Die toten Mütter meiner Tochter

© Vianney Fabre

Geschlecht und Gerechtigkeit

Die toten Mütter meiner Tochter

War es naiv von mir zu denken, ein junger, aufgeklärter und politisch links eingestellter Vater würde eine Frau mit Baby beschäftigen, nämlich mich? Und wenn er es nicht tut, wer dann?

Profilbild von Audio-Reportage von Jenny Marrenbach

Dieser Beitrag ist etwas Besonderes: Journalismus zum Hören, produziert und vor wenigen Tagen zuerst veröffentlicht von unseren Partnern Deutschlandradio Kultur und dem kulturradio vom rbb. Gemeinsam wollen Krautreporter und die beiden Sender diese intensive, persönliche Geschichte den KR-Mitgliedern vorstellen. Das Genre Radiofeature steht für genau die Sorte Journalismus, den unsere Mitglieder besonders schätzen – deshalb könnt Ihr jetzt auch ein ausgewähltes Exemplar bei uns finden. Eine Empfehlung: Nimm Dir eine Dreiviertelstunde Zeit – zum Kochen, zum Sport, abends im Bett –, setze einen Kopfhörer auf und tauche ein in diese Geschichte. Ihr findet das Feature auch in unserem Podcast-Feed.


https://www.youtube.com/watch?v=mwFlJ46bsdE&feature=youtu.be


Ich war fest überzeugt, Karriere mit Kind schaffen zu können

Bis zu der Mail von Peter war eigentlich alles gut.

Ich und meine frischgeborene Tochter waren zufrieden in dem typischen Prenzlauer-Berg-Alltag in Berlin: Getreide-Sojamilch-Kaffee, ein nachhaltiges Hybridsystem für Stoffwindeln, Kurse für Babymassage und musikalische Früherziehung – das Übliche.

Gleichzeitig saß ich als Freiberuflerin schon wenige Wochen nach der Geburt wieder am Rechner. Fest davon überzeugt, Karriere mit Kind schaffen zu können. Als Peter anrief und mir einen Auftrag anbot, für den ich spontan zehn Tage in die USA sollte, verschob ich über Nacht alle Termine und entwickelte gemeinsam mit meinem Freund einen ausgeklügelten Still- und Betreuungsplan für unsere Tochter.

Peter sagt ab, weil er jemand braucht, der flexibel ist

Dann kam die Absage von Peter. Er brauche jemanden, der „flexibler“ sei. Tatsächlich meinte er: jemanden, der gerade kein Kind bekommen hat.

Ich verbrachte die nächsten Tage irgendwo zwischen Wut und Enttäuschung. Es war das erste Mal, dass ich in meinem Job wegen meines Geschlechtes zurückstecken musste.

In dieser Zeit taucht ein Video aus einer Talkshow mit dem Kabarettisten Florian Schröder auf. „Sie muss Karriere machen und zwar selbstbewusst, aber nicht als Emanze, aber emanzipiert muss sie sein, feministisch organisiert und überhaupt gut drauf“, erklärt Schröder darin die Erwartungen an junge Mütter heute. „Sie darf keine Rabenmutter sein, wenn sie zu Hause ist, muss sie trotzdem Karriere machen (…) und den Stress, den sie hat, den darf man niemals spüren!“ Das Video wird von tausenden Frauen geteilt und kommentiert.

Sie fühlen sich angesprochen, auch wenn in der Talkshow alle über die Unmöglichkeit solcher Ansprüche lachen. Ich verstehe die Frauen. Gerade hier in Berlin, der Hauptstadt der veganen Roggentoasts, des Yogilates und der Early-Excellence-Kitas, schlagen mir die Ansprüche über dem Kopf zusammen.

In den folgenden Tagen musste ich viel an Mengede denken, einen Arbeitervorort aus Dortmund. Wer dort wohnt, hat früher in der Zeche gearbeitet. Hat beide Füße auf dem Boden. Es ist der Ort, den ich mit meiner Mutter und meiner Großmutter verbinde – zwei starke Frauen, deren Rat mir in diesen Tagen besonders gefehlt hat.

Meine Mutter und meine Großmutter sind ihre eigenen Wege gegangen

Über zehn Jahre ist es her, dass meine Mutter gestorben ist. Ihr Grab liegt unweit von dem meiner Großmutter. Beide haben zu ihren Zeiten die von Männern bestimmten Gesellschaftsstrukturen immer wieder infrage gestellt und sind ihren eigenen Weg gegangen.

Ich würde sie gern fragen, wie sie das geschafft haben.

Aber der Einzige, den ich noch fragen kann, ist Oskar. Er ist der alte Nachbar der beiden und wohnt immer noch in Mengede.

Kurzentschlossen fahre ich ihn besuchen.

Ich rede mit Oskar über die Toten und rauche, heule, trinke

Zwei Wochen lang reden wir über die toten Mütter in meiner Familie. Ich nehme alles mit dem Mikro auf. In dieser Zeit rauche, heule und trinke ich viel zu viel. Zwischendurch bringt Oskar mir bei, Reibekuchen zu backen – und ich esse mein erstes Mettbrötchen seit 15 Jahren. Gemeinsam mit Oskar.

Zurück in Berlin läuft das Mikro weiter, während mich das Chaos des Alltags einholt. Ich vergrabe mich in die Geschichten von anderen Frauen, in den Büchern von Elisabeth Badinter und Eva Illouz, in Berichte und Statistiken. Meine Geschichte und die meiner Mutter und Großmutter verschmelzen zu einer Geschichte von vielen Müttern in Deutschland.

Nebenbei tue ich das, was alle berufstätigen Mütter tun: Ich wechsle Windeln, schaue meiner Tochter bei ihren ersten Schritten zu und denke bei der Gute-Nacht-Geschichte an die unbeantworteten Mails und das dreckige Badezimmer. Ich bin besessen von dem permanenten Schuldgefühl, keine meiner Aufgaben richtig erfüllen zu können, egal ob im Büro, im Haushalt oder wenn es um meine Tochter geht.

Dann stirbt Oskar. Und damit die letzte lebende Verbindung zu den toten Frauen aus meiner Familie.

Ich höre noch einmal unser letztes Gespräch und den Abschied auf den Kopfhörern. Ordne Töne, Gedanken, Texte.

Nach anderthalb Jahren ist mein Radiofeature fertig. Es erzählt von Müttern im Prenzlauer Berg von heute – und von zwei starken Frauen im Arbeitervorort Mengede in den 70er Jahren. 40 Minuten über das Mutterbild und das Muttersein, heute und damals.


Redaktion Feature – Regie: die Autorin; Ton: Nikolaus Löwe, Martin Scholz und Benjamin Ihnow; Produktion: RBB/Deutschlandradio Kultur 2016. Redaktion KR – Aufmacher-Foto: Vianney Fabre; Fotoredaktion: Martin Gommel; Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich.