Gebären ist heute ein Lifestyle-Event
Geschlecht und Gerechtigkeit

Interview: Gebären ist heute ein Lifestyle-Event

Kinderkriegen scheint heute komplizierter denn je. Alle jungen Mütter in meinem Freundeskreis machen sich Sorgen, ob sie sich richtig verhalten. Deshalb habe ich mit Lotte Rose gesprochen, die zu Geburtskultur und Kinderziehung forscht.

Profilbild von Interview von Esther Göbel

Frau Rose, Sie attestieren vielen Frauen eine übersteigerte Erwartung an die Geburt: Diese wird nicht mehr als notwendiger Weg zum Kind hingenommen, sondern soll ganz toll und ganz besonders und ganz selbstbestimmt sein. Was ist so falsch daran?

An der heutigen Geburtskultur hängt eine riesige Marktmaschinerie. Die Medizin bietet viele Untersuchungen an, die Geld kosten, und legt den Frauen nahe, diese – zum Wohle des Kindes natürlich – auch zu nutzen. Nach dem Motto: „Wenn du bestmöglich vorbereitet sein willst, musst du all diese Untersuchungen machen und eben dafür zahlen.“ Das geht weiter mit allen möglichen Vorbereitungs-, Qualifizierungs- und Informationsveranstaltungen bis hinein in den Buchmarkt. Natürlich kostet all das Geld. Die Geburt wird kommerzialisiert.

Und wenn die Geburt dann kein perfektes Erlebnis ist, sind die Mütter womöglich umso enttäuschter?

Das ist der andere Punkt: Wenn das Versprechen einer harmonischen und selbstbestimmten Geburt sich in der Realität als Illusion erweist, und das tut es ja oft genug, wie man beispielsweise in Geburtsberichten nachlesen kann, dann wird diese Enttäuschung für die Frauen nochmal sehr viel quälender und zermürbender. Weil das Gebären mittlerweile als ein Akt gilt, den ich selbst als werdende Mutter in der Hand habe und auch selbst verantworte. Das hat aber zur Folge, dass ich in dem Moment, in dem etwas schiefgeht, nicht mehr sagen kann: „Ja, das war halt jetzt Schicksal.“ Sondern ich muss mich dann als frischgebackene Mutter mit der Frage quälen: „Wo habe ich in der Vorbereitung etwas falsch gemacht?“ Und letztlich: „Warum habe ich persönlich versagt?“

Also steht die Schuldfrage viel schneller im Raum?

Ja, so kann man das sagen. Denn ich als Frau, die selbst entschieden hat, wie die Geburt des Kindes verlaufen soll, verantworte diese damit auch persönlich – und das hat eben zwei Seiten: Wenn die Geburt gut läuft, kann ich sehr zufrieden mit mir sein und mich als Königin fühlen. Aber wenn sie schlecht läuft, sind die Schuldgefühle, etwas falsch gemacht zu haben, sehr nahe.

Was sind das für Frauen, auf die Ihre Beschreibungen passen und von denen wir hier reden?

Es geht um die Gruppe der gebildeten, privilegierten Frauen, die von ihrer sozialen Position her strukturell auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Also keine Randgruppe?

Nein, die Frauen, von denen wir sprechen, gehören der hegemonialen Gruppe an. Und man muss eigentlich auch noch die Väter dazu nennen, denn die sind heute ja auch an der Geburt beteiligt. Sie sind also diejenigen, die die Standards und Normen in der Gesellschaft setzen.

Wie kann man erklären, dass die Geburt von einem natürlichen, unabwendbaren Ereignis zu einem durchgeplanten Erlebnis wurde, bei dem Frauen heute die Qual der Wahl haben, ob sie in ein Geburtshaus gehen, oder ins Krankenhaus, oder gar eine Alleingeburt wagen, und bei dem sie sich generell sehr viele Fragen stellen müssen ab den ersten Schwangerschaftswochen?

Einmal spielt eine Rolle, dass Kinderkriegen heute eben nicht mehr schicksalhaft ist. Ich kann mir als Frau sehr genau überlegen, ob ich ein Kind möchte oder nicht, wenn ja, wann ich es will und wie. Die Medizin stellt die verschiedensten Möglichkeiten zur Verfügung; vom Einfrieren der Eizelle über die künstliche Befruchtung, Pränatal-Diagnostik bis hin zu Gebärtechniken und Kaiserschnitt. Kinderkriegen hat jetzt die Potenz, zu einem persönlichen Stilelement zu werden. Auf welche Weise ich ein Kind gebäre und wie ich es später aufziehe, wird damit auch zum Ausdrucksmittel meiner Persönlichkeit.

Liegt das am hohen Grad der Selbstverwirklichung, der ja in westlichen Gesellschaften längst Standard ist?

Die moderne Idee des Machbaren wird auch in der Geburtskultur gefeiert. Die Individualisierung sagt mir ja: „Ich habe alles in der Hand!“ Sie sagt mir aber gleichzeitig: „Ich muss alles in der Hand haben.“ Und das wird als Idee auch fürs Gebären etabliert. Die Geburt als solche ereilt mich als Frau also nicht irgendwie und gelingt mal besser, mal schlechter. Sondern ich als Mutter bin es, die dafür verantwortlich ist, ob die Geburt gut oder weniger gut läuft. Frauen wollen heute möglichst top vorbereitet und qualifiziert in die Geburt gehen. Genauso, wie ich meine Bildungslaufbahn oder Berufskarriere planen kann, herrscht der Gedanke vor, auch das Geburtsereignis beeinflussen zu wollen – und das auch zu können. Dazu gibt es noch einen Subtext: Ich will natürlich das Beste für mein Kind. Denn die heutige Norm gibt ja vor: Kinder können nicht irgendwie aufwachsen und sich irgendwie entwickeln. Sondern sie brauchen die bestmöglichste Förderung. Und die beginnt eben schon im Mutterleib und mit der Geburt.

Es gibt verschiedene Entwicklungen, wenn man sich die Art und Weise anschaut, wie Frauen in Deutschland Kinder gebären: Auf der einen Seite steht die wachsende Zahl an Kaiserschnitten, also ein künstliches Eingreifen in den Geburtsverlauf – auf der anderen Seite lehnen viele Frauen das Gebären in der Klinik und damit auch die Schulmedizin ab. Sie wollen eine „sanfte“ Geburt, etwa in einem Geburtshaus. Manche Frauen verzichten auch auf die Hilfe von Hebammen und wollen ihr Kind ganz allein auf die Welt bringen; zum Beispiel im Wald oder zu Hause im Wohnzimmer. Diese Frauen beziehen sich auf die natürliche Fähigkeit der Frau zu gebären. In den siebziger Jahren gab es schon einmal einen Trend gegen die Geburt in der Klinik, überwacht und kontrolliert durch Ärzte. Der Rückzug hin zur Natur, ist das heute dieselbe Motivation wie damals?

Das Phänomen der Alleingeburt ist für mich auch neu, aber diese Rückbesinnung auf die Natur ist nicht das Gleiche wie in den siebziger Jahren. Die Kritik an den frauenfeindlichen und unwürdigen klinischen Bedingungen des Gebärens erfolgte damals im Kontext der feministischen Gesundheitsbewegung. Sie bedeutete damals aber nie: allein gebären. Der Arzt war das Feindbild, aber die Hebamme war die gute Figur, auf deren Hilfe man baute. Es war damals immer klar: Die Gebärende soll durch andere, geburtserfahrene Frauen bei der Geburt unterstützt werden.

Mehr zum Thema

Aber bei der Idee der Alleingeburt kommt nochmal ein ganz neuer Faktor hinzu. Ich möchte mir nicht anmaßen, über die Motive der Frauen zu spekulieren, die sich für eine Alleingeburt entscheiden. Aber man kann in diesem Akt schon eine deutliche symbolische Geste erkennen, den weiblichen Körper, also den Mutterkörper, als etwas Einzigartiges und Allmächtiges in Szene zu setzen: Die Alleingeburt läuft schließlich mit dem Subtext: Ich brauche von niemandem Hilfe.

Diese einzelnen Strömungen in der Geburtskultur, also überspitzt gesagt Kaiserschnitt versus Waldgeburt, wirken paradox. Sie sprechen im Rahmen Ihrer Forschungen von einer „Paradoxie der Geburtsreformen“ – was genau meinen Sie damit?

Eine solche Paradoxie liegt zum Beispiel in dem Versprechen der natürlichen Geburt, weg vom Klinischen, wieder hin zum urwüchsig Archaischen. Dieser Schritt bedeutet jedoch sehr viel Arbeit für die werdende Mutter. Denn, um archaisch und natürlich gebären zu können, sich also vom eigenen Körper leiten zu lassen, soll ich ganz viel üben im Schwangerschaftskurs, ganz viel lesen in verschiedenen Ratgeber-Büchern, muss ich mich ganz viel darüber informieren, wo der beste Ort für die Geburt ist, denn ich kann nicht einfach in irgendeine Klinik plumpsen. Ich muss also ganz viel Zeit investieren und dazu noch meinen Mann irgendwie einspannen. Weil letzteres mittlerweile erwartet wird. Ich muss also einen Riesenhaufen Arbeit leisten und alle möglichen Vorkehrungen treffen – um dann vermeintlich natürlich gebären zu können.

Wer viel weiß, hat trotzdem Angst, nicht genug zu wissen

Aber dafür bin ich ja heute als werdende Mutter auch besser vorbereitet auf die Geburt und weiß viel mehr.

Da haben Sie aber ein weiteres Paradoxon: Denn mit dem Wissen, das ich anhäufe, steigt ja auch die Angst, dass ich mir vielleicht zu wenig Wissen angeeignet habe, oder das falsche. Denn die einen sagen es so und die anderen wieder anders. Die Informationen, die ich erhalte, sind ja nicht widerspruchsfrei. Sie können also ordentlich verunsichern. Und dann kommt das Gefühl, dass ich noch diesen einen Ratgeber hätte lesen sollen und noch jenen Kurs besuchen müssen. Dass ich noch mit dieser einen Freundin hätte sprechen sollen oder mit jener Hebamme. Das Mehr an Wissen kann also Ängste steigern. Weil ich mir nie sicher sein kann, ob ich den richtigen Ratgeber gelesen oder die richtige Atemübung trainiert habe.

Der hohe Anspruch, den Frauen heute nicht nur an sich und an die Geburt stellen, reicht ja noch über diese hinaus: Von einer Mutter wird erwartet, dass sie ihr Kind stillt, und zwar möglichst lange, wenn es geht. Außerdem verlangt das Attachment-Parenting, was ja gerade sehr in Mode ist vor allem bei den gut situierten Frauen, dass die Mutter das Baby möglichst oft bei sich trägt, nah am Körper. Denken werdende Mütter vielleicht fälschlicherweise, sie seien freier in ihrer Entscheidung als die früheren Generationen – sind es aber gar nicht, weil sie sie sich dem beschriebenen Diktat unterwerfen, das sie ja sehr an ihre Mutterrolle koppelt?

Da kann ich spontan eigentlich nur zustimmen. Das Raffinierte daran ist aber, dass letztlich das Kind die treibende Kraft hinter dieser mütterlichen Fürsorgeverpflichtung ist. Ich muss dies alles für das gute Gedeihen meines Kindes auf mich nehmen.

Klingt perfide. Denn wenn die Mutter diese hohen Ansprüche erfüllen soll, damit es dem Kind gut geht, kann man ihr ja immer vorwerfen, sie sei eine schlechte Mutter und vernachlässige das Kindeswohl, sobald sie von dieser Rolle ein Stück abweicht.

Ja, so ist es. Das macht es mir als Mutter eigentlich unmöglich, mich diesen Ideen zu entziehen und auf meine eigenen Bedürfnisse zu pochen. Also zum Beispiel zu sagen: „Ich will jetzt mal eine Nacht alleine schlafen, ohne das Kind direkt neben mir“, oder „Ich halte das nicht aus, rund um die Uhr bei meinem Kind zu sein, nur, weil ich die Milch habe.“ Das sind neue Fesselungen, bei denen ich das Gefühl habe, sie haben in ihrer Schärfe zugenommen, die frühere Muttergenerationen so nicht kannten. Das Bild des Kindes, wie es heute propagiert wird, ist das eines ganz stark verletzlichen, das rundherum beschützt werden muss vor vielen Gefahren und Frustrationen. Wenn dieses Bild aber regiert, bin ich natürlich sofort eine böse Mutter, wenn ich nicht alles tue, um dieses so verletzliche Kind zu beschützen und möglichst gut zu fördern. Wenn wir über dieses Thema reden, ist also die Kombination wichtig: Die Übermutter ist notwendig, weil gleichzeitig das Kind als so verletzlich gezeichnet wird.

Das Stillen bindet das Baby weiter an den Körper der Mutter

Also wird doch die Frau trotz aller Gleichberechtigung und trotz der „neuen“ Väter, die ja tatsächlich in einem viel größeren Maße als noch in früheren Generationen teilhaben wollen, gar nicht aus ihrer Fürsorgepflicht entlassen. Wo finden die Väter dann ihren Platz?

In dem Zusammenhang ist das Ideal der Stillernährung beachtenswert. Weil dieses dafür sorgt, dass in dem Moment, wo das Kind auf der Welt ist und damit theoretisch der Fürsorge von Mutter und Vater oder anderer Personen zugänglich wäre, durch das Stillen das Baby weiter an den Körper der Mutter gebunden bleibt. Es gibt empirische Studien, die zeigen, dass das Stillen für Paare, die eigentlich vor der Geburt paritätisch eingestellt waren, die sich also gemeinsam gleichermaßen verantwortlich fühlen für die Fürsorge des Kindes, eine höchst konfliktreiche Phase ist. Weil diese Paare dann merken: Die Sättigung des Babys ist der stärkste Trieb des Säuglings und die Person, die das Baby sättigt, hat einen klaren Beziehungsvorsprung – beim Stillen also die Mutter.

Führt das zu Stress in der Beziehung zwischen den jungen Eltern?

Man kann feststellen, dass sich bei Paaren in dieser Phase dann oft die bekannten Geschlechterordnungen wieder herstellen – obwohl beide Partner es ja eigentlich anders wollten. Der Vater wird zwar schon als Helfer gesehen, aber er steht eben in der zweiten Reihe, hinter der Mutter. Und das strahlt weiter: nämlich, wenn beim Baby die Beikost eingeführt wird. Dieser Schritt ist ja wieder eine Zäsur, da könnte der Vater näher ans Kind ran, mehr Fürsorge übernehmen. Aber wenn man sich die Kurse anschaut, in denen es um die Kleinkindernährung geht, sitzen da wieder nur die Mütter.

Wenn ich mir das alles so anhöre, erscheint es mir, als seien eine Geburt und die Fürsorge fürs Kind heute eine sehr komplexe Angelegenheit; fast wie eine Wissenschaft für sich. Machen moderne Eltern sich unfrei, ohne dass es ihnen bewusst ist?

Da muss man aufpassen, denn dieser Satz schreibt den Eltern allein die Verantwortung zu. Es gibt aber eine ganze Reihe Akteure, die die Eltern beeinflussen. Die Gynäkologen, die Kinderärzte, die Hebammen, die Kliniken, auch der Freundes- und Familienkreis, denn in dem werden ja ebenfalls bestimmte Bilder davon transportiert, wie vor allem die Mutter zu sein hat. Und das sind teilweise wahnsinnig mächtige Bilder.

Wie komme ich als werdende Mutter wieder aus diesem Druck raus?

Es braucht Gegendiskurse. Und es ist wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen: Es gibt auch das starke Kind, das ganz viel schaffen kann. Frühere Kinder-Generationen sind ja auch groß geworden.

Also müsste man eigentlich nicht am Mutterbild, sondern an dem des Kindes drehen?

Für mich ist das im Moment das stärkste Scharnier. Solange das Bild des schwachen und sehr verletzlichen Kindes nicht entkräftet wird, so lange bleiben wir als Eltern, als Mütter jeder Forderung nach noch besserer Fürsorge des Kindes ausgeliefert.


Lotte Rose, selbst Mutter und Großmutter von zwei erwachsenen Kindern beziehungsweise zwei Enkelkindern, lehrt und forscht an der Frankfurt University of Applied Science. Sie ist studierte Erziehungswissenschaftlerin und seit 2003 Geschäftsführerin des „Gender- und Frauenforschungszentrums der Hessischen Hochschulen“. Für ihre Studien zur Geburtskultur hat sie zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Rhea Seehaus Geburtsratgeber und Selbsterfahrungsbücher von Müttern analysiert sowie Geburtsvorbereitungskurse und Informationsabende für werdende Eltern beobachtet. Dabei interessierten die zwei Forscherinnen die Fragen: Wie werden Väter und Mütter eigentlich positioniert, wenn es um die Geburt geht, welche Rolle kommt ihnen jeweils zu? In einem jüngeren Projekt haben Rose und Seehaus sich Informationsveranstaltungen zum Thema Stillen angeschaut.


Textredaktion: Theresa Bäuerlein; Fotoredaktion: Martin Gommel; Produktion: Vera Fröhlich