Ein Kreißsaal irgendwo in Deutschland. Zwei Geburten, Schmerz, Schweiß und nach Stunden das große Glück. Ein Junge und ein Mädchen kommen gesund auf die Welt. Doch er wird früher sterben müssen als sie. So sagt es zumindest die Statistik.
Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt im Jahr 2015 (neueste verfügbare Zahlen) liegt in Deutschland bei 82,99 Jahren für Frauen und 78,13 Jahre für Männer. Männer sind also dazu verdammt, fast fünf Jahre früher zu sterben. Nicht nur in Deutschland, sondern so gut wie in jedem Land der Welt haben Männer diesen Lebenserwartungsnachteil.
Unsere Lebenszeit ist das höchste Gut. Nichts kann sie ersetzen, nichts kann uns mehr Zeit auf der Welt kaufen. Der Traum vom ewigen Leben ist uralt, und auch die Neureichen des Silicon Valleys investieren Milliarden in die Hoffnung, ihr Leben zu verlängern.
Doch dass der einen Hälfte der Menschheit so viel weniger Zeit bleibt, erregt kaum Aufsehen. Bei Anne Will wird nicht darüber diskutiert, was gegen das frühe Massensterben der Männer unternommen werden muss. Keine Prominenter engagiert sich gegen diese Ungleichheit, keine Aufklärungs- oder Werbekampagne kämpft dafür, dass Männer auch fünf Jahre länger leben sollen.
Der frühere Tod der Männer wird sprachlos hingenommen, dabei müsste er gar nicht sein. Die Gründe für die viel kürzere Lebenserwartung sind nur zu einem kleinen Teil von der Biologie bestimmt. Viel wichtiger ist die unterschiedliche Lebensweise von Männern und Frauen. Die Gesellschaft und wir Männer hätten es also in der Hand, daran etwas zu ändern.
Weltweit sterben Männer früher
Auf der ganzen Welt leben Männer kürzer als Frauen. Der Unterschied reicht von fast 12 Jahren in Russland bis zu rund einem Monat im westafrikanischen Land Mali. Russische Männer haben eine Lebenserwartung von nicht einmal 65 Jahren und würden im Schnitt das deutsche Renteneintrittsalter nicht erreichen. Die Gründe für ihr frühes Ableben sind vor allem externe Ursachen, die im Verhalten der Männer begründet sind: Rauchen, Alkohol, schlechte Ernährung, Unfälle, Mord oder Selbstmord. In einer entwickelten Gesellschaft wie in Russland bestimmt in erster Linie der Lebensstil die Lebenserwartung.
Am anderen Ende der Skala stehen arme Länder in Afrika wie Mali oder Burkina Faso, wo es kaum einen Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern gibt. In Mali liegt die Lebenserwartung von Männer bei 58,2 Jahren und die von Frauen bei 58,3 Jahren. Denn die mangelnde Gesundheitsversorgung und die schlechten hygienischen Zustände sind dort viel stärker verantwortlich für Todesursachen als der eigene Lebensstil. Die Differenz der Verhaltensweisen von Männern und Frauen komme gar nicht zum Tragen, weil es ganz andere wesentliche Faktoren gebe wie Infektionskrankheiten, sagt Marc Luy, Bevölkerungswissenschaftler am Vienna Institute of Demography.
Deutschland liegt bei Gender Life Expectancy Gap - so der Fachausdruck - im Mittelfeld, ähnlich wie die Nachbarländer oder die USA. Die Schere in der Lebenserwartung ist ein relativ junges Phänomen, wie eine Studie kalifornischer Wissenschaftler zeigt, die historische Geburts- und Sterbedaten in 13 Ländern zwischen 1800 und 1935 ausgewertet haben. Erst mit den Geburtsjahrgängen um 1880, als auch gleichzeitig die Lebenserwartung generell rasant anstieg, bildete sich der Geschlechtsunterschied heraus und nahm bis in die 1970er Jahre zu. Exemplarisch zeigt sich das auch an der Entwicklung der Lebenserwartung in Schweden, wo es bereits seit 1751 genaue Aufzeichnungen gibt.
Während die Schere in der Lebenserwartung beim Schritt vom Entwicklungs- zum Schwellenland auseinandergeht, geht die Entwicklung beim Aufstieg vom Schwellen- zum Industrieland in die andere Richtung: Die Schere geht wieder zusammen.
