Jeder in Sokol kennt den alten Sergej, und Sergej kennt jeden – nur seine neuen Nachbarn, die kennt er nicht. Der alte Mann zeigt auf das Haus mit den blauen Dachziegeln, das er den Pionierpalast nennt, weil es vor neun Jahren der erste dieser neuartigen Prunkbauten war. Nach und nach verschwinden die alten Häuser von Sokol, um Platz zu schaffen für die Luxusbauten neureicher Nachbarn. „Neureiche? Oligarchen sind das, Banditen!“, schimpft Sergej.
Sein ganzes Leben hat er hier verbracht, 84 Jahre. Er verweilt ungern vor den meterhohen Einfahrtstoren seiner neuen Nachbarn, denn wer länger davor stehen bleibt, erregt Misstrauen. Mauern und blickdichte Zäune sind mit Kameras bespickt, die wie Köpfe argwöhnischer Strauße in die Nachbarschaft spähen.
Sergej wirkt nicht wie einer, der es mit den Reichen und Mächtigen von Moskau aufgenommen hat: der Rücken gekrümmt, die Haare adrett geglättet auf seinem mit Altersflecken gesprenkelten Kopf, der ihm mit den Jahren zwischen die spitzen Schulterblätter gesackt ist. Doch es ist ihm ernst. Er ballt seine linke Faust, streckt sie in die Höhe und sagt leise: „Wir kämpfen.“ Die Faust bleibt einen Moment erhoben. Der alte Mann lächelt, als wisse er um seinen unfreiwillig komischen Anblick: ein Widerstandsrentner, der in gebügelten Bundfalten und mit einer winzigen Aktentasche unterm Arm durch seinen Heimatort spaziert. Linden, Eschen und Ahorne stehen Spalier, die Sommergärten duften. Ein Dorf inmitten der Millionenmetropole Moskau.
Sokol ist seit einigen Jahren ein Objekt der Begierde. Immobilienhändler haben das Dorf für schwerreiche Kunden entdeckt. Nur in London wohnen mehr Milliardäre als in Moskau. In Sokol spitzt sich eine Frage zu, die weltweit immer häufiger gestellt wird: Wem gehört die Stadt? Ob Berlin-Neukölln mit seinem Reuterkiez oder Manhattans SoHo-District. Überall ziehen Wohlhabende in ehemalige Arbeiterviertel, wandeln sich Problembezirke zum Szenekiez. Die Mieten explodieren, Alteingesessene müssen wegziehen. Doch auf Russlands Immobilienmarkt geht es besonders brachial zu. In der Stadt Toljatti etwa wurden gleich drei Architekten und Stadtplaner ermordet – angeblich, weil sie sich den Planungen der Immobilienmafia widersetzen wollten.
In seiner Kindheit, als Sokol noch ein Dorf weit außerhalb der Stadt war, fuhr Sergej manchmal in der Pferdekutsche zur Universität von Moskau (heute Lomonossow-Universität), wo sein Vater das Institut für Französisch leitete. Zwei Stunden brauchte er für den Weg. 1931 kam die Straßenbahn, 1938 die Metro. Heute rollen weiße Sportwagen mit verdunkelten Scheiben durch die Straßen von Sokol, vorbei an den schrottreifen, moosbedeckten Ladas, die in einem der Vorgärten ihre letzte Ruhe gefunden haben. Sokol liegt inzwischen von Wohnriegeln und Bürotürmen umzingelt, Bahngleise und eine sechsspurige Straße schneiden die Siedlung an zwei Seiten.
Sergej geht über den Parkplatz neben dem Museum, den sie im Winter noch immer zum Schlittschuhlaufen für die Kinder fluten. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges über den deutschen Faschismus, kocht seine Frau in ihrer Gulaschkanone für die Nachbarschaft. Und Hochzeiten feiern sie in Sokol wie eh und je zwischen bunt leuchtenden Dahlienrabatten und Johannisbeersträuchern.
Sergej kennt die Biografien der Menschen, weiß alles über ihre Häuser. Über einen grün gestrichenen Lattenzaun hinweg winkt er seiner Nachbarin Galina zu, einer pensionierten Ingenieurin, die in den sechziger Jahren über das sowjetische Raumfahrtprogramm in der Wüste Kasachstans wachte. Nebenan wohnt die Familie des ehemaligen Botschafters auf Kuba, dort drüben leben die Enkel des Bildhauers Faydysch-Krandiewsky, dessen Kosmonautenstatuen die Hauptstadt zieren. In Sokol wohnten und werkelten Ärzte, Diplomaten, Geologen, Schriftsteller und Helden der sozialistischen Arbeit, heute längst ergraute Köpfe der Sowjet-Intelligenzia. Der alte Mann ist einer von ihnen: Sergej Sergejewitsch Tserewitinow, Nuklearphysiker, unermüdlicher Erfindergeist, Inhaber von 30 Patenten. Wissenschaftler durch und durch. Sein Berner Sennenhund, der im Vorgarten tobt, heißt Yandex, benannt nach der größten russischen Suchmaschine.
Im Museum erzählt Sergej die Geschichte seines Heimatviertels: Sokol bedeutet Falke, eine alte Ortsbezeichnung, die entstand, weil die Zaren an diesem Ort früher vor den Toren Moskaus auf Falkenjagd gingen. „Eines Tages schlug ein schwerer Sturm eine Lichtung in den Wald. An dieser Stelle entstand 1924 das Dorf. Manchmal kommen die Falken heute noch hierher.“
Sokol wurde als futuristische „Gartenstadt“ geplant, ein experimentelles Gegenmodell zu den Mietbaracken und Massenwohnblocks, die in Zeiten akuter Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg wucherten. In Sokol sollte eine moderne Form des Zusammenlebens erprobt werden, ein inspirierender Ort für die Elite aus Kultur und Wissenschaft. Zugleich war es auch der Versuch, die klügsten Köpfe des Landes in einer Exklave vom Rest der Bevölkerung abzuschirmen. Berühmte Architekten, angeregt von Koryphäen wie Le Corbusier, verewigten sich in den 118 Häusern von Sokol, jedes einzigartig, vom geduckten Holzblockhaus, in dem Sergej und seine Frau leben, bis zum spitzgiebligen Klinkerkästchen in Pastelltönen. Inspiriert von der Idee der englischen Stadtgärten verengten Landschaftsplaner die Straßen so geschickt zum Ende hin, dass sich der Eindruck langgezogener ländlicher Alleen verstärkte.
Privater Grund blieb in der Sowjetunion für die meisten unerreichbar. Umso beliebter waren die Gärten der Datscha-Siedlungen außerhalb der Städte, zu denen die Familien am Wochenende mit dem Zug fuhren. Wohnen und Wohlfühlen, strikt getrennt. Anders in Sokol: Die Bewohner durften um ihre Häuser Gärten anlegen. „Die Gärten sind bis heute unser eigentliches Privileg“, sagt Sergej mit Blick auf sein verwildertes Grundstück, auf dem Hortensien blühen und bucklige Apfelbäume Schatten werfen.
Auf der Veranda kramt er ein Buch hervor: „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow. Der alte Kirschgarten, der keine Ernte mehr abwirft, symbolisiert den Untergang des russischen Zarenreichs: Prächtig, aber gesellschaftlich überkommen, wird der Garten schließlich abgeholzt. Wie der Kirschgarten, so steht auch Sokol nur noch für die verblühende Schönheit, die zur historischen Kulisse ohne Nutzen erklärt wird.
Sergejs Idyll ist bedroht. Der Mietpreispegel in Moskau steigt, die Investmentwelle schwappt über auf Sokol, die grüne Insel im Häusermeer aus Beton, Glas und Stahl.
Der Vertreter einer Sicherheitsfirma läuft grußlos vorbei. Er zieht von Tür zu Tür und bietet Alarmsysteme an, inklusive bewaffneter Trupps, die schon jetzt in Jeeps durch Sokol patrouillieren und am Spielplatz Mittagspause machen, während Kinderstimmen und Vogelgeschwätz im Baulärm untergehen.
Die Ureinwohner von Sokol haben Angst. Sie erzählen von Morddrohungen. Und erst im vergangenen Jahr brannte eines der alten Holzhäuschen auf mysteriöse Weise ab. Ermittlungen hat es nie gegeben. Den Wiederaufbau konnten sich die alten Eigentümer nicht leisten. Sie verkauften ihr Grundstück und sind überzeugt, den Machenschaften einer skrupellosen Immobilienfirma zum Opfer gefallen zu sein.
Sergej bekommt ständig Angebote, am Telefon oder in Briefumschlägen, die hinter den Fensterkästen stecken. Bis zu 13 Millionen Dollar war sein Grundstück manchem wert. Sergej hat stets abgelehnt. „Nur über meine Leiche!“ sagt er bestimmt. Einige Nachbarn sind schon auf die Angebote eingegangen, zumal viele der alten Häuser teure Restaurationen benötigen. Die meisten Bewohner möchten jedoch wie Sergej in Sokol bleiben. Sie wollen verhindern, dass ihre Häuser in die Hände der Immobilienhändler gelangen und vermutlich abgerissen werden.
Sokol wird nicht zum ersten Mal attackiert. Eine Tramstrecke, die die Nachbarschaft durchtrennt hätte, haben Sergej und seine Mitstreiter schon verhindert. Und als die Führungskader der Kommunistischen Partei das Dorf abreißen wollten, um an seiner Stelle eine Feriensiedlung zu errichten, da besorgten die Widerständler die Gründungsurkunde, unterschrieben vom Parteivorsitzenden Lenin, dem Sokol eine Herzensangelegenheit war. Sergej schmunzelt. „Wir mussten das Nationalarchiv schmieren, damit sie die Dokumente rausrückten.“ Die Intervention war erfolgreich: Sokol blieb unangetastet. 1979 wurde das Viertel gar zum staatlich anerkannten Denkmal ernannt – ein Prädikat, das ansonsten Stätten wie Lenins marmornem Mausoleum auf dem Roten Platz vorbehalten blieb.
Es hätte das Ende der Geschichte sein können. Doch dann kam der Zusammenbruch der Sowjetunion, machte einige Wenige sehr schnell sehr reich und Rechtssicherheit zu einer Frage des Kontostandes. Die Leute nennen die Mächtigen dieser Ära Novi Russki: die Neuen Russen.
Elena Jurgenewa hat den großen Umbruch als Jahre des Booms erlebt. Seit 1993 ist sie Maklerin bei Newmark Grubb Knight Frank (NGKF), einem der nach eigenem Bekunden weltweit größten Immobilienunternehmen, mit Filialen in 43 Ländern, dessen „Zu verkaufen“-Schilder auch an vielen der hohen Mauern von Sokol hängen. Jurgenewa empfängt ihre Kunden im „Countryside Office“ an der Rubljowka, inoffizieller Name der berühmtesten Landstraße Russlands, an der die Neuen Russen in den neunziger Jahren am Rande Moskaus Prunkvillen im Disneylandstil aus dem Boden stampften. Auch Präsident Putin wohnt hier in einer von dutzenden „Gated Communities“.
Das „Countryside Office“ könnte dem Cover eines „Schöner Wohnen“-Magazins entsprungen sein: kleine rot-weiß karierte Kissen, helle Möbel, flauschige Teppiche, im Hintergrund schnauft eine Espressomaschine. Durch die Fenster blickt Elena Jurgenewa auf eine Werbetafel. „Thank God I’m really VIP“ steht da, Weiß auf Schwarz. Die Maklerin trägt ein geblümtes Sommerkleid und hochhackige Schuhe, ihre blonden Haare hat sie am Vortag machen lassen – „für 2.000 Dollar, die Frisur muss noch mindestens zwei Tage halten“. Ein flüchtiges Fingerwischen auf ihren zwei Smartphones – eines überzogen mit Leopardenfell-Imitat, das andere mit Anakonda-Plastikhaut – dann richtet sie sich im schwarzen Ledersessel auf und lächelt ihr perfektes Verkäuferinnenlächeln. In der Haus- und Wohnungssparte, die sie leitet, arbeite NGKF ausschließlich im High-End-Bereich, betont Jurgenewa. Sie verkauft Villen und Luxuslofts in Moskau und St. Petersburg, jettet mit ihren Kunden aber auch um die Welt, „nach London, um ein Haus für die Kinder zu kaufen, solange sie dort auf eine Eliteschule gehen; um ein zweites, drittes, viertes Urlaubsdomizil in Nizza, Miami oder Baden-Baden zu suchen“.
Jurgenewa schwärmt: „Sokol ist einzigartig.“ Die Enklave mit ihrem pittoresken Charme ist ein Filetstück auf dem Speiseplan des Immobilienmarkts: geschichtsträchtig, grün und nah an der City. Mit durchschnittlich 23.000 Dollar kostet der Quadratmeter in Sokol inzwischen mehr als an der berüchtigten Rubljowka. Damit zählt Sokol zu den teuersten Nachbarschaften der Welt.
„Früher hätte man diese Ganoven nach Sibirien verbannt“, schimpft Sergej. Es ist eine Ironie des Schicksals: Sergej fordert, Sokol originalgetreu zu erhalten. Und genau dadurch wird der Ort immer lukrativer für die Investoren, die es auf Sokol abgesehen haben, wobei sie den Charme mit ihren Neubauten nach und nach zerstören.
Kurzfristige Rendite dank langer Tradition. Denkmalschutz ist da eher hinderlich. Die Bauherren besorgen mit Schmiergeld die notwendigen Lizenzen vom Bauamt, das über den Denkmalschutz wachen sollte. Häufig genug reißen sie die alten Häuschen aber auch ohne Genehmigung ab, eine Strafzahlung ist fest einkalkuliert. Teils müssen gleich zwei Häuser dran glauben, damit auf den zusammengelegten Grundstücken gebaut werden kann. Der Baugrund in Sokol ist inzwischen derart attraktiv, dass die Investoren in vielen Fällen zunächst schlüsselfertige Leichtbauhäuser auf die Grundstücke stellen – billige Platzhalter, die bei Bedarf abgerissen werden, wenn der spätere Grundstückskäufer seine eigentliche Villa zu bauen gedenkt. Eine Klage kommt meist zu spät. Vor Gericht hat Sergej die abenteuerlichsten Ausreden gehört: „Die neuen Besitzer erzählen allen Ernstes, sie seien im Urlaub gewesen und in dieser Zeit hätten die Bauarbeiter eigenmächtig entschieden, das alte Haus abzureißen.“
Konstantin Michailow kennt viele Fälle von Korruption und Brutalität im Baugeschäft. Er wohnt ebenfalls in Sokol und ist einer der Gründer von Archnadzor, einer Organisation, die sich für den Schutz des alten Moskaus einsetzt und zu Sergejs wichtigstem Verbündeten geworden ist. „Das Bauamt versprach, den illegalen Abriss der alten Häuser zu untersuchen. Ob diese Untersuchungen je stattgefunden haben, wissen wir nicht. Ergebnisse wurden jedenfalls nie veröffentlicht.“ Michailow sieht noch ein anderes Problem: „Der Gemeinderat von Sokol gibt sich zunehmend intransparent.“ Seine Vermutung: Die neureichen Nachbarn versprechen der Gemeinde finanzielle Unterstützung für neue Stromleitungen oder Straßenreparaturen, im Gegenzug drücke der Gemeinderat beim Thema Denkmalschutz beide Augen zu.
Sergej hat eine andere Erklärung: „Der Gemeinderat wird unterwandert!“ Fünfzig Jahre lang war er Vorsitzender des Gemeinderats, heute ist er Ehrenpräsident. Ausgerechnet eine historisch verbriefte Sondergenehmigung, auf die sie in Sokol bis heute stolz sind, könnte dem Dorf zum Verhängnis werden: Während die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) für gewöhnlich das Leben ihrer Genossen durchorganisierte, erhielt die Sowjet-Intelligenzia von Sokol das Recht, ihre Angelegenheiten auf eigene Faust im Gemeinderat zu regeln. Das lief jahrelang hervorragend. Doch mit jedem neuen Nachbarn wächst die Macht der Zugezogenen im Gemeinderat, der von allen Anwohnern gewählt wird und bei Baumaßnahmen das letzte Wort hat. Schon jetzt ist ein Drittel der alten Häuser abgerissen, entsprechend haben sich die Verhältnisse im Gemeinderat verschoben. „Noch sind wir in der Überzahl“, sagt Sergej. „Noch können wir die Leute wählen, die das alte Sokol bewahren wollen.“
Sergej hat schon einen Weltkrieg, zwei Herzinfarkte und ein Ödem im Hirn überlebt. Was passiert mit Sokol, wenn er eines Tages stirbt? Sergej lächelt müde. Die Ärzte raten ihm zu einer Operation am Herzen. Die kann er sich nicht leisten, obwohl er doch auf einem Grundstück mit Millionenwert hockt. Er müsste bloß verkaufen.
Aufmacherbild: Sokol und seine denkmalgeschützten Häuser - eine Idylle im Schatten von Türmen aus Glas und Beton. Foto: Wilma Leskowitsch