Ohne Tanja wäre bei den Schuberts* Chaos angesagt. Wer würde die Wäscheberge bügeln, die Böden wischen und das Bad putzen? Mutter Anna? Keine Zeit. Die nächste Präsentation fürs Büro ist noch nicht fertig. Vater Johannes? Auch keine Zeit, auf ihn wartet neben einem Arbeitsberg die Tochter, zehn Jahre alt, die vom Hockey abgeholt werden muss, und ihr Bruder, sechs Jahre, der zum Handball will.
Deswegen kommt Tanja einmal die Woche bei den Schuberts in Berlin Prenzlauer-Berg vorbei, bringt fünf Stunden Zeit mit und kümmert sich darum, dass die Wohnung der Familie sauber bleibt. Tanja hat selbst auch Familie: zwei erwachsene Kinder, einen Mann, ein Enkelkind. Aber sie sieht ihre Familie nicht jeden Tag, so wie die Schuberts sich jeden Abend zum Essen treffen. Denn Tanja kommt aus Polen. Sie selbst wohnt aber in Deutschland. Weil sie hier ihr Geld verdient. Tanja putzt in drei verschiedenen Familienhaushalten und in einem Berliner Büro. Bei einer der drei Familien hütet sie ab und an auch die Kinder.
Tanja ist zwischen 50 und 60 Jahre alt, arbeitet als Reinigungskraft auf Rechnung, also nicht schwarz, und lebt seit knapp dreieinhalb Jahren in Berlin. Das weiß ich von Johannes; Tanja selbst wollte nicht mit mir reden. Genauso wenig fand ich eine andere Reinigungskraft aus Osteuropa, die bereit gewesen wäre zu einem Gespräch mit mir.
Die Schuberts und Tanja sind Teil eines Systems, über das viele nicht gern sprechen – das aber viele gerne nutzen. Dieses System arbeitet sich an einem Problem ab, das sehr viele Familien kennen, in denen beide Elternteile arbeiten: das Zeitproblem. Gelöst wird es oft durch Frauen wie Tanja. Die zählt zu einer Horde moderner Heinzelmännchen – die eigentlich Heinzelfrauen sind, weil in den überwiegenden Fällen weiblich – die oft aus Polen und der Ukraine stammt, aber auch aus Rumänien oder Bulgarien oder einem anderen Staat aus Osteuropa.
Irgend jemand muss die Familienarbeit machen und die Lücke zu Hause füllen
Die modernen Heinzelfrauen putzen, sitten oder pflegen in jenen privaten Haushalten, in denen die Frauen der westlichen Mittelschicht Geld verdienen, vielleicht sogar Karrieren machen, genau wie die Männer. Manchmal sind Kinder anwesend, manchmal nicht. Immer aber bleibt die Frage: Wer erledigt das Gros der Haus- oder Familienarbeit, in vielen Fällen beides, wenn den Powerfrauen der westlichen Welt keine Zeit mehr dafür bleibt und die Männer nicht putzen? Oder wenn die Frauen schlicht keine Lust haben, die wenige und deswegen so kostbare Zeit mit den niemals verschwindenden Wäschebergen zu verbringen, die eine Familie eben produziert?
Migrations- und Genderwissenschaftler-/innen erforschen dieses Phänomen unter dem Namen „Care-Kette“: Frauen, die ihre eigene Familie zurücklassen, um bei anderen Familien in reicheren Ländern einzuspringen, und die dann selbst wieder eine Frau beauftragen, um die entstehende Lücke zu Hause zu stopfen, beispielsweise die Großmutter oder eine Tante. Oder ebenfalls eine Migrantin, die dann beispielsweise aus der Ukraine stammt. Auf diese Weise spinnt sich ein dichtes Netz an bezahlten „Arbeitsmigrantinnen“ mittlerweile um den gesamten Globus. Der Sektor der drei großen „C“ – Caring, Cleaning and Cooking – hat sich zum größten Arbeitsmarkt für Frauen weltweit entwickelt. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass in Europa etwa eine Millionen Migrantinnen in haushaltsnahen Dienstleistungen arbeiten, weltweit sollen es 17 bis 25 Millionen sein.
Was aus der Care-Kette entsteht, ist aber nicht nur ein riesiger Niedriglohnsektor, in dem die Arbeitnehmerinnen oftmals schwarz arbeiten, dadurch nicht gegen Krankheit oder Arbeitsunfälle abgesichert sind und auch im Alter nicht von dem Sozialstaat profitieren, in dem sie schuften. Es entsteht noch etwas anderes: ein feministisches Dilemma.
Denn das Versprechen der Gleichberechtigung erfüllt sich nur für eine bestimmte Klientel. Für jene Frauen in den westlichen Ländern, die gut gebildet sind, strukturelle Unterstützung haben, somit über ausreichende Möglichkeiten des Aufstiegs verfügen – und über genug Geld, um die Lücken, die sie zu Hause hinterlassen, durch Personal aufzufüllen.
Es entsteht eine Zwei-Klassengesellschaft unter Müttern - die einen gewinnen an Ansehen, die anderen werden wegen ihrer Arbeit abgewertet
Die britische Ökonomin Alison Wolf vom Londoner Kings College spricht deswegen von einem „Elite-Feminismus“. 2015 schrieb sie in einem Artikel der englischen Zeitung The Guardian: „Sisterhood is dead“, Schwesternschaft ist tot. „Klasse übertrumpft Geschlecht. Die Ungleichheit zwischen Frauen wächst viel schneller als die zwischen Männern.“
Besonders sichtbar wird diese Zwei-Klassengesellschaft unter Müttern. Frauen wie Anna aus Berlin können maximales gesellschaftliches Ansehen erreichen: Anna hat zwei Kinder und ist dennoch als Büroleiterin beruflich erfolgreich; sie ist bei den Schuberts sogar die Hauptverdienerin, bringt also ein höheres Einkommen nach Hause als ihr Mann. Auch Tanja auf der anderen Seite ernährt mit ihrer Arbeit als Reinigungskraft in Deutschland die Familie in Polen – doch sie ist keine soziale Aufsteigerin. Vielmehr muss sie sich in ihrem Heimatland dem gesellschaftlichen Vorwurf aussetzen, sie habe ihre Familie zurückgelassen und würde sie vernachlässigen. Helma Lutz von der Universität Frankfurt, die das Phänomen Care-Kette seit mehr als 15 Jahren erforscht, nennt diese soziale Abwertung „Mother-Blaming“.
Wo Anna also durch ihren Job als Arbeitnehmerin und Mutter soziale Anerkennung gewinnt, verliert Tanja an sozialer Anerkennung. Und noch einen negativen Aspekt bringt die Care-Kette mit sich: Care-Arbeit bleibt Frauenarbeit. Der weibliche Teil der Bevölkerung putzt, kümmert sich um die Kinder, pflegt die Alten. Dass diese Aufteilung zwischen den Geschlechtern aber nicht naturgegeben ist, sondern viel mehr eine Kulturgeschichte, vergessen die meisten.Zwar arbeiten auch Männer in Berufen, die sie von der Familie trennen. LKW-Fahrer beispielsweise, oder Bauarbeiter, die nach Deutschland kommen, um hier für Billiglöhne zu schuften. Doch ihre Abwesenheit von der Familie ist gesellschaftlich viel mehr akzeptiert als die der Mütter.
Was die Migration für sie im Ausland bedeutet? Sie werden zu dem, was Forscherinnen wie Lutz „Skype-Mütter“ nennen: Über Medien wie Skype oder auch WhatsApp halten die Frauen ihre Verbindung nach Hause, versuchen, die Familienbelange aus der Ferne zu regeln. Aber sie sind eben nur virtuell da. Organisatorisch klappt das System transnationale Mutterschaft bei vielen Familien gut; man richtet sich ein, die Kinder gewöhnen sich daran, dass Mama nicht zu Hause ist und werden früher selbstständig, im Heimatland hilft die weibliche Verwandtschaft aus, um den Vätern unter die Arme zu greifen. Trotzdem bleibt die Situation für Eltern und Kinder belastend.
Arbeitsmigrantinnen aus Osteuropa sind keine Opfer – aber sie werden ausgebeutet
Handeln jene Familien, die eine osteuropäische Reinigungskraft beschäftigen, also unmoralisch? Und was ist mit den Familien, die Opa eine Pflege zu Hause ermöglichen wollen, sich aber eine deutsche 24-Stunden-Kraft niemals leisten könnten? Johannes und Anna haben kein schlechtes Gewissen, weil Tanja bei ihnen putzt. „Ich hätte eines, wenn sie bei uns schwarz arbeiten würde“, sagt Johannes, „aber sie ist angemeldet, wir bezahlen sie gut.“ Tanja verdient zwölf Euro pro Stunde, übertariflich. Johannes selbst und seine Frau arbeiten beide 40 Stunden in der Woche, offiziell. Sie als Büroleiterin, er in der Start-up-Branche. Inoffiziell malochen beide oft mehr.
Die Eltern kämpfen um möglichst viel Zeit, die sie mit ihren zwei Kindern verbringen können. „Wenn wir die Arbeit, die Tanja erledigt, selbst machen würden, ginge diese Zeit von den Kindern ab“, sagt Vater Johannes. Tanjas Arbeit ist wichtig für die Familie, deswegen gibt das Paar im Monat für die Haushaltshilfe 240 bis 300 Euro aus. Viel Geld. Obwohl Johannes und Anna gut verdienen. Zwar könnte die Familie auch mit Annas Gehalt allein auskommen, “aber dann würde es knapp werden”, sagt Johannes. Keine Urlaube mehr, keine Mitgliedschaft im Sportverein für beide Kinder. Gerade erst hat das Paar eine Wohnung gekauft, die abbezahlt werden muss.
„Unsere Logik ist: Wir geben einen Teil des Mehrverdienstes für unsere Kinder ab“, sagt Johannes. „Außerdem schaffen wir so einen Arbeitsplatz.“ Johannes ist das Thema Gleichberechtigung wichtig, genauso seiner Frau. Beide verstehen sich als liberal und egalitär; als moderne Familie der Mittelschicht. Sie sehen Tanja nicht als ein Opfer globalisierter Verhältnisse – sondern als starke Frau, die es geschafft hat, sich in Berlin als Kleinunternehmerin zu behaupten. „‘Fulfillment of your own potential’, also das eigene Potential bestmöglich zu nutzen, hat ja nichts damit zu tun, dass man unbedingt studieren muss“, sagt Anna. Sie empfindet Tanja als sehr selbstbestimmt.
„Die arbeitenden Migrantinnen sehen sich keinesfalls als Opfer, das sind alles starke Frauen“, sagt Helma Lutz. „Aber die deutsche Gesellschaft beutet sie aus. Weil die Frauen nicht nach tariflichen Grundlagen bezahlt werden, weil sie ihre Familie zurücklassen und meist ihr Leben lang in diesem Status verbleiben.“ Speziell spricht Lutz hier vom privaten Pflegesektor, der in Deutschland weiter wächst. Lutz’ Schätzungen gehen davon aus, dass allein in diesem Feld etwa 300.000 Arbeitsmigrantinnen aus Osteuropa tätig sind, die meisten von ihnen schwarz. Andere Quellen wie die Gewerkschaft Verdi sprechen von 50.000 bis 300.000 Personen.
Konkrete Zahlen gibt es nicht. Fest steht nur: Der Bedarf an billiger Pflege wird weiter steigen. Weil in Deutschland immer mehr alte Menschen leben, die versorgt werden müssen. Die meisten wünschen sich eine personalisierte Pflege zu Hause. Aber die wenigstens können eine reguläre deutsche Kraft bezahlen.
Wer unterstützt die Mütter? Und wer hilft den illegal arbeitenden Migrantinnen?
Viele Familien hingegen sind auf eine zusätzliche Hilfe angewiesen, um den Spagat zwischen Familie und Job zu schaffen, ohne sich dabei zu sehr zu verrenken. Dabei ist das Problem hausgemacht: Der deutsche Staat hat es – anders als beispielsweise Frankreich oder Schweden – jahrzehntelang verschlafen, in eine moderne Familienpolitik zu investieren, die Paare mit Kindern unterstützt, mehr Flexibilität ermöglicht und speziell die Mütter entlastet. Das Müttergenesungswerk formulierte 2014 in einer Pressemitteilung: „Die Belastungen von Müttern sind gesellschaftlich bedingt und kein individuelles Versagen.“
Denn die Mütter verbringen, das zeigt der Datenreport 2016, etwa doppelt so viel Zeit mit den Kindern als die Väter. Obwohl viele Männer sich mehr Zeit mit ihren Kindern wünschen, vor allem, wenn diese noch klein sind. Zwei Drittel der weiblichen Arbeit machen außerdem die unbezahlten Tätigkeiten zu Hause aus; der Haushalt, die Betreuung der Kinder, die Pflege von Familienangehörigen – also die Care-Arbeit. Dafür leisten die Männer mehr Erwerbsarbeit.
Lernen könnte man von den europäischen Nachbarländern. In Frankreich beispielsweise gibt es längst das Familiensplitting, eine Steuervergünstigung, die besonders kinderreiche Paare entlastet. Denn das Einkommen wird beim Familiensplitting im Gegensatz zum in Deutschland vorhandenen Ehegattensplitting nicht auf die beiden Eheleute aufgeteilt, sondern auf die Anzahl der Familienmitglieder. In Schweden hingegen gibt es längst Zuschüsse vom Staat, die eine egalitäre Aufteilung der Familienarbeit fördern.
„Wir brauchen eine Bewegung, vielleicht sogar eine Care-Revolution“
Immerhin: In Deutschland sprechen sich SPD und CDU mittlerweile für ein Familiensplitting aus. Seit 2015 gibt es in Deutschland das Elterngeld Plus und den Partnerschaftsbonus. Beides soll es Vätern ermöglichen, in den ersten Monaten mehr Zeit zu Hause beim Kind zu verbringen. Für den Anschluss will die SPD ein Modell der Familienarbeitszeit: Mann und Frau sollen jeweils nur noch 32 bis 36 Stunden pro Woche im Job arbeiten. Um den finanziellen Einschnitt durch den Wegfall der 40-Stunden-Woche abzufedern, soll zudem für maximal zwei Jahre ein Familiengeld von 300 Euro gezahlt werden, sofern der Nachwuchs nicht älter als acht Jahre alt ist.
Wie all das mit der Care-Kette, Reinigungskraft Tanja und den Schuberts zusammenhängt? „Wenn wir weniger arbeiten müssten, weil wir mehr Geld hätten als Familie, hätten wir auch mehr Zeit für unsere Hausarbeit“, sagt Johannes. „Die müssten wir dann nicht von der Zeit mit den Kindern abknapsen.“ Eine bessere Familienpolitik würde also den Familien helfen.
Wer aber hilft den osteuropäischen Arbeiterinnen? Zum Beispiel FairCare, eine Beratungsstelle für Arbeitsmigrantinnen aus Polen, die zur Diakonie Württemberg gehört. FairCare will Anlaufstelle für Frauen sein, die in Deutschland in der privaten Pflege arbeiten. Hausbesuche, Beratungsgespräche, Hilfe mit der Steuer und schlussendlich ein legales Arbeitsverhältnis: Dafür setzt FairCare sich ein.
Das ist ein Anfang – reicht aber längst noch nicht aus. Wissenschaftlerin Lutz formuliert es so: „Wir brauchen wirklich eine Bewegung, vielleicht sogar eine Care-Revolution. Und die muss unter dem Motto stehen: Wir alle brauchen Unterstützung.“
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Redaktion: Dominik Wurnig; Produktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel; Audioversion: Iris Hochberger.