist sehr groß. Wir setzen uns aufs Sofa, trinken Wein und rauchen Kette. Sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter. Ich muss morgen zeitig raus, denk ich. Dann wird sie auf einmal wütend. Ich könnte schon ein bisschen mehr dafür tun, sie aufzuheitern, sagt sie. „Ich muss morgen früh raus“, sag ich. Sie fummelt mir im Schritt rum. Sie küsst mich auf den Hals. Sie knabbert an meinem Ohr.
Am liebsten würde ich sie am Arm packen und zur Tür bringen, aber sie ist größer als ich. Ja, eine sehr große Frau, und ein bisschen aggressiv. Ich will nicht, dass das in einer Prügelei ausartet. Außerdem denke ich, sie kriegt von alleine mit, dass ich keinen Bock auf sie habe. Ich bewege mich nicht. Glücklicherweise bekomme ich auch keinen Steifen.
Das Ding ist: Ich mag meine Nachbarin eigentlich. Wir haben mal Tischtennis gespielt im Hof. Ich denke, ihr wird das morgen sowieso peinlich genug sein, falls sie sich daran erinnert. Ich denke auch: Wenn ich sie zurückweise, wird sie sich vielleicht fiese Lügen über mich ausdenken und alle werden ihr mehr glauben als mir. Ein Teil von mir denkt aber eben auch: Hmm, vielleicht bläst sie mir ja einen.
„Beschäftigt euch als Männer sowas wie die Weinstein-Sache?”, fragt die Kollegin
Unter dem Hashtag #metoo berichten Frauen momentan in sozialen Netzwerken darüber, wie sie Opfer männlicher Sexualität geworden sind, wie sie angemacht, angegrapscht, entwürdigt, vergewaltigt worden sind. Auslöser dafür waren die Enthüllungen der New York Times und des New Yorker über den legendären Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, ein sehr wichtiger, sehr hässlicher Mann, der seine Machtposition ausgenutzt hat, um jahrzehntelang und systematisch Frauen, vor allem Schauspielerinnen, zu missbrauchen.
„Wie denkt ihr eigentlich darüber?“, fragte meine Kollegin Esther kürzlich im Büro in die Runde, aber eigentlich meinte sie mich und meinen männlichen Kollegen. „Beschäftigt euch als Männer sowas wie die Weinstein-Sache?” - „Ja, na klar“, sagte ich, „wichtiges Thema, damit sollte man sich immer beschäftigen“, aber in Wirklichkeit dachte ich „Oh oh“ und ein kleines bisschen auch: „Halt die Klappe.“
Ich habe all die Harvey-Weinstein-Artikel ignoriert, weil ich dachte: Sexuelle Gewalt ist Alltag, auch in Deutschland. Ist doch scheinheilig, wenn ausgerechnet das ferne und scheinheilige Hollywood jetzt diese Debatte auslöst.
Dabei sollte jeder Anlass recht sein, damit wir über das vielleicht verheerendste Gewaltproblem in unserer Gesellschaft endlich offen reden. Und auch darüber reden, warum Männer sich so oft so Harvey-Weinstein-mäßig verhalten. Denn meist reden wir bei sexueller Gewalt über Frauen. Wie sie damit klarkommen, wie sie sich schützen können. Und leider auch darüber, was sie falsch machen. Aber wir müssen darüber reden, was Männer falsch machen und warum – und wie sich das ändern kann. Und auch darüber, welche Rolle Frauen in diesem Prozess spielen können.
Was hat ihr Blick zu bedeuten? „Hilfe?!” Oder will sie vielleicht einen Dreier?
Die Wahrheit ist: Ich bin 33 Jahre alt und ich kann mich an kein einziges Gespräch mit anderen Männern erinnern, in dem wir über dieses Thema gesprochen haben: sexuelle Gewalt gegenüber Frauen. Wo fängt das an? Was ist der Unterschied zwischen Anmache und Belästigung? Was sind Sachen, die man nicht machen darf? Woran kann ich beim Sex Lust von Schmerz unterscheiden?
Ich habe schon mit mehr Menschen über die komplexe Bestäubungsökologie von Feigen oder die Gründe für die russische Invasion in Afghanistan geredet als darüber, wie Frauen in unserer angeblich so aufgeklärten Gesellschaft bis heute regelmäßig, dauerhaft, megapenetrant und superverletzend sexueller Gewalt ausgeliefert sind.
#metoo macht mir gerade klar, dass ich dieses Phänomen alltäglicher Gewalt so willfährig ignoriert habe, dass ich mich dafür schäme. Was mir mit meiner Nachbarin passiert ist, passiert Frauen ständig. Statistisch gesehen kennt jeder mehrere Frauen, die sexuell belästigt oder missbraucht worden sind. Statistisch gesehen kennt also jeder auch Männer, die belästigt und missbraucht haben. Dennoch hatte ich für dieses Thema noch nie viel Zeit übrig. Bislang dachte ich eben zu oft: „Oh oh“ oder „Halt die Klappe“.
Einmal griff ein Typ aus meiner Fußballmannschaft vor meinen Augen in der Teeny-Disco seiner Freundin in den Schritt und sagte zu mir: „Na, ist das ’ne hübsche Pflaume?“ Ich habe ihm nicht gesagt, dass er ein Idiot ist. Seine Freundin hat mich ausdruckslos angestarrt, und ich wusste nicht, was ihr Blick zu bedeuten hat. „Hilfe?!” Oder will sie vielleicht einen Dreier? Ich bin mir auch heute nicht sicher, ob sie es in dem Moment selbst wusste, selbst erst 15 Jahre alt und ohne Erfahrungen.
Wenn Männer um Sex betteln und Frauen aus Mitleid nachgeben
Die Sprüche, mit denen wir Jungs uns untereinander aufklärten, gingen so „Dumm fickt gut“, „Es muss klatschen“, „Stille Wasser sind tief“ und so weiter auf diesem Niveau. Nach ersten Dates fragten wir uns, ob die „Alte schluckt oder spuckt“, und dabei bekamen wir zu Hause noch das Pausenbrot von Mutti geschmiert. Es gab im Viertel eine Susi, von der es hieß, die ist leicht zu haben. Wir klingelten alle der Reihe nach bei ihr. Ich war Nummer 3 in der Reihe. Ich durfte ihr aber nur an die Titten fassen, das war sehr enttäuschend. Mir hat niemand gesagt, dass ich ein Idiot bin.
Mehrere Frauen haben mir irgendwann schon einmal von sexueller Belästigung berichtet. In der Regel waren es Vorfälle, die viele Jahre zurücklagen, die sie tief geprägt haben. Oft hatten sie nie irgendjemand davon erzählt. Dass sie oft nur deshalb Sex mit ihrem Freund hatten, weil er nicht aufgehört hat zu betteln oder rumzuflennen oder beleidigt zu sein. Dass aus einvernehmlichen Sex eine Vergewaltigung wurde, weil der Mann dachte, wenn das mit dem Analsex heute Nacht wieder nicht klappt, ist er ein Stück Müll. Dass sie als Kinder von Schokoladenonkels angefasst worden sind. Dass sie tatsächlich vergewaltigt worden sind.
Ich habe aufmerksam zugehört, Trost gespendet, Alkohol oder andere Formen der Zerstreuung organisiert und dann schön alles wieder verdrängt. Erinnere dich an meine besoffene Nachbarin vom Beginn dieses Textes. Die ist irgendwann gegangen und hat danach nie wieder ein Wort mit mir gesprochen. Einem einzigen Freund habe ich davon erzählt, und der hat gesagt: „Also, ich hätt sie gefickt.“ Auch ein studierter Mann, übrigens.
Wir wichsen auf Bibliothekstoiletten und in Dixie-Klos
Ihm habe ich in der Situation auch nicht gesagt, dass er ein Idiot ist. Dass es widerlich gewesen wäre, die offensichtliche Notsituation und Betrunkenheit dieser Frau auszunutzen, um einen wegzustecken. Und dieser Freund hat auch nicht zu mir gesagt: „Warum hast du ihr nicht einfach gesagt, wie du dich fühlst in dem Moment?” Ich habe ja an alles Mögliche gedacht, sogar an eine Prügelei. Aber nicht daran, einfach zu sagen: „Ich will das nicht. Nichts für ungut, aber geh jetzt bitte, ich mag dich trotzdem, aber du gehörst ins Bett.“ Ich dachte an Bücher von Henry Miller oder Charles Bukowski, in denen die Ich-Erzähler Frauen vögelten, die so besoffen sind, dass sie dabei nicht mal aufwachen.
Jungs zwischen 13 und 23 Jahren denken ungefähr minütlich an Sex. Wir wichsen auf Bibliothekstoiletten und in Dixie-Klos. Nicht permanent Sex zu haben, macht uns unglücklich, weil wir denken, es macht uns zu Waschlappen. Wir verstehen oft nicht, dass es nicht das Ende der Welt ist, wenn eine Frau keine Lust auf Sex hat. Es ist ein gelerntes Verhalten. Wir wollen stark sein und sind in Wahrheit oft herablassend. Wir wollen potent sein und sind in Wahrheit oft belästigend. Wir denken, wir lieben und verstehen nicht, dass es keine Liebe ohne Respekt gibt.
Sich verletzlich zu zeigen, heißt unter Jungs oft immer noch: verspottet zu werden. Ich habe Freunde, die kommen Hals-über-Kopf-verliebt von einem Date und sagen: „Ich hab da so ’ne Uschi kennengelernt“, obwohl sie meinen: „Ich habe eine tolle Frau kennengelernt, natürlich ist es jetzt zu früh, um über große Gefühle zu reden, aber ich glaube, ich bin verliebt.“
Du denkst daran, dem Täter nicht weh tun zu wollen
Es ist ebenfalls ein gelerntes Verhalten, dass bei den Opfern sexueller Gewalt eine komplexe Verdrängungs- und Rechtfertigungsökologie einsetzt: Du denkst daran, dem Täter nicht weh tun zu wollen. Vielleicht hat er es einfach nicht geschnallt. Vielleicht willst du auch nur sein kleines dummes Ego schützen, damit es nicht noch schlimmer wird. Du denkst daran, dass du vielleicht irgendwas getan hast, das den Täter ermutigt hat. Du denkst daran, ob dir überhaupt geglaubt wird, wenn du es erzählst. Du denkst daran, ob die Leute – wenn sie dir glauben – in Zukunft schlecht von dir denken oder reden werden.
Diese gelernten Verhalten sind nicht genetisch oder geschlechtsspezifisch, sie taugen nicht als Ausrede. Sie stehen für eine kulturelle Prägung, die in unserer Gesellschaft leider zu Ungunsten der Frauen ausgefallen ist. In anderen Gesellschaften ist es anders, da schlagen die Frauen die Männer. Auch nicht besser. Der Punkt ist: Wir können es ändern.
Einmal hat ein Typ meiner Freundin in einem Technoclub an den Arsch gefasst. Er tanzte oberkörperfrei, schwitzte wie bekloppt und ging allen auf den Sack. Als die Nebelmaschine anging, griff er zu. Ich sah es nicht, aber ich sah, wie der Gesichtsausdruck meiner Freundin sich verändert hatte. Zwei andere Mädchen gingen auf die andere Seite der Tanzfläche. „Was ist?“, fragte ich sie. „Ach nix“, sagte sie, aber alles an ihr schrie nach Hilfe. Nach mehreren Nachfragen erzählte sie, was passiert war.
Ich ging zum Einlass, erzählte den Türstehern davon, und sie warfen den Typ sofort raus. Ich wünschte, das wäre in jedem Club so möglich. Ich wünschte, meine Freundin hätte nicht erst daran gedacht, ob uns dieser Vorfall den Abend verderben könnte. Vielleicht hatte sie auch ein bisschen Angst, ich würde scheiße reagieren. Ich kann es ihr nicht verübeln. Ich habe auch kein Recht dazu. Aber ich finde, ich habe eine Verpflichtung, dass so etwas in Zukunft nicht mehr passiert.
Dafür wünsche ich mir aber auch eins: dass Frauen Männern öfter sagen, wenn sie Idioten sind.
Beim Erarbeiten des Textes hat Esther Göbel geholfen; Theresa Bäuerlein hat gegengelesen; Martin Gommel hat das Aufmacherfoto gemacht; Audioversion: Christian Melchert