„Du triffst also die Bösen.“ Diesen Satz hörte ich mehr als einmal, als ich Freunden davon erzählte, dass ich eine Verabredung mit der Kanzlei Waldorf Frommer in München hatte. Wer den Namen nicht kennt, lebt wahrscheinlich im süßen Unwissen derer, die noch nie einen Brief wegen illegalen Filesharings erhalten haben, und die auch niemanden kennen, dem das passiert ist.
Für mich trifft beides nicht zu. In meinem Umfeld haben mehrere Menschen Abmahnungen von Kanzleien wie Waldorf Frommer bekommen, in denen stand, dass sie hunderte Euro zahlen sollten. Jedes Mal fühlte sich die Forderung im Vergleich zum Vergehen überzogen und ungerecht an.
Beispiel 1: Eine Freundin klickte neulich kurz einen Stream im Internet an. Als ihr klar wurde, dass es sich um eine Filesharing-Seite handelte, war es schon zu spät. Für die wenigen Minuten soll sie jetzt mehr als 800 Euro zahlen.
Beispiel 2: Ein syrischer Flüchtling, dem ich bei einer Behörde übersetzen half, hatte auf seinem Handy einen Film angeschaut, den er per Torrent heruntergeladen hatte. Er wusste nichts von Abmahnungen, woher auch? Deutschland ist das einzige Land auf der Welt, das illegales Filesharing bei Privatpersonen so stark verfolgt.
Beispiel 3: Ich selbst kam vor zwei Jahren aus dem Urlaub und fand ein mehrseitiges Abmahnschreiben im Briefkasten. In der Zeit meiner Abwesenheit war über meinen Internetanschluss eine US-Serie geteilt worden. Die „Täter“ waren Freunde, ebenfalls aus dem Ausland, denen wir unsere Wohnung überlassen hatten. Die Forderung ging natürlich gegen mich.
Einen Abmahnbrief zu bekommen, ist keine schöne Erfahrung. Da ist nicht nur der Schreck darüber, dass man auf einmal Post von einem Anwalt im Briefkasten hat, in der von „illegaler Verbreitung“ und „Rechtsverfolgung“ die Rede ist. Da ist auch die sehr unangenehme Erkenntnis, von einer fremden Organisation ausgespäht worden zu sein, die mit Segen des Staates in deine Privatsphäre hineinlangen darf. Das fühlt sich nicht gut an, egal, wie gerecht oder ungerecht man es findet, dass Filesharing geahndet wird.
Es ist also keine Überraschung, dass Waldorf Frommer bei vielen nicht gerade beliebt ist. Wenn man im Internet den Namen googelt, kommen mehr als 150.000 Ergebnisse, darunter immer wieder Texte, in denen Menschen über den „Abmahnwahn“ klagen. Meine Freunde reagierten bei Erwähnung des Namens, als wäre von Lord Voldemort persönlich die Rede. Auch ich war über meine Abmahnung nicht glücklich, zumal ich es ja wirklich nicht gewesen war. Aber „das Böse“? Ich wollte wissen, wer die Menschen waren, die hinter diesen Schreiben steckten, und ob das System wirklich so ungerecht war. Also fuhr ich nach München.
Warum zu Waldorf Frommer? Es ist nicht die einzige Kanzlei, die in Deutschland wegen illegalem Filesharing abmahnt. Aber sie verschickt wahrscheinlich die meisten dieser Briefe. Genaue Zahlen sind nirgends zu bekommen, nur Schätzungen. Die schwanken, je nachdem, wen man fragt, zwischen mehreren Zehntausend bis zu 160.000 im Jahr (realistischer ist wohl die erste Zahl). Die Kanzlei selbst gibt keine Zahlen heraus. Klar ist, dass zu den Klienten von Waldorf Frommer sehr große Namen in der Musik-, Verlags- und Filmbranche zählen. Constantin Films. Sony Music. Random House. Twentieth Century Fox. Um nur wenige zu nennen.
Wer im Internet urheberrechtlich geschützte Musik, Filme oder Bücher teilt (oder den Eindruck erweckt, das getan zu haben), hört mit großer Wahrscheinlichkeit von Waldorf Frommer. Fehler sind dabei sehr selten. Die Ermittlungssystematik der Münchner funktioniert, das haben unabhängige Sachverständige wieder und wieder bestätigt. Wer einen Brief von ihnen bekommt, in dessen Netz ist etwas passiert.
Voldemorts Unterschlupf oder helle Anwaltskanzlei?
Die Kanzlei hat ihren Sitz in der Nähe der Theresienwiese. Also dort, wo das Oktoberfest stattfindet. Das Haus ist ein hübscher Altbau. Der Name steht auf einem großen, aber dezenten Metallschild. Als ich davor stand, ging mir die Frage durch den Kopf, ob die Anwälte während der Festtage nach einem typischen Tag voller Abmahnungen wohl auf die Wiesn gingen. Wahrscheinlich. Warum auch nicht? Energisch wischte ich das Voldemort-Bild in meinem Kopf zur Seite. Ich hatte ja bereits E-Mails ausgetauscht mit Björn Frommer, dem geschäftsführenden Gesellschafter der Kanzlei. Er war sehr nett gewesen.
Drinnen musste ich eine Weile warten. Die Frau am Empfang, auch nett, machte mir einen Milchkaffee. Leicht knarrendes, helles Fischgrätenparket. Weiße Altbautüren. Von der Decke hingen viele große, leuchtende Tropfen. Ich wunderte mich darüber, dass das Büro, in dem laut Internetseite über 50 Anwälte arbeiteten, recht klein wirkte. Während meiner Wartezeit las ich in Brand Eins einen sehr guten Text darüber, wie Künstler in der Musikbranche heutzutage Geld verdienen. Darin stand, dass Pharell Williams für seinen Song „Happy“ von dem Internet-Radio Pandora nur 2.700 Dollar bekommen hatte. Obwohl das Lied 43 Millionen Mal auf Pandora gelaufen war.
Schließlich wurde ich in den vierten Stock des Gebäudes gebeten, und mir wurde klar, dass die Kanzlei das ganze Haus einnahm. Ich starrte auf ein lilafarbenes und graues Rechteck an der Wand des kleinen Konferenzraums und versuchte zu verstehen, ob es sich um Kunst handelte oder um raffiniertes Büromobiliar.
Dann kam Björn Frommer. Er sah aus, wie man sich einen in München arbeitenden Anwalt vorstellt. Ein bisschen elegant, ein bisschen leger, ein bisschen angegraut (er ist 44 Jahre alt). Weißes, teuer wirkendes Hemd. Einnehmendes Lächeln. Er entschuldigte sich für die Verspätung und fing sofort an zu reden. Mit Verve sprach er über das Ausmaß der Kriminalität im Netz, das ganz große Bild. Es dauerte ein wenig, bis wir auch konkret über Abmahnungen zu reden begannen. Dann aber wurde es ein langes Gespräch.
Dabei bewies Frommer, dass er nicht zufällig in der Chefetage seiner Kanzlei sitzt. Er zeigte, was ein guter Anwalt kann: In knapp zweieinhalb Stunden schaffte er es, das Bild, das viele Verbraucherschützer und Abmahngegner von seiner Firma zeichnen - die übermächtige Anwaltskrake, die den kleinen Bürger abzockt - zumindest fragwürdig wirken zu lassen.
Björn Frommer - der Abmahnanwalt Foto: Sebastian Gabriel
Frommer, der das Pathos manchmal etwas dicker aufträgt, sagte, die Arbeit seiner Kanzlei sei wie die eines Deichgrafen, der verhindert, dass die Risse im Damm so groß werden, dass er bricht. Der Damm ist in diesem Bild das Urheberrecht. Das Internet die Flut, die dagegen drängt. Die Leute, sagte er, würden ja nicht weniger Musik hören, lesen oder Filme schauen als früher. Gerade durch die Popularität amerikanischer Serien sei der Konsum geradezu durch die Decke gegangen. Sie seien nur eben leider oft nicht bereit, dafür zu zahlen.
„Infrage zu stellen, ob Rechtsverfolgung angesichts der massenhaften Verstöße noch Sinn macht, hieße die totale Kapitulation. Dann können die Kreativen einpacken. Wir können uns durch das Internet nicht an einen Nullpunkt zurückdrängen lassen. So lange wir in einer Gesellschaft leben, die davon abhängig ist, dass Waren gekauft werden, müssen sich auch alle an die Regeln halten.“
Die Abmahnkosten sprengen gefühlt jede Verhältnismäßigkeit
Das klingt einfach und überzeugend, dagegen lässt sich schlecht etwas sagen. Wenn einer CDs im Supermarkt klaut und dabei erwischt wird, wundert sich keiner darüber, dass er dafür eine Geldstrafe zahlen soll. Man gibt nicht dem Ladendetektiv die Schuld, sondern dem Dieb. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund dafür, warum das im Netz anders laufen sollte. Aber natürlich besteht trotzdem ein entscheidender Unterschied, denn der Ladendieb klaut auf jeden Fall mit Vorsatz. Doch nicht jeder, der im Netz urheberrechtlich geschütztes Material verteilt, ist sich dessen bewusst. Der CD-Dieb muss für sein Vergehen auch nicht sofort 800 Euro oder mehr bezahlen.
