Als im Zwickauer Volkswagenwerk vor mehr als zehn Jahren die Autoproduktion regelrecht einbrach, von fast 300.000 Fahrzeugen auf knapp über 200.000, musste die sächsische Stadt eine Haushaltssperre verhängen. Alle Ausgaben auf den Prüfstand, wie es bei diesen Gelegenheiten immer so schön heißt. Am Ende mussten zum Beispiel zwei von drei Freibädern schließen.
Im September 2015 hat Zwickau wieder eine Haushaltssperre verhängt. Nachdem Volkswagen binnen eines Tages rund 14 Milliarden Euro an Börsenwert verlor und Millionen Dieselfahrzeuge zurückrufen muss, kündigte der Autobauer an, 6,5 Milliarden Euro zur Seite legen zu wollen. Am Beispiel Zwickau wird klar, was das für Auswirkungen für die Städte haben könnte, in denen Volkswagen produziert - und Gewerbesteuer abführt.
Wenige Tage nachdem bekannt geworden ist, dass VW bei den Emissionswerten seiner Dieselmotoren jahrelang systematisch betrogen hat, nimmt Oberbürgermeisterin Pia Findeiß (SPD) zwei Beschlussvorlagen wieder von der Tagesordnung ihres Stadtrates: den Neubau einer Schulsporthalle und die Sanierung der baufälligen Handballhalle. „Wir wissen seit heute, dass die Einnahmen wegbrechen - geahnt haben wir es schon. Nun werden wir die Finanzplanung völlig neu überarbeiten“, begründete sie den Schritt.
Selbst die bereits beschlossene Sanierung des Theaters und freiwillige Leistungen wie kostenlose Schülerbeförderung, Gratis-Mittagessen für bedürftige Kinder, kostenlose Museen oder Begrüßungsgeld für Neugeborene stehen wieder auf der Kippe. Dass der Zusammenhang mit der VW-Krise nicht nur zeitlich ist, will die Stadtspitze mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht kommentieren. VW selbst äußerte sich auf Anfrage nicht dazu.
Rund drei Milliarden Euro Gewerbesteuer führte Volkswagen im Jahr 2012 dem NDR zufolge an deutsche Kommunen ab. In sechs der zehn Standorte ist Volkswagen mit Abstand der größte Arbeitgeber. Die Gewerbesteuer ist die wichtigste Einnahmequelle der Städte. Am VW-Stammsitz Wolfsburg mit etwa 60.000 Beschäftigten machte sie 2012 fast 70 Prozent der gesamten Einnahmen aus. Die Einnahmen schwankten in der Vergangenheit erheblich - 2012 kassierte die Autostadt mehr als 400 Millionen Euro, zwei Jahre später vergleichsweise geringe 275 Millionen Euro.
Der Braunschweiger Zeitung sagte Gerhard Lippert vom Bund der Steuerzahler Niedersachsen und Bremen, dass dies große Risiken berge, weil Wolfsburg von einem einzigen Steuerzahler abhängig sei. Generell gelte, dass sich Städte wie Wolfsburg, aber auch Braunschweig und Salzgitter (je 7.000 VW-Mitarbeiter), nicht so stark auf die Gewerbesteuer-Einnahmen verlassen sollten. „Ich hoffe, dass die genannten Städte mit Blick auf den Abgas-Skandal bei VW Rücklagen gebildet haben“, sagte Lippert.
In Zwickau (7.900 VW-Mitarbeiter) rechnete man zunächst für 2015 mit Einnahmen aus der Gewerbesteuer in Höhe von 47 Millionen Euro. Geschätzte 30 Millionen Euro davon sollen von VW stammen. Der Dieselskandal ist erst wenige Tage alt, Zwickau hat als erster Standort Konsequenzen gezogen und die Prognose um zehn Millionen Euro nach unten korrigiert. Auch in Chemnitz, Sitz des Motorenwerkes, rechnet man mit einem Minus von zehn Millionen Euro in diesem Jahr. Braunschweig hat die Haushaltsplanung für 2016 vorerst eingestellt, um die weitere Entwicklung abzuwarten.
Der Automobilbau hat in Zwickau eine lange Tradition. Die August Horch Automobilwerke GmbH wurde am 16. Juli 1909 ins Handelsregister der Stadt eingetragen und ein Jahr später in Audi Automobilwerke GmbH umbenannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden statt der Nobelkarossen von Horch und Audi der „Plastebomber“ Trabant im Werk Sachsenring gebaut.
Am 21. Mai 1990 verließ der erste in der DDR montierte VW Polo die Hallen des damaligen IFA-Kombinates PKW. Kurz darauf legten Bundeskanzler Helmut Kohl und Carl H. Hahn, Vorstandsvorsitzender von Volkswagen, den Grundstein für eine neue Automobilfabrik.
Es ist der Beginn einer Erfolgsgeschichte. Ferdinand Piëch ist Ehrenbürger der Stadt und Honorarprofessor an der Westsächsischen Hochschule. Die Oberbürgermeisterin holte ihren Dienstwagen, einen Golf Variant, persönlich im Werk ab, das sich inzwischen auf 1,8 Quadratkilometer erstreckt (entspricht etwa der Fläche des Fürstentums Monaco) und noch erweitert werden soll. Vor wenigen Wochen feierten dort 60.000 Menschen das 25-jährige Bestehen der Volkswagen Sachsen GmbH, zu der mittlerweile auch das Motorenwerk in Chemnitz und die Gläserne Manufaktur in Dresden sowie ein Bildungsinstitut in Zwickau gehören. Dieses Jahr sollten eigentlich erstmals mehr als 300.000 Autos in Zwickau vom Band laufen.
Mehr als 10.000 Beschäftigte zählt VW Sachsen, ein Tochterunternehmen der Volkswagen AG. Zwickau verzeichnete in den vergangenen Jahren teilweise das dreifache Pro-Kopf-Aufkommen an Gewerbesteuer als der sächsische Durchschnitt. Mit den VW-Millionen investierte man in zahlreiche Großprojekte, sanierte unter anderem das Konservatorium, eine Stadtbibliothek, Schulen und Kindertagestätten, baute eine neue Schwimmhalle und derzeit ein neues Fußballstadion für 21 Millionen Euro.
Die Kehrseite ist die extreme Abhängigkeit vom Autobauer. „Wenn VW hustet, hat die ganze Region eine Erkältung“, sagte der Zwickauer Bundestagsabgeordnete Carsten Körber (CDU). Das Chemnitzer Automotive Institute (Cati) rechnet schon jetzt damit, dass die Krise die Region nicht nur kurzfristig, sondern mindestens zwei oder drei Jahre lang vor erhebliche Herausforderungen stellen wird. Die VW-Diesel-Verkaufszahlen seien auf Online-Plattformen in den vergangenen Tagen um 15 Prozent zurückgegangen. Die Zulieferindustrie, die rund 25.000 Menschen in Sachsen beschäftigt, habe zwar bis Ende des Jahres gut gefüllte Auftragsbücher, werde aber ab 2016 ebenfalls in Probleme geraten, sagte Cati-Direktoriumsmitglied Werner Olle der Regionalzeitung Freie Presse. Das Amt für Finanzen der Stadt Zwickau rechnet deshalb für 2016 mit weiteren 15 Millionen Euro Gewerbesteuerverlusten.
Inklusive Zulieferindustrie, Handel und Service hängen in der Region mehr als 40.000 Jobs direkt von VW ab, rechnet der Autobauer selbst hoch. Zumindest bei VW selbst blieb die Mitarbeiterzahl in den Krisenjahren 2002 bis 2004 und 2008 bis 2010 stabil.
Die beiden Freibäder, die Zwickau vor mehr als zehn Jahren schließen musste, werden nun von Fördervereinen betrieben. „Größere Reparaturen können wir uns nicht leisten, wir fahren auf Verschleiß“, sagt ein Fördervereinsmitglied des 04-Bades. Für die Stadt Zwickau mit ihren 91.000 Einwohnern bedeuten 25 Millionen Euro (2015 plus 2016) weniger Einnahmen als geplant tiefe Einschnitte. Finanzpläne und Investitionsvorhaben werden Makulatur. Der zurückgetretene VW-Boss Martin Winterkorn hatte übrigens allein in den beiden vorangegangenen Jahren mindestens 30,9 Millionen Euro verdient.
Update: Die Haushaltssperre hat die Stadt Zwickau drei Monate nach dem Erscheinen dieses Artikels wieder aufgehoben.
Aufmacherbild: Im Volkswagenwerk Zwickau werden täglich 1.350 Fahrzeuge produziert; Foto: Ralph Köhler/Propicture