Das Wort „Luder“ ist eigentlich ein Begriff aus der Jägersprache. Wenn ein Jäger einen toten Hasen als Köder benutzt, um Füchse anzulocken, dann ist der Hase das Luder. Das wissen heutzutage aber fast nur noch Menschen, die im Wald arbeiten. Für alle anderen ist ein Luder eine Frau, die leicht für Sex zu haben ist. Die deshalb etwas Abstoßendes an sich hat, aber irgendwie auch scharf ist. Ein Objekt, das Räuber anzieht.
Es wäre schön, wenn wir uns an einem Punkt befänden, an dem wir das Wort den Jägern zurückgeben könnten. Sind wir aber nicht. Der beste Beweis, den man dafür momentan finden kann, ist die Debatte über den Fall Gina-Lisa Lohfink. Die Geschichte dieses Falls erzählt sich, grob zusammengefasst, so: Die Reality-TV-Darstellerin hatte Sex mit zwei Männern, die Lohfink dabei filmten. Anschließend stellten die Männer das Video ins Netz – ohne das Wissen oder die Erlaubnis ihrer prominenten Sexpartnerin. Lohfink sagt, auf dem Video sei ihre Vergewaltigung zu sehen, man habe ihr K.-o.-Tropfen gegeben.
Im Sommer 2016 wurde sie wegen falscher Verdächtigung verurteilt. „Wer einmal ludert, dem glaubt man nicht?” schrieb die Bild-Zeitung. Weil Lohfink schon früher Sex-Videos gedreht haben soll. Seit November 2017 ist das Urteil rechtskräftig, und das Modell muss 20.000 Euro Geldstrafe zahlen.
Die einen sehen in Lohfink ein Paradebeispiel unserer „Rape Culture“, die Opfern die Schuld am Verbrechen gibt. Für andere ist Lohfink das „Pornosternchen“, das auf einmal prüde sein will. Was aber bei allem Gezerre um die Person und die Fakten nicht infrage gestellt wird, ist eine grundlegende Vorstellung: die des „Purity Myths“, des Reinheitsmythos, wie ihn die amerikanische Journalistin Jessica Valenti nennt. Die Idee also, dass Frauen durch die „falsche“ Art von Sex beschmutzt werden können. Das klingt unglaublich altmodisch, nach Korsetts und strengen Familienvätern, aber die Vorstellung sitzt tief. Sowohl bei denjenigen, die Lohfink verurteilen, als auch bei vielen derjenigen, die sie verteidigen. Lohfinks Fall steht also symbolisch für die generelle Art, wie wir über Frauen, Sex und sexuelle Gewalt nachdenken.
In ihrem Buch „The Purity Myth“ schreibt Valenti, dass der Reinheitsmythos folgende Elemente hat:
- Da ist die „Jungfräulichkeit”, die eine Frau verlieren kann. Der Verlust mindert jedoch den „Wert” der Frau. Je mehr Sexpartner sie danach hat, desto größer der Wertverlust.
- Sex macht Frauen „schmutzig”, Männer nicht.
- „Anständige” Frauen wollen eigentlich keinen Sex. Außer sie sind in einer festen Beziehung.
- Eine Frau mit viel Sextrieb ist immer verdächtig.
Der Reinheitsmythos funktioniert nur beim Thema Sex
Was das mit sexueller Gewalt zu tun hat? Eine ganze Menge. Dass die einen überhaupt auf die Idee kommen, eine sexuell freizügige Frau sei quasi nicht missbrauchbar, ist Reinheitsmythos pur und funktioniert nur beim Thema Sex. Oder würde irgendwer behaupten, eine Frau, die viel und gerne kocht, könne nicht zum Essen gezwungen werden, weil sie ja sowieso die ganze Zeit mit Nahrungsmitteln rummacht?
Bei den Empathischeren ist die Sache subtiler: Sie geben dem Opfer keine Schuld, aber auch in ihrer Empörung schwingen Reinheitsvorstellungen mit, weil sie die Schmach an sich nicht anzweifeln. Als wäre eine missbrauchte Frau quasi geschändet worden.
Diese Annahme anzuzweifeln, mögen manche als heikel bewerten. Weil es scheint, als würde man den Schmerz der Opfer infrage stellen, wenn man nicht akzeptiert, dass eine Vergewaltigung eine Frau erniedrigt. Aber genau das macht diese Art Verbrechen so mächtig und gibt einer Vergewaltigung ihre seelenzerfressende Kraft. Wie schlimm das Trauma eines Missbrauchs ist, hängt für Frauen auch damit zusammen, wie ihre Umgebung die Tat beurteilt.