Wie viel macht die Biologie aus?
Als mögliche Ursachen für das frühere Ableben des Mannes gibt es vereinfacht gesagt zwei Theorien: Die biologische Erklärung besagt, dass der männliche Organismus mit seinen Hormonen und Genen schlechter funktioniert als der weibliche und deshalb früher stirbt. Die andere Argumentation begründete die männliche Übersterblichkeit in verhaltens- und umweltbedingten Faktoren, wie Lebensstil oder Risiken, die mit bestimmten Berufen verbunden sind.
Um diese Frage isoliert untersuchen zu können, hat Marc Luy angefangen, die Sterbedaten von Mönchen und Nonnen mit der Gesamtbevölkerung zu vergleichen. Die Idee hinter der Klosterstudie: Frauen und Männer in Klöstern führen ein nahezu identisches, regelmäßiges Leben und geschlechtertypisches Verhalten spielt dort kaum eine Rolle. Während in der Allgemeinbevölkerung lebensverkürzende Faktoren wie Alkohol, risikoreiches Leben, schlechte Ernährung, soziale Isolation und Stress durch Beruf oder Care-Arbeit unterschiedlich verteilt sind, gibt es in der Klosterbevölkerung kaum Unterschiede. Wären biologische Ursachen verantwortlich für die männliche Übersterblichkeit, müsste die Geschlechterdifferenz bei Ordenspersonen und in der Bevölkerung gleichermaßen vorhanden sein.
Genau das zeigte die Studie jedoch nicht. Die Mönche lebten etwa vier Jahre länger als Männer in der Gesamtbevölkerung, während die Nonnen eine ähnliche Lebenserwartung wie Durchschnittsfrauen hatten. „Mit der Studie haben wir erstmal zeigen können, woran es nicht liegt: an der Biologie“, sagt Luy. Die Lebenserwartung von Mönchen ist nur um ein Jahr kürzer als die der Nonnen.
Dass Mönche im Gegensatz zu Klosterschwestern rauchen dürfen, ist dafür eine mögliche Erklärung. Der Rest erklärt sich über Biologie: Einerseits bildet das zweite X-Chromosom der Frauen einen gewissen Vorteil bei genetischen Fehlbildungen. Andererseits zeigen Studien, dass das weibliche Hormon Östrogen hilft, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verhindern. Biologische Ursachen erklären also laut Luy circa ein Plus von einem Jahr in der weiblichen Lebenserwartung - der Rest ergibt sich aus dem Verhalten der Männer bzw. wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht.
Wieso Männer früher sterben müssen
Im Wesentlichen gibt es fünf Gründe, wieso deutsche Männer so viel früher sterben als Frauen:
- Rauchen: Das Rauchverhalten macht den größten Faktor aus. Männer haben historisch gesehen früher angefangen zu rauchen, tun dies heute noch zu einem größeren Anteil und sind stärkere Raucher. Laut Männergesundheitsportal rauchen 33 Prozent der Männer und 27 Prozent der Frauen in Deutschland. Circa 20 Jahre nach dem Aufkommen des Rauchens macht sich das gesundheitsgefährdende Verhalten in den Sterbestatistiken bemerkbar. Dass Frauen in den 1960er Jahren anfingen zu rauchen, zeigte sich dann auch ab den 1980er Jahren in der Lebenserwartungsdifferenz: Die Schere zwischen den Geschlechtern geht seit damals wieder zusammen.
- Unfälle: Männer leben gefährlicher und verletzen sich häufiger und kommen dabei auch zu Tode. Gerade in jungen Jahr zwischen 15 und 24 machen Unfälle – allen voran im Straßenverkehr – die Haupttodesursache bei Männern aus. Von den 3.377 Getöteten im Straßenverkehr im Jahr 2014 waren laut Statistischem Bundesamt 74,3 Prozent Männer und Jungen und 25,7 Prozent Frauen und Mädchen. In jungen Jahren ist die Mortalität beim männlichen Geschlecht viel höher: In der Altersgruppe von 15 bis 35 Jahren sterben mehr als doppelt so viele Männer als Frauen. Auch arbeiten in gefährlicheren Berufen wie Bauarbeiter, Feuerwehr oder Taxifahrer überdurchschnittlich viele Männer.
- Alkohol: Männer trinken mehr Alkohol und sind öfters Alkoholiker. Laut Bericht zur Gesundheitlichen Lage der Männer kommt auf vier alkoholabhängige Männer eine alkoholabhängige Frau.
- Ernährung: Männer ernähren sich ungesünder und sind häufiger übergewichtig. Sie essen größere Portionen, neigen zu fettigem, salzhaltigen und schweren Essen. Knapp mehr als zwei Drittel der Männer haben ein zu hohes Gewicht (Body-Mass-Index höher als 25) im Vergleich zu 53 Prozent der Frauen. Bei den 60- bis 79-jährigen Männer beträgt der Anteil sogar über 80 Prozent.
- Vorsorge: Männer kümmern sich weniger um ihre Gesundheit und gehen seltener zum Arzt. Sie machen seltener Vorsorgeuntersuchungen und besuchen in weit geringerem Anteil die Gesundheitskurse von Krankenkassen und Volkshochschulen.
Die Probleme sind bekannt, doch die Gesundheitspolitik reagiert nur sehr verhalten auf diese Public-Health-Krise. Das Bundesministerium für Gesundheit verweist auf unterschiedliche Berichte, Broschüren oder auch das Männergesundheitsportal, doch reicht das? Während Mädchen und junge Frauen auch ohne Beschwerden regelmäßig zum Gynäkologen gehen, wird bei Männern erst ab dem Alter von 45 Jahren die regelmäßige Prostatakrebs-Früherkennungsuntersuchung empfohlen.
Doch nicht alle Männer sind in gleichem Ausmaß von der Lebenserwartungsdifferenz betroffen. Die Differenz zwischen den Geschlechtern ist in wirtschaftlich niedrigen Klassen und bei bildungsarmen Schichten besonders groß. Männer aus Haushalten mit geringem Einkommen (Haushaltsnettoeinkommen unter 895 Euro) haben im Alter von 40 Jahren (die errechnete Lebenserwartung hängt stets vom Lebensalter ab) eine Lebenserwartung von 71,1 Jahren – Frauen in der gleichen Situation können erwarten, 79,2 Jahre alt zu werden. Männer mit niedrigem Bildungsgrad haben im Alter von 40 Jahren eine Lebenserwartung von 72 Jahren – bei niedrig gebildeten Frauen liegt sie bei 80,7 Jahre. Bei armen und ungebildeten Klassen macht die Spreizung rund acht Jahre aus, während sie bei der Gesamtbevölkerung im Alter von 40 Jahren 6,6 Jahre beträgt.
Die Herausforderung für Gesundheitspolitiker liegt also vor allem darin, zielgruppenadäquate Aufklärungskampagnen zu machen. Doch trotz aller gesundheitspolitischen Bemühungen ist die Schere zwischen den sozioökonomischen Gruppen bisher immer weiter aufgegangen. Eine Erklärung dafür liefert laut Marc Luy die Fundamental Cause Theory. Diese sagt, dass besser gestellte Schichten auch immer zuerst neue Entwicklungen wahrnehmen und Angebote annehmen werden, da sie sie qua ihres Status auch eher darüber Bescheid wissen.
Dennoch geht der Bevölkerungswissenschaftler Luy davon aus, dass die Lücke zwischen den Geschlechtern in den nächsten Jahrzehnten kleiner werden wird. Mit Hilfe des Smoking Epidemic Modells, das zeigt, dass sich das Rauchen wie eine Epidemie ausbreitet und auch wieder verschwindet, haben Angela Wiedemann und Luy modelliert, wie sich die Lebenserwartung von Männern und Frauen in Deutschland entwickeln wird und welchen Einfluss das Rauch darauf hat.
Allein, weil sich das Rauchverhalten von Männern und Frauen immer mehr angleicht, wird auch die Differenz in der Lebenserwartung immer kleiner werden (Wieso Frauen immer häufiger an Lungenkrebs erkranken, hat Theresa Bäuerlein hier aufgeschrieben). Wiedemann und Luy gehen davon aus, dass bis 2050 die Männer zwei Jahre Lebenserwartung aufgeholt haben werden. Ob wir Männer in Zukunft länger leben werden und die Lücke auf das eine biologische Jahr drücken können, wird auch stark von uns selbst abhängen.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Fotoredaktion: Martin Gommel; Produktion: Vera Fröhlich