Die Begründung der Rechteinhaber und Abmahner für die hohen Strafen lautet, dass einer, der im Netz einen Song teilt, viel Schlimmeres tut als ein Ladendieb. Weil er die Datei dem ganzen Internet zur Verfügung stellt, wäre sein Vergehen eher so, als würde er einen Lastwagen mit tausend CDs stehlen und sie dann an jeden verteilen, der sie möchte. Das Gesetz unterstützt diese Auffassung: Der Bundesgerichtshof hat erst im Juni diesen Jahres einen Betrag von 200 Euro pro Song bestätigt. Diese Summen sprengen aber jede Verhältnismäßigkeit, die der Verbraucher versteht. Deshalb sind die Leute so sauer. Deshalb macht sich jeder Politiker beliebt, der gegen Abmahnkanzleien wettert. Und darum nannten viele Medien das „Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken“, das im Oktober 2013 in Kraft trat und das den Streitwert bei privaten Filesharing-Fällen auf 1.000 Euro begrenzte, „Anti-Abzock-Gesetz“.
Aus dem Streitwert berechnen Kanzleien ihre Gebühren. Die Botschaft war klar, mit den Abzockern waren die Abmahnanwälte gemeint. Bei einem solchen Streitwert dürfen sie jetzt nur noch zwischen 150 und 200 Euro für ihre eigenen Kosten verlangen. Frommer sagt, dass seine Firma seitdem deutlich weniger Geld verdient.
Trotzdem sind die Forderungen im Durchschnitt nicht viel niedriger geworden. Was daran liegt, dass die Anwälte die Beträge sehr schnell angepasst haben. Der Betrag für den Schadenersatz wird seither einfach höher angesetzt.
Für den Verbraucher macht es damit fast keinen Unterschied, dass es das Gesetz gibt.
Vielleicht ist die Situation sogar schlimmer, weil die Anwälte nun häufiger vor Gericht ziehen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Erst kürzlich warf die Verbraucherzentrale Hamburg Abmahnanwälten vor, mit ihrer Arbeit „ganze Familien in den Ruin“ zu treiben. Sie forderte die Kanzleien auf, an Menschen, die zum ersten Mal ein Werk illegal teilten, nur eine Warnung zu schicken.
Die Wortwahl bei diesem Thema ist grundsätzlich heftig. Man muss wissen: Filesharer kommen aus allen Bevölkerungsschichten, nicht nur armen Haushalten. Aber für manche gehen ein paar hundert Euro an die Existenzgrenze. Auch bei anderen fände ich zumindest eine Warnung fair, bevor die Keule kommt.
Als ich Frommer das vorschlug, winkte er jedoch sofort ab. Das sei unmöglich, erklärte er, weil das Verfahren, das Verstöße ermittelt, zu teuer und aufwändig sei. Erst ermittele eine spezialisierte Firma die Rechtsverletzung für den Mandanten, ein Musikunternehmen zum Beispiel. Das koste Geld. Ebenso das Auskunftsverfahren, die Provider- und Reseller-Kosten.
Wieviel genau jeder einzelne dieser Posten ausmachte, konnte er mir nicht aufschlüsseln, weil das von Fall zu Fall abhängig sei. Ich zeigte ihm meine Abmahnung. Auch damit ging es nicht. Denn da standen nur zwei Punkte: Schadenersatz: 405 Euro. Rechtsanwaltskosten: 506 Euro (meine Abmahnung stammt noch aus Zeiten vor der Gesetzesänderung).
Auf meine Frage, ob es eine Abmahnindustrie gebe, antwortet Frommer, der Begriff sei populistisch. Man verschweige damit die hohe Zahl der Rechtsverletzungen und den enormen Schaden für die Kreativen. „Ich bin Überzeugungstäter“, sagte er fest. Die Kanzlei Waldorf Frommer führt immer wieder Musterverfahren durch, um die nach wie vor neblige Rechtslage im Urheberrecht zu klären. Auf der Internetseite steht: „Wir sehen es als unsere Aufgabe, die Rechtsprechung aktiv mitzugestalten.“ Das klingt erst mal nobel. Aber will man das bei einer Firma, die Geld damit verdient, Urheberrechtsverstöße zu verfolgen?
Das Geschäft der Gegenanwälte
„Ich habe kein Problem zu sagen, dass das, was wir machen, ein Geschäftsmodell ist“, sagte mir Frommer. „Ich empfinde den Begriff aber nicht als etwas Anrüchiges. Natürlich verdienen auch wir Geld mit unserer Arbeit.“ Dann regte er sich über die Gegenanwälte auf - die Anti-Abmahnanwälte gewissermaßen, die das Netz mit Texten und Videos vollstellen, in denen sie Hilfe gegen Kanzleien wie Waldorf Frommer versprechen.
Wenn man über eine Abmahnindustrie spreche, sagte mir Frommer kurz vor Ende unseres Gesprächs, müsse man auch die andere Seite mit einbeziehen. Denn die verdiene gut daran - besser sogar als seine Kanzlei. Weil für die Gegenanwälte der Kostendeckel nicht gilt. Die billigsten verlangen etwa hundert Euro, für die sie ein minimal modifiziertes Standardschreiben herausschicken. Die seriösen Firmen kassieren bis zu sechsmal mehr.
Das ist tatsächlich ein wenig absurd. Wenn man gerade eine Abmahnung bekommen hat und sich nervös ins Internet wirft, um nach Lösungen zu suchen, findet man sofort Anwälte, die Hilfe versprechen. Manche kaufen sogar Google-Anzeigen, in denen die Worte „Waldorf Frommer“ vorkommen, um sofort aufzutauchen, wenn jemand mehr über die Verfasser seines Abmahnschreibens wissen will.
Das macht auch die Kölner Anwaltskanzlei Wilde Beuger Solmecke. „Wir helfen. Wir kämpfen für Sie“ steht im Google-Banner. So ähnlich klingen die Versprechen bei allen. Als ich nach dem Treffen mit Frommer auch noch mit Christian Solmecke telefonierte, dachte ich, dass ich von ihm vielleicht die andere Hälfte der Wahrheit hören würde. Das, was mir Frommer nicht erzählt hatte. Aber so einfach funktioniert das nicht in der Abmahnwelt. In gewisser Weise waren beide Gespräche sehr ähnlich. Nicht inhaltlich - Solmecke behauptete in vielen Punkten das Gegenteil von Frommer. Man habe gute Chancen, gar nichts zu zahlen, nur sechs Prozent der Abgemahnten würden verklagt werden und die Abmahnanwälte würden am höheren Schadenersatz kräftig mitverdienen. Es gebe Geheimverträge, die nur Industrie und Anwälte kennen würden.
Christian Solmecke - der Anti-Abmahnanwalt Foto: privat
Letztlich klangen beide Gespräch ähnlich, weil beide Männer sich als Kämpfer für die gute Seite darstellten. Wenn Frommers Firma also der Deichgraf ist, der die Löcher im Damm des Urheberechts zustopft, müsste Solmecke der tapfere Bursche sein, der die Bauern wegreißt, die dem Deichgraf unter die Hufe geraten. Oder so ähnlich. Das Bild, bei dem es nur edle Retter gibt, funktioniert nicht wirklich. Denn ob man abmahnt oder verteidigt, es bleibt immer auch ein Geschäft.
Die Abmahner fordern im Namen der Rechteinhaber viel Geld, vielleicht zu viel. Aber auch die Gegenanwälte verdienen an dem System. Und keiner von ihnen kann garantieren, dass der Klient nicht letztlich vor Gericht landen und noch mehr zahlen wird, auch wenn viele so tun, als wäre das so wahrscheinlich wie ein Flugzeugabsturz.
Ich hatte übrigens Glück - meine Freunde, die in meiner Wohnung Serien heruntergeladen hatten, übernahmen die Verantwortung und zahlten die Rechnung. Ich frage mich allerdings, was wäre, wenn sie das nicht getan hätten. Und was ich jetzt mit Gästen machen soll, neben der Bitte, in meinem Netz keine Gesetze zu brechen.
Mohammed, der syrische Flüchtling, darf die Kosten für seine Abmahnung über zwei Jahre abstottern.
Meine abgemahnte Freundin hat wenig Geld. Sie hat einen Gegenanwalt beauftragt, der halb so viel berechnet wie die Abmahner. Sie hofft, dass sich die Sache damit erledigt hat.
Wenn allein ich diese drei Fälle kenne, muss das bedeuten, dass es noch viel mehr Menschen geben muss, die in diesem System zu hart oder ungerecht bestraft werden. Ist es deswegen böse? Nein. Aber gut ist es auch nicht.
Illustration: Veronika Neubauer