„Die Vergewaltigung von Frauen war von der homerischen bis zum Beginn der christlichen Epoche ein Ereignis, dessen soziale Dimension alle seine anderen Aspekte weit übertraf”, schreibt der Geschichtswissenschaftler Georg Dobelhofer. „Der Grund dafür ist die ungeheure Bedeutung, die der sexuellen Reinheit der Frau zugemessen wird.” Hinzu kommen religiöse Vorstellungen von Keuschheit, die auch diejenigen von uns noch prägen, die nicht mehr in die Kirche gehen.
Im Hintergrund surren die alten Vorstellungen mit
Wer daran zweifelt, dass es diese Vorstellungen noch immer gibt – weil er oder sie, sagen wir, jung, urban und gebildet ist, also zu einer sexuell eher offenen Gruppe gehört – der braucht nur einmal genauer hinsehen, wenn er Netflix guckt oder Zeitschriften liest: Es ist normal, dass Frauen sich gegenseitig als Schlampen bezeichnen, dass Magazine das Wort „schmutzig“ benutzen, wenn sie Sextipps geben, und dass Männer stolz berichten, mit wie vielen Frauen sie geschlafen haben – während Frauen sich Sorgen machen, ab wie viel Typen sie niemand mehr heiraten will.
Der Reinheitsmythos ist wie der Grundton, der immer mitschwingt, wenn wir über Frauen und Sex reden. Leise surrt er im Hintergrund, so dass man ihn leicht überhören kann. Aber hat man ihn einmal bemerkt, wird klar, was er für eine enorme Kraft hat. Denn gäbe es den Reinheitsmythos nicht, gäbe es auch nicht jenes normale, aber eigentlich irre Phänomen, dass Frauen sich schämen, weil man sie sexuell benutzt hat. Sie würden sich viel öfter in Gerichtssäle trauen, und sie würden dabei keine dicken Sonnenbrillen tragen und sich unter Kapuzen verstecken müssen.
Der Schmerz und das Trauma wären weiter da, nicht aber das Stigma.
Scham ist eine soziale Emotion
Scham als Reaktion auf Missbrauch ist nicht selbstverständlich. Scham ist keine Grundemotion wie Trauer oder Freude, sondern eine soziale Emotion, die also nur entstehen kann, wenn man sich auf andere Menschen und ihre Reaktionen bezieht. „Das schlimmste an der Vergewaltigung war die Zeit danach”, schreibt eine anonyme Nutzerin auf Edition F. Und erzählt, wie sehr sie darunter gelitten hat, dass Freunde und Verwandte ihr aus dem Weg gingen, weil sie das ganze Thema beschämend fanden. Wie andere sie der Lüge bezichtigen.
Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Vergewaltigungsopfer, die sich trauen, über die Tat zu reden, Freunde verlieren und sich wieder und wieder dafür rechtfertigen müssen, was ihnen passiert ist – weil immer der Verdacht über ihnen hängt, sie hätten die Tat irgendwie herausgefordert. In der Forschung ist bekannt, dass Reaktionen wie diese Teil des Traumas sind. Sie sind ein Grund dafür, dass Opfer nach Vergewaltigungen Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln.
Wenn wir sexueller Gewalt einen Teil ihrer enormen Macht nehmen wollen, müssten wir also damit aufhören, sie als beschämendes Ereignis zu sehen. Als einen Angriff, eine Überschreitung von Grenzen, als Erfahrung von Gewalt und Schmerz, ganz klar. Aber nicht als Schmach.
Der Gedanke ist mit Sicherheit ungewohnt, weil er sehr tiefe Prägungen infrage stellt, die wir haben. Und weil es so aussehen kann, als würden wir die Tat verharmlosen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wie müssten Opfern signalisieren, dass sie als Menschen intakt bleiben, dass Sex, auch wenn er gewaltsam ist, niemanden befleckt. Im anderen Fall helfen wir Tätern dabei zu erreichen, was sexuelle Gewalt ohnehin bezweckt: die totale Ermächtigung über eine Person und ihre totale Demütigung.
Es klingt vielleicht pathetisch, ist aber wahr: Wir sollten uns nicht am Mord einer Seele beteiligen.
Natürlich werden auch Männer und Jungs missbraucht, wenn auch nicht derart flächendeckend wie Frauen und Mädchen. Dass auch Frauen Männer missbrauchen, wird weitgehend totgeschwiegen und ist ein weiterer Indikator für den Reinheitsmythos: „Richtige“ sexuelle Gewalt kann nur von Männern ausgehen, die sind grundsätzlich nicht missbrauchbar (außer von anderen Männern).
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter.