Da steht diese kleine 90-jährige Frau nun vor mir, die drauf und dran ist, ein paar grundlegende Vorstellungen über Ehe und Partnerschaft in ihrem Land über den Haufen zu werfen, und wenn sie morgen mit einem Schlag berühmt wäre, mich würde es nicht wundern. Das richtige Äußere hat sie schon jetzt: elegant wie ein Filmstar; Sonnenbrille, cremeweiße Hose, knallbunter Poncho. Jemand, der nicht weiß, was er tut, sieht anders aus.
„Sie sind Edith Fishbein?“, frage ich vorsichtig. „Ja, natürlich”, gibt sie zurück und streckt mir eine Hand entgegen, die so zart und faltig ist, dass ich Angst habe, beim Händeschütteln etwas kaputt zu machen. Muss ich aber nicht. Sie drückt kräftig zu. „Na, kommen Sie mit”, sagt sie und tippelt vor mir zum Aufzug.
Als ich von Edith und ihrer Schwester Gina las, beide noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Leipzig geboren, die eine 1927, die andere fünf Jahre später, war mir sofort klar: Ich muss die beiden treffen. Unbedingt! Denn ihr Fall ist eine Herausforderung für eine Institution, die in Israel wahrscheinlich noch ernster genommen wird als in irgendeinem anderen westlichen Land: die Ehe. Die beiden Schwestern wollen vom Gesetz als Paar behandelt werden. Weil sie einander mehr lieben und sich besser umeinander kümmern als manche „echten“ Eheleute.
Alles fing damit an, dass Edith vor Jahren einen Radiobeitrag hörte, in dem es um das Thema „eingetragene Partnerschaft“ ging, schon damals ein heiß diskutiertes Thema. Es ist einer der typischen Widersprüche Israels, dieser gleichzeitig supersäkularen und religiösen Gesellschaft, dass das Land keine zivile Ehe erlaubt. Nur Rabbiner können Ehen schließen – und auch wieder aufheben. Für eine Scheidung nach religiösem Recht muss der Ehemann einverstanden sein.
Viele junge Israelis heiraten deshalb im Ausland und lassen die Ehe zu Hause nachträglich anerkennen. Es gibt aber die Möglichkeit, von der nationalen Versicherungsanstalt als „eingetragene Lebenspartner“ behandelt zu werden, die dann ähnliche Rechte haben wie Ehepaare. Einen allgemeinen Anspruch wie in Deutschland gibt es nicht, jeder Fall wird einzeln geprüft. Was Edith beim Radiohören aufhorchen ließ, war, dass eingetragene Partner einander beerben und beim Tod eines Partners Hinterbliebenenrente bekommen können.
Sie brauchen die Rente – also müssen sie ein Paar werden
Edith dachte sofort an ihre Schwester Gina. Schon eine ganze Weile hatte sie sich gefragt, wer sich um sie kümmern würde, falls Edith als erste sterben würde. Es gab kein Vermögen, das sie ihr hinterlassen könnte. Aber vielleicht, dachte sie, konnte sie dafür sorgen, dass Gina trotzdem versorgt war – indem die Schwestern vor dem Gesetz zu eingetragenen Partnern würden. Edith fing an, Anträge zu schreiben.
„Da sind Sie ja“, sagt Gina auf Deutsch, als sie die Tür zur Wohnung der Fishbeins öffnet und mich sowie ihre Schwester hereinbittet in die Wohnung. Sie ist rundlicher und gemütlicher als Edith, aber sie mustert mich genauso aufmerksam. „Nach Ihrer Stimme am Telefon dachte ich, Sie wären um die 50 und dick“, sagt sie mit Schalk im Blick. Etwas mühsam humpelt sie dann zu einem sandfarbenen Sessel und lässt sich darin nieder.
Ich schaue mich um. Hinter der Wohnungstür ist Schluss mit dem Luxus, den die sonnendurchflutete Lobby des Altenheims mit ihren Marmortischen noch hatte vermuten lassen. Es gibt eine offene Küche, eine Sitzecke mit Fernseher und ein schmales Schlafzimmer, in dem zwei Betten stehen. Über Oberflächen und Möbel verteilen sich jede Menge Stofftiere, Puppen, echte und künstliche Pflanzen und Deckchen, als hätte jede Schwester nach ihrem Geschmack dekoriert. Es ist gemütlich, aber ziemlich eng für zwei Menschen.
„Streiten Sie sich manchmal?“, frage ich. Gina ist sofort auf Krawall gebürstet. „Edith“, ruft sie ihrer Schwester zu, die sich nur einen Meter weiter aufs Sofa gesetzt hat, aber etwas schwer hört. „Sie will wissen, ob wir uns streiten.“
„Das haben uns alle Journalisten gefragt“, sagt Edith und sieht aus, als könnte sie sich gerade noch davon abhalten, die Augen zu verdrehen. „Nein, tun wir nicht. Warum sollten wir uns streiten?“
Wie sich herausstellt, sind die beiden etwas dünnhäutig, weil sie sich schon einiges über ihre Beziehung haben anhören müssen. Nachdem in der Tageszeitung Haaretz ein Artikel über sie erschienen war, schrieben manche Kommentatoren, die gar nichts verstanden hatten, die Schwestern seien krank oder verrückt. Allein die Tatsache, dass die Schwestern nie geheiratet haben und kinderlos leben ist eine Provokation in einem Land mit konservativen Familienwerten. „Einer von den Journalisten wollte wissen, ob ich traurig bin, wenn ich morgens ohne Mann aufwache. Ich habe ihn gefragt: Sind Sie denn verheiratet? Da war er ruhig“, erzählt Edith und stößt empört den Atem aus.
Ich würde auch gerne wissen, was mit den Männern war. Gab es nie welche? Aber dazu schweigen die beiden. Konsequent. Das gehe niemanden etwas an, sagen die Schwestern.
Ein Paar in jeder Beziehung – Sex ausgenommen
Die Nationale Versicherungsanstalt hat ihnen wieder und wieder mitgeteilt, nur homosexuelle Paare könnten Anspruch auf eine gesetzliche Partnerschaft erheben. Einmal hat Gina einer Anwältin vorgeschlagen, sie könnten ja behaupten, ein lesbisches Paar zu sein, damit man sie als Paar anerkenne. Die Anwältin verstand den Witz nicht. „Das geht nicht, Sie sind ja miteinander verwandt“, sagte sie ernst.
Dass eine Partnerschaft sich über Sex definieren muss, finden die Schwestern beleidigend und absurd. Sex hat mit ihrer Beziehung natürlich überhaupt nichts zu tun, und genau das ist der Punkt: dass eine Partnerschaft und Liebe zwischen zwei Menschen eben viel mehr bedeutet als diese archaische Definition der Ehe, die diese als Rahmen für Fortpflanzung definiert, und die in der heutigen Zeit sowieso nicht mehr funktioniert. Zu Edith und Ginas Fall passt die Version einer Versorgungsgemeinschaft, die alle Menschen miteinander eingehen können. Ein sehr liberaler Gedanke, für die beiden Schwestern aber völlig einleuchtend. Und eben Alltag.
Ihre Beziehung ist so eng wie die von Zwillingen. Edith erzählt gerne, wie Gina als Kind in Deutschland einmal im Urlaub in Halle an der Saale war, damals etwa anderthalb Stunden Zugfahrt entfernt von Leipzig. Als sie weg war, wurde Edith krank, doch niemand wusste, was ihr fehlte. „Holt die Gina zurück“, soll ein kluger Arzt den Eltern geraten haben. Kaum war sie zurück, wurde Edith gesund.
Seitdem hat nichts mehr die Schwestern getrennt. Ihr ganzes Leben haben sie zusammengewohnt, erst mit den Eltern, dann, als diese gestorben waren, allein. Sie teilen sich ein Bankkonto und eine Wohnung und haben vor, selbst nach dem Tod zusammenzubleiben: Zwei benachbarte Gräber auf einem Kibbuz-Friedhof haben sie schon gekauft. „Wir sind ein Paar in jeder Hinsicht“, sagt Gina. „In jeder, außer beim Thema Sex. Aber das verstehen die Leute nicht.“
Vor drei Jahren kam ein höflicher, persönlicher Brief vom Direktor der Versicherungsanstalt an die Schwestern, der als endgültige Absage gedacht war. „Die aktuelle Gesetzeslage macht es unmöglich, Ihnen eine Hinterbliebenenrente zuzusprechen“, schrieb er. Wenn der Mann dachte, dass die Schwestern nach diesem Brief aufgeben würden, hatte er sich gründlich verrechnet.
