Was du über Atomwaffen weißt, stimmt wahrscheinlich nicht
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Interview: Was du über Atomwaffen weißt, stimmt wahrscheinlich nicht

Kuba-Krise, nukleare Abschreckung, Japans Kapitulation - unser Denken über Atomwaffen ist von Mythen geprägt, aber nicht von Fakten, behauptet der Historiker Ward Wilson. Und hat ein paar sehr gute Argumente dafür.

Profilbild von Ein Interview von Rico Grimm

Ward Wilson hatte mit seinem Buch „Five Myths about Nuclear Weapons“ in Fachkreisen für Debatten gesorgt. Denn darin versucht der US-Amerikaner gängiges Wissen über Atomwaffen zu widerlegen bzw. eine differenzierteren, genaueren Blick auf das Thema zu gewinnen. Das Buch hat grundlegend verändert, wie ich über Atomwaffen denke. Ward Wilson setzt sich für nukleare Abrüstung ein, aktuell im Rahmen der Initiative “Realist Revolt”.

Warum behandelt die Menschheit 70 Jahre nach den Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki Atomwaffen noch immer als eine Art „Superwaffe“?

Wir sehen Kernwaffen als Machtsymbole. Wir denken, die Angst, die sie verbreiten, zu unserem politischen Vorteil nutzen zu können. Doch das ist meiner Ansicht nach nicht richtig.

Im Ersten Weltkrieg waren auch Schlachtschiffe Superwaffen. Sie repräsentierten die Macht eines Staates und wurden geschickt, um kleine Länder einzuschüchtern. Um zu sehen, wer vorne lag, wurden die Schlachtschiffe gezählt. Sie waren das Symbol für die nationale Stärke. Aber es gab da ein Problem. Die Schlachtschiffe aus dem Ersten Weltkrieg erwiesen sich auf Dauer nicht als gute Waffen. Denn als im Zweiten Weltkrieg Sturzkampfbomber eingesetzt wurden, waren die Schlachtschiffe im Wesentlichen nutzlos. Ich glaube, an dieser Stelle sind wir auch mit den Atomwaffen.

Sie meinen also, dass Kernwaffen nicht so mächtig sind, wie wir denken. Aber warum kapitulierte dann Japan 1945? 66 Städte waren bereits bombardiert worden. Die japanische Marine außer Gefecht gesetzt und Japans Kampfpiloten flogen Kamikaze-Attacken. Das Land kämpfte einfach immer weiter - bis die USA schließlich zwei Atombomben auf Japan warfen. Wie können Sie sagen, dass Atomwaffen nicht so mächtig sind, wie wir denken. Sie haben offensichtlich diese besondere Kraft, einen Krieg zu beenden, ein ganzes Volk zur Kapitulation zu zwingen.

Der Historiker Ward Wilson

Der Historiker Ward Wilson privat

Es gibt vier Gründe, warum es unwahrscheinlich ist, dass die Atombombenabwürfe den Krieg beendeten: der zeitliche Ablauf, der Maßstab, die Reaktion und die Bedeutung. Ich beginne mit dem letzten, der strategischen Bedeutung. Denn das ist das stärkste Argument.

Sie haben selbst gesagt, dass in Japan bereits 66 Städte mit konventionellen Bomben angegriffen worden waren, als die Atombomben fielen. Wenn die Japaner wegen der Bombardierung der Städte aufgeben wollten, warum haben sie nicht wegen dieser 66 Angriffe kapituliert? Der Grund dafür ist klar: Weil kein Krieg jemals mit der Zerstörung einer Stadt beendet wurde. Das war schon zu Zeiten Dschingis Khans im 13. Jahrhundert so.

Drei Tage lang tun die Japaner nichts. Erst am Mittwoch erwägen sie, den Obersten Kriegsrat einzuberufen. Aber sie entscheiden sich dagegen. Und plötzlich am Donnerstag, zum ersten Mal in 14 Jahren Krieg, beraten sie über Kapitulation. Was hat sie dazu gebracht?Schauen Sie auf den zeitlichen Ablauf: Am Montag, dem 6. August 1945, um 8.15 Uhr fällt die US-Atombombe auf Hiroshima.

Es kann nicht mit dem Atombombenabwurf auf Nagasaki am 9. August 1945 zusammenhängen. Denn die Nachricht aus Nagasaki trifft erst ein, als sie schon zusammen sitzen und über die Kapitulation beraten. Wahrscheinlich ist auch nicht Hiroshima der Grund, denn der Atombombenabwurf dort war drei Tage zuvor. Bei solch einem Ereignis kommt die Reaktion in der Regel schneller.

Aber um Mitternacht war die sowjetische Kriegserklärung gekommen, mit anderen Worten, rund zehn Stunden vor dem Treffen und der Beratung über die Kapitulation. Allein wegen des zeitlichen Ablaufs sieht es so aus, als ob die Sowjets der Grund dafür waren.

In jedem Krieg, in dem eine Großmacht plötzlich ihre Neutralität aufgibt und in die Kämpfe eingreift, ändert sich das Machtgefüge. Dann überprüfen alle anderen Beteiligten ihre strategischen Ziele und die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen. Auch im Konflikt mit Japan können wir angesichts der geschichtlichen Erfahrung davon ausgehen, dass der Eintritt der Sowjetunion in den Krieg der Grund für die japanische Kapitulation war – und eben nicht die Zerstörung der Städte.

Japans Außenminister Mamoru Shigemitsu unterzeichnet am 2. September 1945 die Kapitulationsurkunde. Das Land kapitulierte aber nicht wegen der Atombombenabwürfe.

Japans Außenminister Mamoru Shigemitsu unterzeichnet am 2. September 1945 die Kapitulationsurkunde. Das Land kapitulierte aber nicht wegen der Atombombenabwürfe. Foto: Wikipedia - Naval Historical Center Photo # SC 213700 - gemeinfrei

Zwei weitere Dinge gilt es zu beachten: Die Auswirkung der Angriffe mit Atombomben war nicht viel größer als das, was Japan den ganzen Sommer lang erlebt hatte. In Zahlen: Berücksichtigt man alle Menschen, die bei den 66 Bombenangriffen im Sommer 1945 in Japan sofort getötet wurden, liegt Hiroshima nur an zweiter Stelle. Ein Angriff auf Tokio mit herkömmlichen Bomben hatte mehr Todesopfer gefordert. Gemessen an der zerstörten Fläche ist Hiroshima auf Platz 6, gemessen am Prozentsatz an zerstörtem Stadtgebiet auf Platz 14. Was der damalige japanische Kriegsminister sagte, war absolut richtig: dass die Atombombenabwürfe nicht bedrohlicher waren als die Brandbombenanschläge während des Sommers.

Wenn man Tagebücher und Berichte liest oder Briefe, bekommt man den Eindruck, dass die sowjetische Intervention die Japaner wirklich schockierte, nicht aber die Bombardierung von Hiroshima. Deshalb gehe ich davon aus, dass der sowjetische Kriegseintritt die Kapitulation Japans verursacht hat. Allerdings kamen dann die Amerikaner ins Spiel, die sagten: Wow, es muss unsere Bombe gewesen sein.

Aber nicht nur die Amerikaner meldeten sich zu Wort. Der japanische Kaiser gestand die Niederlage mit den folgenden Worten ein: „Darüber hinaus hat der Feind begonnen, eine neue und grausamste Bombe einzusetzen, deren Zerstörungskraft unberechenbar ist, wobei diese viele unschuldige Leben gefordert hat.“ Er nahm explizit Bezug auf die Atombombe, als er die Gründe für die Kapitulation Japans nannte. Wie geht das mit Ihrer Theorie zusammen?

Dabei ist interessant, dass es zwei Ansprachen des Tenno gab: eine an die Bürger Japans, die am 15. August im Radio angekündigt wurde, und eine an die japanischen Soldaten und Matrosen, die über die üblichen militärischen Kanäle am 17. August verbreitet wurde. Jede wurde unter dem Titel „Besondere Lehren des Kaisers“ verbreitet. In der ersten an die Zivilisten sprach der Tenno über die Bombardierung und erwähnte die Sowjets nicht. In der zweiten an die Soldaten sprach er über die Sowjets und erwähnte die Atombombe nicht.

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Welche ist die richtige? Verrät diejenige an die Zivilbevölkerung oder diejenige an die Soldaten seine innere Befindlichkeit? Oder keine von beiden? Als Staatsführer ist er in der Pflicht, das herauszustellen, was die Menschen motiviert, das aus seiner Sicht Beste für Japan zu tun. Zivilisten sind von der Bombardierung betroffen – deshalb wird die plötzliche Kapitulation mit den Bomben begründet. Soldaten kümmern sich um die militärischen Kräfteverhältnisse – deshalb sind die militärischen Kräfteverhältnisse ein Thema. Auf diese Weise überzeugt man jede Gruppe, das zu tun, was man für richtig hält, nämlich zu kapitulieren.

Ich verstehe Ihren Standpunkt, wenn es um die Atombomben geht, die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Aber in den Folgejahren entwickelten die USA und die Sowjetunion Wasserstoffbomben. Im Vergleich mit diesen Bomben ist die Hiroshima-Bombe sehr, sehr klein. H-Bomben sind größer und 100-mal stärker. Hat die Bevölkerung nicht das Recht, diesen Bomben einen speziellen Platz einzuräumen und in Furcht vor ihnen zu leben?

Um das klarzustellen: Nach meiner Ansicht ist die Angst vor Atomwaffen begründet. Es sind außergewöhnlich gefährliche Waffen.

Wasserstoffbomben sind größer als die Hiroshima-Bombe. Das stimmt. Aber vermutlich hat uns die Art und Weise, wie wir die Größe messen, ein wenig in die Irre geführt. Die Sprengkraft einer Atombombe messen Ingenieure, indem sie sich anschauen, wie viel TNT sie bräuchten, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die Hiroshima-Bombe entspricht so der Sprengkraft von 13 Kilotonnen TNT. Rechnerisch hat eine Standard-Wasserstoffbombe eine Sprengkraft, die 62,5-mal größer ist als jene der Hiroshima-Bombe. Man könnte also erwarten, dass auch die zerstörerische Kraft 62,5-mal größer ist. Aber das ist nicht ganz richtig.

Die Atombombe von Hiroshima mit dem zynischen Namen "Little Boy".

Die Atombombe von Hiroshima mit dem zynischen Namen “Little Boy”. Foto: Wikipedia - gemeinfrei

Schauen wir auf den sogenannten Fünf-Pfund-pro-Quadrat-Zoll-Kreis. Das ist die Fläche unter einer Atombombe, bei der auf einen Quadratzoll fünf Pfund Überdruck einwirken. Der Radius dieser Fläche beträgt für die Hiroshima-Bombe 0,8 Meilen. Der Radius für eine 1-Megatonnen-Bombe ist 4,4 Meilen und damit ungefähr sechsmal und nicht 62-mal größer.

Wir stellen uns vor, weil Atomwaffen wirklich groß sind, müssten sie auch entscheidend sein. Aber wenn Sie an Ihrem Haus etwas zu reparieren haben, gehen Sie nicht in den Laden und kaufen die größten Werkzeuge, die Sie bekommen können. Sie gehen in den Laden und wählen das richtige Werkzeug für die jeweilige Aufgabe aus. Werkzeuge sind situationsabhängig. Es kommt darauf an, welche Aufgaben sie haben.

Und das Gleiche gilt für Kriegswaffen. Die größte Bombe muss nicht unbedingt die richtige Bombe für einen bestimmten Fall sein. Im Laufe der Zeit haben Militärstrategen, die die militärische Planung machen und über den Einsatz von Atombomben nachdenken, die Bombenbauer gebeten, kleinere Bomben mit geringerer Sprengkraft zu entwerfen. In den frühen sechziger Jahren war die durchschnittliche Sprengkraft ungefähr eine Megatonne, eine Million Tonnen TNT. Heute sind es im US-Arsenal etwa 325 Kilotonnen. Warum machen wir unsere Waffen kleiner? Das macht keinen Sinn, solange wir glauben, dass groß immer besser ist.

Aber selbst wenn die Größe nicht entscheidend ist, können diese Waffen große Zerstörungen verursachen. Wenn man eine Atombombe auf eine Stadt wirft, ist diese Stadt danach zerstört. Macht das nicht den Wert aus? Möchten Militärstrategen das nicht erreichen?

Noch einmal: Wenn man sich die Geschichte anschaut, wurde kein einziger Krieg dadurch gewonnen, dass man Städte bombardiert. Die Deutschen bombardierten Coventry, und Churchill stand nicht im Parlament auf und sagte, wir müssen jetzt kapitulieren, weil zu viele Zivilisten sterben. Die Amerikaner und die Briten bombardierten Deutschland, und als Folge der Städte-Bombardierung starben mehr Zivilisten in Deutschland als in Japan, aber die Deutschen haben nicht kapituliert. Stalingrad wurde zum Teil durch Artilleriefeuer, zum Teil durch Bomben zerstört, aber die Russen kapitulierten nicht.


Dieser Text ist Teil des Zusammenhangs: „Was du über Atomwaffen wissen musst“


In Friedenszeiten zählt das Leben von Zivilisten viel. Wir interessieren uns dafür, wenn ein Flugzeug abstürzt und hundert Menschen getötet werden. Aber in Kriegszeiten zählt das Leben von Zivilisten nicht so viel. Um einen Krieg zu gewinnen, zerstört man die Armeen der anderen, nicht seine Städte. Das ist wie mit Unbeteiligten in einer Schießerei. Der Gewinner wird nicht danach bestimmt, wie viele Zuschauer jeder erschießt.

Ich wurde 1986 in der DDR, einem Teil des Ostblocks, geboren. Im selben Jahr veröffentlichte John Lewis Gaddis seinen Aufsatz „The Long Peace“. Sein Argument war, dass zwischen 1945 und 1986 die USA und die Sowjetunion keinen Krieg führten wegen der Atomwaffen. Sie hätten zu große Angst vor dem Krieg gehabt.

Dazu gibt es zwei Dinge zu sagen. Einmal, dass nukleare Abschreckung ohne Frage für einige Zeit funktioniert. Sie wird für einen gewissen Zeitraum andere Länder davon abhalten, Sie anzugreifen. Es steht aber auch außer Frage, dass nukleare Abschreckung fehlschlagen kann, fehlgeschlagen ist und fehlschlagen wird.

Wenn die nukleare Abschreckung so perfekt funktionieren würde, wie die Befürworter des langen Friedens beanspruchen, warum blockierte Stalin dann Berlin im Jahr 1948, als die USA ein Atommonopol hatten? Wenn Abschreckung perfekt funktionieren würde, warum sind dann die Chinesen in den Koreakrieg eingetreten, nachdem die Amerikaner atomwaffenfähige Bomber aus den USA nach Guam und damit näher an Korea heran verlegt hatten und diese Nachricht absichtlich an die Presse durchsickern ließen? Warum wurden die Chinesen nicht davon abgeschreckt?

Abgebildet ist die Reichweite der sowjetischen Raketen auf Kuba nach Einschätzung der CIA, 1962, auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise.

Abgebildet ist die Reichweite der sowjetischen Raketen auf Kuba nach Einschätzung der CIA, 1962, auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise. Foto: Wikipedia - CIA - The John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston - gemeinfrei

Warum stationierten die Russen Raketen in Kuba? Auch Präsident Kennedy wusste, wenn er Kuba blockiert, riskiert er, dass der Konflikt außer Kontrolle gerät. Und er schätzte diese Gefahr absolut richtig ein – in der Kuba-Krise schlitterten wir um Haaresbreite an einer vollständigen Zerstörung vorbei. Und doch entschied sich Kennedy, weiterzumachen.

Wollen Sie damit sagen, dass Kennedy mit der Kuba-Blockade die Krise eskalierte?

Ja.

Woher wissen Sie das alles? Sind Sie ein Historiker oder haben Sie im Militär gedient?

Ich bin studierter Historiker. Aber das Meiste weiß ich, weil ich mich 30 Jahre lang mit Fragen der Nuklearwaffen beschäftigt habe. Im Jahr 1981 bekam ich den Auftrag, einen unvoreingenommenen Führer zum Thema Kernwaffen zu schreiben. Die Frage trieb mich um: Sind Atomwaffen ein moralisches Problem oder ein militärisches oder ein politisches? Von den Spezialisten bekam ich keine Antwort. Ich suchte weiter. Ich bin stur, und so las ich 30 Jahre lang nachts und am Wochenende weiter. Um schließlich zu dem Schluss zu kommen: Unsere Haltung zu Kernwaffen ist wesentlich von der Furcht des Kalten Krieges geprägt. Und keiner trifft seine besten Entscheidungen, wenn er von Angst getrieben ist.

Was denken Sie: Sind sie eine moralische Frage, eine militärische Frage - welche Art von Problem sind Kernwaffen?

Sie können sie von einem moralischen Standpunkt aus betrachten. Dann sind sie eine Gefahr und können für ein böses Ende sorgen. Aus militärischer Sicht sind sie im Wesentlichen Kriegswaffen. Aus politischer Sicht werden sie meist zur Abschreckung eingesetzt, als Drohung und Gegendrohung, um den Einflussbereich auszuweiten.

Aber eigentlich zählt einzig und allein, ob Atomwaffen nützlich sind. Wenn sie für Sicherheit sorgen wie keine andere Waffe und diese Sicherheit nicht von einer großen Gefahr überlagert wird, dann müssen wir sie behalten. Wenn sie allerdings keine sonderlich nützlichen Waffen sind, plump, roh und schlecht zu platzieren wegen der radioaktiven Strahlung – wer weiß schon, wo der Wind die radioaktive Strahlung hintreibt – warum sollte man sie behalten? Generell halten wir nicht an einer Technologie fest, die gefährlich und nicht sehr nützlich ist.

Habe ich Sie richtig verstanden: Die Menschheit wird eines Tages freiwillig auf Atomwaffen verzichten, weil sie nicht mehr nützlich sind?

Der Grund, warum wir uns nicht schon jetzt von diesen unmoralischen Waffen trennen, sind Menschen, meistens in Regierungen, die überzeugt sind: Ja, sie sind unmoralisch, aber sie sind auch notwendig. Sie haben einen Nutzen, der nicht auf andere Weise zu erzielen ist. Deshalb sucht man nach Gründen, warum sie notwendig sind. Doch ihr Nutzen ist so gering. Und die Gefahr ist so groß, dass es keinen Sinn ergibt.

Zur Vorbereitung dieser Woche über Atomwaffen habe ich auch mit Mitgliedern von Krautreporter gesprochen. Ein Mitglied beschrieb ihre Zukunft so: „Die werden uns noch lange, lange erhalten bleiben. Ohne Armageddon schafft die keiner ab.“ „Armageddon“. Dieses Wort stammt aus der Bibel. Wie kommt es, dass die Menschen derzeit Atomwaffen nicht wie ein Werkzeug, wie eine normale Waffe behandeln? Warum haben sie ihnen diesen quasi-religiösen Status gegeben?

Seit dem Moment, als der erste Atomtest in der Wüste von New Mexico stattfand, gibt es auffällig viele Wissenschaftler – eigentlich gewöhnt an den Umgang mit Fakten, Theorien und Beweisen – die auf einmal von Gott und der Apokalypse sprechen. „Nun bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welt …“

Am 16. Juli 1945 testeten die USA unter dem Namen "Trinity Test" zum ersten Mal eine Atombombe.

Am 16. Juli 1945 testeten die USA unter dem Namen “Trinity Test” zum ersten Mal eine Atombombe. Foto: Wikipedia - US government photo - gemeinfrei

Oppenheimer sagte das! Der Erfinder der Bombe.

Es ist eindeutig der Fall, dass wir über Kernwaffen in unrealistischer Weise denken. Zum Beispiel: Ein Atomkrieg wäre die Apokalypse.

Es gibt Theorien über nukleare Winter und Mutation und so weiter. Und sie könnten sich bewahrheiten. Oder auch nicht. Es sind Theorien, Spekulationen über ein Ereignis. Aber es gibt keine Beweise.

Aber die Theorie des nuklearen Winters oder die Szenarien, die in den frühen achtziger Jahren entwickelt wurden, besagen, wenn eine Nation eine Atomwaffe benutzt, antwortet eine andere Nation in gleicher Weise und so weiter und so fort. Und es gibt wahrscheinlich einen unbegrenzten Atomkrieg, der in einem nuklearen Winter auf der Erde münden würde. Es scheint mir, Sie behandeln dagegen eine Atomexplosion wie jede andere Explosion.

Manchmal reden wir über den nuklearen Winter, als ob er schon bewiesen wäre. Meine Ausbildung zum Historiker hat mich gelehrt, Dingen so lange skeptisch gegenüber zu stehen, bis ich mindestens drei Quellen dafür gefunden habe. Ich bin nicht sicher, ob es den nuklearen Winter gibt.

Aber eine jüngere Studie beschreibt das Szenario eines begrenzten Atomkriegs zwischen Indien und Pakistan. In diesem Szenario wird davon ausgegangen, dass die Temperaturwerte auf dem gesamten Planeten fallen würden, die Ernte schlecht wäre und Hungersnöte beginnen würden. Das wäre ein echtes biblisches Szenario.

Biblische Szenarien liegen per Definition in Gottes Hand. Bei einer Apokalypse kannst du nichts anderes machen, als kräftig zu beten. Aber ich glaube nicht, dass wir in dieser Lage sind. Ich glaube nicht, dass wir bei Atomwaffen nur kräftig beten können. Meiner Ansicht nach kann man praktische Schritte ergreifen, um das Problem zu meistern. Ich teile die Ansicht von JFK, der in seiner Friedensrede sagte, dass Atomwaffen ein von Menschen verursachtes Problem sind. Und daher kann es von uns gelöst werden.

In der Diskussion mit Krautreporter-Mitgliedern war die Antwort auf den Armageddon-Kommentar auch sehr interessant: „Vielleicht lernen wir ja vorher doch noch, dass Reden, Zuhören, Ausreden lassen, Verstehen, Einigen, Vertrauen, Helfen, Unterstützen auch mögliche Varianten sind.“ Kann sich die Menschheit ändern?

Ich gehe davon aus, dass sich die Menschheit ändern kann. Die Schwierigkeit ist, dass die Menschheit sich nur sehr langsam ändert. Die Gefahr eines Atomkriegs besteht aber hier und jetzt. Um etwas bei den Atomwaffen zu verändern, möchte ich nicht darauf warten, bis sich der Charakter der Menschen geändert hat. Weil ich hohen Respekt vor der Torheit der Menschen habe. Wer in die Geschichte schaut, findet immer wieder, dass Menschen Fehler machen und närrische Dinge tun. Deshalb halte ich es für wichtig, mit einer realistischen Einschätzung der menschlichen Fehlerhaftigkeit zu kalkulieren. Wir sind nicht perfekt – die atomare Abschreckung geht aber davon aus. Wenn wir uns weiterhin auf schnelle Renditen verlassen, wird jemand Fehler machen, wird jemand die Geduld verlieren, wird jemand wütend werden – und wir haben ein ernstes Problem.

Wenn wir mit Atomwaffen wie mit einem Problem umgehen, das wir lösen können, dann müssen wir auf das Jahr 2009 blicken. Damals stand US-Präsident Barack Obama in Prag und entwickelte den Gedanken einer Welt ohne Atomwaffen. Danach ließ er alle diplomatischen Muskeln spielen, um daraus ein globales Thema zu machen, damit die Vision Realität wird. Er ist gescheitert. Wenn nicht einmal der US-Präsident ein atomwaffenfreies Zeitalter einläuten kann, wer dann?

Das Problem der Anti-Atom-Bewegung und anderer ist, dass sie nicht versucht haben, Atomwaffen zu entwerten. Ihre Befürworter halten sie für große Schöpfer, die Sicherheit geben, Sicherheit unter nuklearen Schirmen oder was auch immer. Sie glauben, dass sie ihnen Status und Bedeutung in der Welt verleihen, da es nur wenigen Nationen erlaubt ist, Atomwaffen zu haben. Als hätten Atomwaffen magische Kräfte. Wenn Sie einem solchen Zauber verfallen sind, ist Abrüstung unmöglich und Proliferation unvermeidlich. Wer will diesen Zauber schon aufgeben? Er wäre ein Narr, dies zu tun.

Aber wenn Atomwaffen eine plumpe, übermäßig große, 70 Jahre alte Technologie sind, die seit 40 Jahren überholt ist, dann ändert sich das Problem. Wenn die USA sagen, wir glauben wirklich, dass Atomwaffen dumm und veraltet sind, würde das das gesamte politische Spielfeld verändern. Die Waffenarsenale der USA und der Sowjetunion wurden drastisch verkleinert. Wir müssen die Art und Weise ändern, wie wir über diese Waffen denken. Und das fehlte Obamas Vorstoß: die Fähigkeit, die Waffen als plump und nicht als fantastisch zu sehen.


Illustrationen: Veronika Neubauer. Aufmacher: US-Regierung
Übersetzung: Vera Fröhlich. Das Interview wurde nicht autorisiert.

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