Wie hast du die Reaktionen auf den Anschlag in Orlando wahrgenommen?
Sie haben mich nicht nur traurig gemacht, sondern auch wütend. Und gleichzeitig habe ich gemerkt, dass es alle Schwulen und Lesben, die ich kenne, ebenfalls wütend gemacht hat. Weil es eine Riesendiskrepanz gab. Dazwischen, wie wir die Anschläge wahrgenommen haben und wie die deutschen Medien und die deutsche Politik sie dargestellt haben.
Wie wurden sie denn dargestellt?
In den meisten Berichten wurde „schwul“ und „homosexuell“ wie in den 70er-Jahren mit spitzen Fingern angefasst. Entweder pfui oder nicht berichtenswert. Dabei war doch direkt ganz klar, worum es ging: Egal, ob es ein terroristischer Anschlag ist oder nicht – das ist ein Anschlag gegen uns Lesben und Schwule, ein Anschlag, den die meisten von uns schon lange erwartet haben. Nicht nur für die meisten Medien, auch für die Bundeskanzlerin, den Außenminister und den Bundespräsidenten war das aber quasi kein Thema.
Charlie Hebdo gilt als ein Anschlag auf unsere freie Gesellschaft. Ist die Gewalttat von Orlando nicht auch so zu sehen?
Bei Charlie Hebdo hat man sich genau angesehen, auf welchen Aspekt der Gesellschaft das abzielte. Da wurde ganz klar gesagt, dass das gegen die Meinungsfreiheit geht. Die Leute haben Bleistifte gepostet und es wurde über die Grenzen von Meinungsfreiheit diskutiert. Das Gegenteil ist jetzt passiert: kein Grund, über die Situation von Lesben und Schwulen oder Homophobie in unserer Gesellschaft zu reden. Ja, bitte, wann denn sonst?
Johannes Kram, Jahrgang 1967, ist Theater-Autor, Blogger und Marketingstratege. Im Nollendorfblog beschäftigt er sich ebenso meinungsstark wie analytisch mit der Diskriminierung von Homosexuellen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. 2013 initiierte und verfasste er den Waldschlösschenappell, der die Medien zu einem anderen Umgang mit Homophobie aufforderte. Sein bei Krautreporter dokumentiertes Theaterstück „Seite Eins“ beschäftigt sich mit den perfiden Mechanismen moderner Massenmedien und dem Voyeurismus der Zuschauer.
Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn sich ein Attentat gezielt gegen Homosexuelle richtet?
Das sagt erst einmal noch nicht so viel aus, das kann in jeder Gesellschaft passieren, weil es weltweit Homosexuellen-Hass gibt. Aber es sagt ganz viel über unsere Gesellschaft aus, wie wir darauf reagieren. Wenn ein Attentat in der Kirche passiert, würde man darüber reden, wie bedroht Christen sind. Und wenn sich ein Anschlag gegen Juden richten würde, würde man darüber auch diskutieren. Wir sind, und das war das Subtile, die einzige Minderheit, über die man sich diese Gedanken anscheinend nicht machen muss. Und das ist es, was mir genauso viel Angst macht, wie der Anschlag selbst.
Eine europaweite Studie hat 2013 gezeigt, in welchem Ausmaß Homophobie in Europa vorkommt. Auch eine aktuelle Studie der Böll-Stiftung zeigt weitverbreitete Ressentiments gegen Homosexuelle in der deutschen Gesellschaft auf. Sind wir denn in Zeiten schwuler und lesbischer Politiker und Stars, trotz der Homo-Ehe immer noch keinen Schritt weitergekommen?
Das ist eine Frage, die wirklich nur ein heterosexueller Journalist stellen kann. Das sind zwei völlig verschiedene Ebenen. Das ist genau die Ebene, wie das Unding der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die nach der unsäglichen Gauland-Äußerung über Boateng seine Nachbarn befragt, ob sie gerne neben ihm wohnen wollen. Der Rassismus der FAS ist dabei mindestens so schlimm wie der von Gauland. Was ist denn das für ein Maßstab? Warum werden die absoluten Vorzeigeleute präsentiert, um sich darauf zu verständigen, dass es kein großes Problem mit Rassismus oder Homophobie gibt.
Das Gegenteil ist natürlich der Fall. Weil niemand auf die Schulhöfe sieht, auf den Alltagsrassismus oder die alltägliche Homophobie. Ich finde es fast schon obszön, wie sehr sich die Gesellschaft darüber versucht einig zu sein, nicht rassistisch und homophob zu sein – und das an Menschen wie Westerwelle und Boateng festmacht. Deutschland erscheint im Gegensatz zu den USA und Großbritannien geradezu inkompetent darüber zu sprechen, wo Rassismus und Homophobie anfangen, was sie bewirken, wo sie herkommen und wie man damit umzugehen hat.
In deinem Blog engagierst du dich seit Jahren analytisch und meinungsstark gegen homophobe Kommentare oder unterschwellige Hetze gegen Schwule in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Nun ist es für den Grimme Online Award nominiert. Wäre das nicht schon früher angebracht gewesen?
Ich war von der Nominierung überrascht, weil sich mein Blog immer hauptsächlich an Schwule und Lesben selbst gerichtet hat. Und es freut mich, dass da jetzt eine andere Aufmerksamkeit kommt. Aber ich merke auch etwas anderes, wenn ich mit heterosexuellen Menschen spreche. Wie zuletzt bei der Veranstaltung des Grimme-Instituts, auf der alle Nominierten vorgestellt wurden und ich kurz über Homophobie in unserer Gesellschaft gesprochen habe. Danach kam ein Mann auf mich zu und sagte, dass es toll sei, was ich gerade erzählt habe, aber das eigentlich aktuelle Problem in Deutschland mit Homophobie seien doch die vielen Flüchtlinge, und die müsse man jetzt dringend aufklären. Da habe ich ihn gefragt, ob es nicht das naheliegende Zeichen wäre, das man Flüchtlingen über Homosexuelle geben könne, wenn man diese zunächst einmal rechtlich gleichstellen würde. Da hat er mich gefragt, ob so was in Europa denn schon mal probiert worden sei. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass Gespräche über Homophobie sehr oft unter null anfangen, also mit der Klärung eigentlich klarer Sachverhalte.
Natürlich gibt es völlig verschiedene Wahrnehmungen und natürlich trifft es da auch die Falschen. Denn die Leute meinen es ja nicht böse, aber sie können es dann oft auch nicht besser. Es ist ein zähes Argumentieren, man muss immer wieder begründen, warum es wichtig ist, auf dieses Thema zu blicken. Und es gibt ja nicht nur mein Blog, es gibt fantastische schwule und lesbische Schreiber und Schreiberinnen. Mich wundert schon, dass das bisher in der Medienöffentlichkeit quasi keine Rolle gespielt hat. Schön ist, dass das in den letzten Tagen anders war. Es wäre schön, wenn das so bleibt.
2013 hast du den Waldschlösschenappell initiiert, der die Medien zu einer klaren Haltung gegen die Diskriminierung von Homosexuellen auffordert. Was hat sich seitdem verändert?
Wir wissen, dass in vielen Redaktionen danach darüber gesprochen wurde. Und wir glauben auch, dass ein paar ganz üble Sachen in Talkshows in der Folge ausgeblieben sind. Es war damals wichtig, überhaupt einmal eine Definition zu schaffen, was Homophobie ist. Es ist doch absurd, dass Journalisten jedes Mal, wenn sie darüber berichten sollen, neu ins Thema rein müssen, anstatt sich mal darüber zu verständigen, ab wann eine Aussage homophob ist. Und da hat der Waldschlösschenappell viel gebracht.
Er wäre auch eine gute Blaupause für die Diskussion über Rassismus. Auch da sieht man in Talkshows, wie Leute gegen Gauland wettern, aber eigentlich mit rassistischen Argumenten. Reiner Calmund, der bei Markus Lanz sagt, wie unverschämt es sei, gegen Boateng zu wettern, wo er doch so ein guter Fußballspieler sei. Es geht doch genau darum, wie wir mit denen umgehen, die keine tollen Fußballspieler sind, die keine tollen schwulen Sänger oder Schauspieler sind. Es geht in Wirklichkeit um die schwulen und lesbischen Küsse. Und dass nie diskutiert worden ist, dass Journalisten bei Eigenaussagen von Menschen einfach nicht widersprechen, wenn sie einfach nur behaupten, sie seien nicht homophob oder rassistisch. Das ist schon unglaublich. Anstatt die Leute mal zu fragen, was das denn konkret bedeutet. Sollen Schwule und Lesben genauso wie Heteros vor der Eisdiele kuscheln und sich Küsschen geben dürfen?
Und wenn sich Menschen sagen „Naja, da sind ja Kinder dabei“, dann sind sie verdammt nochmal homophob. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen Leute wie Beatrix von Storch sagen können, dass sie nicht schwulenfeindlich sind, ohne ausgelacht zu werden. Denn das sind sie natürlich. Ich wundere mich, warum es in der deutschen Gesellschaft so schwierig ist, das zu benennen. Das ist natürlich auch ein riesiges Medienversagen.
Zurzeit steht mit den Fällen in Stanford und dem Prozess von Gina-Lisa Lohfink der fragwürdige Umgang der Justiz mit Vergewaltigungen in der Diskussion. Gibt es dabei Parallelen zum gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität?
Natürlich! Frauenfeindlichkeit und Sexismus, all das gehört dazu. Auch die Brüderle-Debatte hat gezeigt, dass es überhaupt keinen gemeinsamen Debattenraum gibt, weil die, deren Verhalten man als problematisch anprangert, schon alleine durch die Behauptung, sie seien aber nicht problematisch, denken, aus dem Schneider zu sein. Das provoziert natürlich die Wut der Gegenseite und so werden Debatten über Diskriminierung in Deutschland immer wieder zu ritualisierten Schaukämpfen ohne jeden Mehrgewinn, ohne die dringend für die Entwicklung der Gesellschaft benötigten Erkenntnisse und Verständigungen. Statt überhaupt mal darüber zu diskutieren, wo das alles anfängt. Es ist doch so: Wir sind alle Teil des Problems. Wir sind alle irgendwo rassistisch, homophob und sexistisch. Es nützt doch nichts, das einfach abzustreiten. Sondern wir müssen endlich lernen, damit umzugehen.
Ich glaube, Deutschland beginnt gerade erst zu realisieren, dass diese ganze Vergangenheitsbewältigung in Bezug auf den Nationalsozialismus zwar wichtig war, aber da noch etwas Entscheidendes fehlt: Was es eigentlich heißt, nicht xenophob zu sein. Was es eigentlich heißt, nicht über Toleranz, sondern über Akzeptanz und Respekt zu reden. Was es eigentlich in einer Gesellschaft heißt, es auszuhalten, wenn sich Menschen küssen, die man nicht beim Küssen sehen möchte. Diese Debatte fehlt in Deutschland komplett. Und das Erstaunliche ist, dass sie eigentlich in allen Ländern, mit denen wir kulturell verbunden sind, seit Jahrzehnten stattfindet. Wenn man sich amerikanische Kultur, amerikanische Serien, Medien, Theater oder auch ganz kommerzielle Musicals ansieht, liegt Deutschland mindestens 20 Jahre zurück. Und jetzt zeigen wir alle auf Donald Trump und finden, wir sind den Amerikanern im Diskurs überlegen. Nein, das sind wir nicht.
Nach Orlando hast du in einem Blogeintrag geschrieben: „Liebe Heteros, sorry, aber jetzt seid Ihr dran!“ Was muss geschehen, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen kein Thema mehr ist?
Erst einmal war das eine Polemik. Dafür habe ich viele Prügel bekommen, denn natürlich gibt es nicht DIE Heteros – genauso wenig, wie es nicht DIE Schwulen und Lesben gibt. Aber es gibt eben auch verschiedene Betrachtungsebenen. Zum Beispiel die, auf der es schon wichtig ist, ob jemand hetero ist, weil er einfach eine ganz andere Sichtweise hat. Eine Minderheit hat immer das Problem, dass sie von der Mehrheit in ihren Sorgen und in ihrem Blick nicht gänzlich verstanden und gesehen werden kann. Das wäre kein Problem, wenn man das einfach so mal konstatieren würde, statt dauernd zu betonen, dass wir ja alle gleich sind. Natürlich sind wir alle gleich, aber wir sind auch alle anders.
Was wir alle generell tun müssen, ist einfach selber die Perspektive zu wechseln und immer die Dinge auch aus der wieder Sicht der anderen, aus Sicht der Minderheiten zu betrachten. Da das jetzt gerade nach Orlando ausgeblieben ist, könnten zwei Sachen passieren: Entweder wird weiter so getan, als hätte das mit der Minderheit LGBTI (Anmerkung der Redaktion: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual) eigentlich nichts zu tun. Dann wird allerdings der Unmut noch weiter steigen.
Oder es beginnt etwas, was ich mir schon lange wünsche. Nämlich, dass wir uns mal gegenseitig zuhören und uns fragen: „Wie geht’s dir dabei?“ und „Erzähl mir doch mal von deinen Ängsten, aber auch, wo du dich nicht oder falsch verstanden fühlst“. Das gilt für jeden. Jeder ist Minderheit und jeder ist Mehrheit, es kommt immer auf die Situation an. Sich darüber auszutauschen, ist das Wichtigste, was jetzt passieren kann.
Welche Rolle spielt die Politik dabei?
Merkels Reaktion war der Worst Case. Im Prinzip hat sie es geschafft, sich in dieser Sache rechts von Donald Trump zu positionieren. Man kann sich im demokratischen Parteienspektrum quasi keine Äußerung vorstellen, die homosexuellen-feindlicher wäre. Erstens, weil sie im Gegensatz zu anderen westlichen Staatschefs fünf Tage gebraucht hat, um zuzugestehen, dass es ein Anschlag gegen LGBT ist. Dass sie mit ihrem Reden über tolerantes Weiterleben so getan hat, als ob es kein Problem mit Homophobie gibt, ist die zweite Ungeheuerlichkeit in ihrem Statement. Und die dritte ist natürlich die, dass sie von Toleranz, also über das Dulden spricht und damit die Debatte quasi auf den Minimalkonsens der 80er-Jahre zurückführt. Wenn das eine Regierungschefin macht, ist das skandalös. Wie bei Böhmermann hat Merkel versucht, bei einer wichtigen Wertefrage einfach mal auf Kosten der Betroffenen rumzutricksen.
Aufmacher-Illustration: Sibylle Jazra und Thomas Weyres für Krautreporter.