Diese Tage gehören vielleicht zu den größten Stunden im Leben von Roosh V. Der Mann, der sich selbst „Pick Up Artist” nennt, ist um die halbe Welt gereist, um Frauen aufzureißen und nachher in Büchern, Blogs und Vorträgen damit anzugeben – auch in Deutschland. Lange wirkte Roosh V wie ein Loser, den man einfach ignorieren kann; ein 36-jähriger, der im Keller seiner Mutter lebt. Aber das hat sich in den vergangenen Tagen radikal geändert. Das Interesse an dem Amerikaner ist explodiert, denn er hat für Samstag, den 6. Februar, weltweite Treffen seiner Anhänger angekündigt, unter dem größenwahnsinnigen Titel „Return of Kings”.
Roosh V. Auf jemanden wie ihn reagieren die Deutschen jetzt, sensibilisiert durch die sexuelle Gewalt in Köln an Silvester, extrem empfindlich. Sein Name erschien diese Woche flächendeckend auf Twitter, in Facebook-Timelines und in den Schlagzeilen. Es wurde deutschlandweit vor dem „Vergewaltigungsbefürworter” gewarnt, Proteste wurden organisiert. Das Ganze kochte dermaßen hoch, dass V schließlich alle Meetups absagte.
Man könnte das als Erfolg feiern. Gegen sexuelle Gewalt, für die Sicherheit von Frauen. Doch Roosh ist nur ein klassischer Sündenbock. Nicht, weil er unschuldig wäre: Sein pro-Vergewaltigungspost ist wirr und widersprüchlich, aber eindeutig.
Und die Empörung darüber ist verständlich und richtig. Aber der Artikel erschien vor fast genau einem Jahr, am 16. Februar 2015. Noch vor wenigen Monaten konnte Roosh ungestört Vorträge in Berlin halten. Vor Köln.
Tatsache ist: Keine Anti-Roosh-Demo wird verhindern, dass auch an diesem Tag in Deutschland statistisch gesehen alle drei Minuten eine Frau vergewaltigt wird (Quelle: Terre des Femmes). Die meisten Vergewaltiger geben keine Seminare. Zu ihren wichtigsten Mitteln gehören Stille und Verborgenheit. Sie handeln vor allem privat, planen ihre Taten im Voraus und missbrauchen keine Fremden. Die meisten Opfer kannten die Täter schon vorher. Sexuelle Gewalt ist für die meisten Frauen, für viele Kinder und für manche Männer (die auch belästigt und vergewaltigt werden) ein subtiles, alles durchdringendes Phänomen, dem man überall begegnen kann: eben nicht nur in dunklen Gassen, sondern vor allem zu Hause, auf Partys, in der U-Bahn und bei der Arbeit.
Jetzt ist die Stimmung so aufgeheizt, dass sich an der Figur von V eine Wut entlädt, die mit dem Mann eigentlich wenig zu tun hat. Der Aufruhr zeigt deswegen eines mehr als alles andere: Wie hilflos wir wirklich gegenüber sexueller Gewalt sind.
Statt sich aber wirklich mit den Ursachen dieser Gewalt zu befassen, werden Stellvertreterdebatten geführt, die sich nie um die Wurzeln sexueller Gewalt drehen, nie wirklich um die Opfer. Sondern darum, einzelne Verdächtige (Dominique Strauss Kahn, Bill Cosby, Kachelmann etc.) und Personengruppen („Migranten” oder „nordafrikanische Männer”) anzuprangern.
Als könnte das Problem sexueller Gewalt gelöst werden, wenn man diese Leute einfach bestraft und wegmacht.
Natürlich gibt es die Hoffnung, dass es weniger sexuelle Gewalt geben wird, wenn die Gesellschaft die Tat und die Täter stärker stigmatisiert. Aber wenn das der wichtigste Ansatz ist, birgt das die Gefahr, dass die Ursachen nie wirklich erkannt werden, weil man die Schuld immer irgendwelchen anderen Typen geben kann. Eine Lösung ist das nicht. Roosh Vs Anhänger werden sich einfach heimlich treffen. Der Mann selbst ist zum Märtyrer geworden und gewinnt so wahrscheinlich noch mehr Fans für seine These, dass die Welt von „unattraktiven Frauen und ihren Helfern” regiert wird, gegen die echte Männer sich zur Wehr setzen müssen.
Dennoch: Diese Zeit ist eine Chance. Nie war das Land stärker für sexuelle Gewalt sensibilisiert. Deswegen gab es nie eine bessere Chance, den Kampf gegen sexuelle Gewalt zu einem Ziel aller Menschen zu machen. Endlich tragen nicht nur Frauenrechtler/innen das Thema in die Öffentlichkeit, sondern das gesamte gesellschaftliche Spektrum von links bis rechts hat es präsent. Es ist jetzt die Chance da, diese Aufmerksamkeit positiv zu nutzen, statt ihre Kraft in der Jagd auf Einzelne zu verschießen.
Dafür müssen wir jedoch viel ehrlicher über sexuelle Gewalt und ihre Ursachen reden. Wir müssten uns zum Beispiel fragen, ob Roosh V nicht ein Symptom ist – ein extremes Beispiel einer Einstellung, die in ihren subtileren Formen durchaus gesellschaftlich akzeptiert ist (seiner Idee etwa, Frauen müssten selber darauf achten, dass sie nicht betrunken mit fremden Männern nach Hause gehen, würden sicher viele zustimmen). Wir müssten aufhören, die Schuld dem bösen Unbekannten zu geben, und verstehen lernen, wie man Missbrauch im eigenen Umfeld identifizieren kann – und womöglich im eigenen Verhalten. So wichtig Verbote und eine verbesserte Vergewaltigungsgesetzgebung sind, so wenig helfen sie dabei zu verstehen, wie sexuelle Gewalt überhaupt entsteht. Und was man dagegen tun kann.
Um sexuelle Gewalt wirksam zu beenden, müssten wir akzeptieren, dass sie kein Problem fremder Leute ist. Und dringend Zivilcourage entwickeln. Das Klima um sexuelle Gewalt führt im Moment vor allem dazu, dass man sich als Frau noch alleingelassener fühlt als vorher. Weil zwar alle darüber reden, wie schlimm es ist, wenn Frauen begrabscht und missbraucht werden, aber der beste Rat, den man ihnen gibt, lautet: Geht halt dunklen Typen aus dem Weg und meidet leere, nächtliche Straßen. Denn, das impliziert dieser Rat, im Zweifelsfall hilft euch keiner. Es ist absurd, dass Frauen geraten wird, Selbstverteidigungskurse zu machen, damit sie wissen, was sie machen können, wenn ein Typ sie würgt, dass aber keinerlei Anspruch an Menschen gestellt wird, Kurse in Zivilcourage zu nehmen. Nicht nur, um Frauen zu helfen, sondern überhaupt Menschen, die angegriffen werden. Die Deutschen haben verlernt, wie eingreifen geht – egal, ob jemand auf der Straße schreit oder in der Wohnung nebenan.
„Die Humanisierung und Zivilisierung der Gesellschaft hat dazu geführt, dass wir mit Gewalt in unserer unmittelbaren Umgebung überhaupt nicht mehr umgehen können. Als das Gewaltmonopol noch nicht bei Staat und Polizei lag, war es für die Bürger selbstverständlich einzugreifen”, sagt der Konfliktforscher Gerhard Schwarz. Deswegen, meint er, müsse Zivilcourage gelehrt werden: „Es gibt in den meisten Schulen die Pflicht, an einem Erste-Hilfe-Kurs teilzunehmen. Warum nicht auch an einem Kurs zur Zivilcourage?”
Das wäre ein guter Ansatz. Einer, der sicher mehr bringen würde, als sämtliche Roosh-V-Proteste auf Facebook.