Edith wurde nun erst recht sauer. Sie wandte sich an die kostenlose Rechtsberatung der Bar Ilan Universität. Dort kümmert man sich normalerweise nur um Bedürftige, ihren Fall aber fand man so interessant, dass die Anwälte ihn annahmen. 2015 reichten sie beim zuständigen Arbeitsgericht eine Petition ein, um die Nationale Versicherungsanstalt zu zwingen, sexuelle Beziehungen nicht mehr als Grundlage einer Partnerschaft zu definieren.
Mittlerweile gibt es ein Gerichtsurteil, das diese Forderung bestätigt. Jetzt gibt es zwei Bedingungen dafür, vor dem Gesetz als Partner anerkannt zu werden: Bei der ersten geht es um Geld, die Partner müssen beweisen, dass sie finanziell verbunden sind, also zum Beispiel gemeinsame Konten haben. Bei der zweiten geht es um Gefühl: Sie müssen beweisen, dass sie emotional verbunden sind, zum Beispiel durch eine gemeinsame Wohnung, gemeinsame Reisen und Hobbys. Beides trifft auf die Fishbeins zu.
Um das zu beweisen, sind die Schwestern mit ihren Anwälten vor das zuständige Arbeitsgericht gezogen. Damit erregten sie Aufsehen. Es war ein echter Fall von David gegen Goliath – sehr passend für ein Land wie Israel, und ein Fest für die Presse. „Das war was“, sagt Gina mit zufriedenem Lächeln. „Auf der Straße sind sie uns entgegenkommen und haben uns fotografiert, wie im Kino.“ Das Fernsehen war da und filmte, die Zeitungen berichteten über das seltsame Paar. Die Richterin ließ sich davon nicht beeindrucken und lehnte den Antrag ab.
Trotzdem erschien in Haaretz anschließend ein begeisterter Artikel, in dem der Reporter die beiden alten Damen mit „winzigen Ameisen“ verglich, die eine Last schleppten, die viel größer sei als sie. Dennoch, schwärmte der Reporter, „ich zweifle nicht daran, dass die Fishbein-Schwestern diese riesige Last schon wieder auf ihre zerbrechlichen Schultern geladen und sich auf den Weg zum Nationalen Arbeitsgericht in Jerusalem gemacht haben, und von dort, wenn nötig, werden sie weiterziehen bis zum obersten Gericht“.
Das mit den Ameisen finden die beiden Schwestern lustig. Wer mehr als fünf Minuten mit ihnen verbringt, merkt, dass sie nicht unter ihrer Last leiden. Sie spornt sie an, besonders Edith.
Die beiden Schwestern sind Hitler knapp entkommen
Immerhin ist es nicht das erste Mal, dass die Fishbeins es mit einem übermächtigen Gegner zu tun haben. Als Hitler an die Macht kam, war Edith sechs Jahre alt, Gina elf – zu jung, um zu verstehen, was passierte. Aber alt genug, um zu merken, dass die Stimmung im Land sich gegen sie und ihre Familie drehte. Kurz bevor sie auswanderten, erzählt Gina jetzt, stand sie mit einer Freundin vor einem Neubau, der von einem Drahtgitter umgeben war. „Plötzlich kam ein großer, starker Mann und hat mich reingeschubst in das Gitter“, sagt sie. „Meine Hand war durchbohrt … Meine Eltern konnten mit mir nicht zum Arzt, weil wir schon nicht mehr dazugehört haben zu den anderen Leuten. Also hat mein Vater die Wunde zu Hause genäht. Es ist alles verheilt, bis auf das hier.“
Sie zeigt mir ihren Handteller. Zwischen den Falten leuchtet eine lange Narbe, wie mit einem weißen Stift gezeichnet. „Das ist mir geblieben von Deutschland“, sagt sie. Sie stellt es ganz neutral fest, als würde sie übers Wetter reden. Aber sie sagt es auf Deutsch, während neben ihr die Bunte liegt und das 3Sat-Fernsehprogramm.
Untereinander reden die Schwestern bis heute nur in der Sprache ihrer Heimat. 1995 fuhren sie das erste Mal nach Leipzig. Sie wohnten in einem Hotel gegenüber dem Bahnhof. „Komisch“, sagte Edith, „ich bin hier so zu Hause.“
Die Schwestern gingen in Auerbachs Keller essen und ließen sich vom Wirt zeigen, an welchem Tisch Goethe den „Faust“ geschrieben hat. Dann bestellten sie Leipziger Allerlei, weil das nach Zuhause schmeckte. Als der Wirt die Teller brachte, sagte Edith: „Fünfzig Jahre waren wir nicht mehr hier. Kriegen wir jetzt fünfzig Jahre bei Ihnen umsonst zu essen?“
Eigentlich waren es sogar fast sechzig Jahre. Vor den Nazis hatte 1936 der Vater die Familie gerettet. Als von der Schule, die die Mädchen besuchten, ein Brief nach Hause kam mit der Ankündigung, dass jüdische Schülerinnen ab sofort nicht mehr geduldet würden, sagte ihr Vater: „Wenn die Kinder nicht mehr in die Schule dürfen, ist es das Ende.“ Er entschied, dass die Familie nach Palästina auswandern musste. „Mein Onkel hat gesagt, ‚Schämst du dich nicht, deine Familie mit in ein Land zu nehmen, wo Wüste ist, was wollt ihr da machen?‘ Das waren die ersten, die man erschossen hat“, sagt Gina. 1936 kam die Familie mit dem Schiff in Haifa an.
Hätte der Vater damals gezögert, könnte ich seine Töchter jetzt nicht besuchen.
Von ihm hat Edith den scharfen Verstand geerbt und dazu ein Feuer und einen Kampfgeist, der für eine kleine Armee reichen würde. Sie hat kein Problem damit, gerichtlich in die nächste Instanz zu gehen, sie zieht das bis zum Ende durch. Auch wenn mittlerweile klar ist, dass die Hinterbliebenenrente sich auf monatlich nur etwa 1.600 Schekel belaufen würde – umgerechnet nicht mehr als rund 410 Euro.
Aber erstens sind die Schwestern trotz der Luxus-Umgebung, in der sie leben, keineswegs reich. Sie sagen, dass sie sich die Wohnung im „Palace“ nur geradeso leisten können, weil sie ihr Erspartes hineingesteckt haben. Und zweitens geht es Edith ums Prinzip. Sie kommt gar nicht auf die Idee, an diesem Punkt einzuknicken. „Ich werde jetzt bestimmt nicht aufhören, wo so viel Zeit damit verschwendet wurde, über Sex zu diskutieren“, sagte Edith den Journalisten von Haaretz.
Gina sagt, dass sie wegen Edith weitermacht, dass sie alleine nicht dieses Feuer hätte. Es wäre leicht, die ältere Schwester zu unterschätzen, wie sie da in ihrem beigen Sessel sitzt und sanft schaut. Dann aber erzählt sie eine Anekdote, die verrät, dass nicht nur Edith den Kampfgeist des Vaters geerbt hat.
Als junge Frau beim Militär habe man Gina, wie damals üblich, einen hebräischen Namen geben wollen. Ihr voller Vorname Regina würde ins Hebräische übersetzt „Malka“ (Königin) heißen. „Ich habe gesagt, wenn mich hier einer Malka nennt, verlasse ich morgen das Land“, sagt Gina ruhig. Eine absurde Drohung – wo wollte sie hingehen? – aber das war ihr egal. Das Militär knickte ein. Gina heißt bis heute Gina.
„Kommen Sie uns wieder besuchen“, sagt sie, als ich mich verabschiede. Wie die Schwestern vor mir stehen, anderthalb Köpfe kleiner als ich, fällt mir wieder auf, wie klein und zerbrechlich sie sind. Wenn sie reden, kommt dieser Eindruck fast völlig abhanden. Nein, denke ich, das sind keine Ameisen, das sind Löwinnen. Sie mögen alt und schwach sein, aber wehe dem, der meint, sie könnten sich nicht mehr wehren.
Fotos: Frank Suffert; Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich.