Die Freunde, bei denen ich wohne, machen bereits Frühstück. Sie stehen früh auf, weil ihre Kinder in der Wohnung rumrennen, sorglos und rastlos. Ich setze mich zur Tochter, die mit Knetmasse spielt, und wir formen Tiere. Kühe, Knete in Kuhform - ohne ersichtlichen Grund erinnert mich das an Griechenland.
Wie wohl Griechenland aussieht, fragt sie ihr Vater. “Es sieht wie Europa aus”, antwortet sie. Wie in aller Welt kommt ein sechs Jahre altes Kind auf einen so guten Slogan? Ich möchte ihr eigentlich gerne erklären, dass Griechenland wirklich zusammengewürfelt aussieht, wie Europa, der Mittlere Osten, der Balkan und die USA. Denn Griechenland war immer die Kreuzung zwischen Kulturen und geopolitischen Interessen. Aber ich ziehe es vor, diese Erklärung der Schule zu überlassen.
Ich bin nun auf dem Weg nach Neukölln, um Margarita Tsomou zu treffen, eine der Herausgeberinnen von [Missy Magazin](http://Missy Magazin), einem feministischen Pop-Magazin, Mitarbeiterin von einigen der größten nationalen Tageszeitungen, Aktivistin und Künstlerin. Sie ist auch live im deutschen Fernsehen aufgetreten, mit welchem Thema wohl?
Griechenland. Und darüber sprechen auch wir beide. Wut und Frustration sind die beiden wichtigsten Gefühle, die man bei ihr bemerkt. Sie ist über die Art und Weise verärgert, wie die griechischen und die internationalen Medien über die Krise informieren. Vor allem ist sie aber darauf wütend, wie die griechischen Medien über das Referendum berichtet haben.
Margarita ist in Deutschland ziemlich bekannt. Wenn ich es richtig verstehe, gilt sie als eine kompromisslose Stimme Griechenlands in Deutschland. „Ich habe im vergangenen Jahr Hass-E-Mails bekommen”, erzählt sie mir. “Gerade jetzt und in den letzten fünf Jahren, wegen der Krise und der Geldsummen, die Deutschland für Griechenland ausgegeben hat, gibt es Rassismus und Hass gegen die Griechen. Vorher gab es so etwas nicht.” Margarita hat einige Jahre ihrer Kindheit in Deutschland verbracht und hier auch Theater- und Kunstwissenschaften studiert. “Bei den Deutschen ist die Arroganz gewachsen, sie halten seit ein paar Jahren sehr viel von sich selbst, sie fühlen sich zu stolz und halten sich für bessere Europäer als der Rest von Europa. Ich bin von der Haltung der Deutschen enttäuscht, an den anderen alles zu kritisieren. Die Deutschen verstehen deren Nationalismus nicht.”
Aber Margarita ist nicht nur von den Deutschen enttäuscht, auch die Situation in Griechenland frustriert sie und macht sie ärgerlich. Sie hatte von Syriza mehr Schritte in Richtung radikale Linke erwartet, und das macht sie sauer. „Tsipras ist der naivste Politiker in der Geschichte Europas“, sagt sie. Aber wie kann andererseits Syriza gute Leistungen bei den Verhandlungen erzielen, wenn ihnen ständig die Tür vor der Nase zugeschlagen wird?
„Der Grexit an sich ist kein Dilemma. Der Grexit ist Teil eines breiten politischen Projektes der Eliten”, sagt sie und fährt fort: “Es wäre ein politisches Projekt für Griechenland, die Eurozone zu verlassen. Aber das Land müsste zunächst völlig autonom werden.“
Irgendwann lese ich auf Twitter, dass nach einer ZDF-Umfrage 50 Prozent der Deutschen glauben, dass #Griechenland in der #Eurozone bleiben sollen und 45 Prozent sich den Grexit wünschen. Ich frage mich, ob Margarita richtig liegt, und das frage ich auch einige andere griechische Freunde, die ich „downtown“ Neukölln treffe. Sie wissen es nicht wirklich, was sie aber wissen ist, dass die deutsche Bevölkerung in der Frage wirklich gespalten ist, wie die Griechen auch, und das ist alles. Sie wollen nicht über Politik reden.
Alles, was sie tun möchten, ist in „die Kneipe“ zu gehen - ein Begriff, der im Griechischen als abwertende Bezeichnung für eine dekadente Bar verwendet wird, wo sich Migranten treffen und billiges Bier trinken. Sie machen sich über diesen Begriff lustig, weil er “retro” ist, aber sie bleiben dabei: Sie wollen nicht über Politik reden, denn es ist Samstagabend, und das letzte, was sie wollen, ist, diesen Abend durch Streitereien zu ruinieren. Sie haben die ganze Woche hart gearbeitet, und die Samstagnacht verspricht Freizügigkeit. Unser erster Halt ist eine hippe Künstlerkneipe, in der es billiges Bier gibt.
Alle Leute, mit denen ich heute abhänge, sind Griechen, sie haben einen Hochschulabschluss und wahrscheinlich einen Master, sie sind DJs, an Filmen und Kunst interessiert, und sie haben einen normalen Bürojob für einen 30-jährigen, der vor einigen Jahren nach Berlin gekommen ist. Es sind Leute, die mir sagen, in Neukölln mit seinen vielen kleinen Bars lebten nur Hipsters und Migranten und sonst niemand. Alle meinen, dass Hipster aus dem Süden Europas und Wanderarbeiter aus dem Nahen Osten oder Nordafrika etwas gemeinsam haben. Sie reißen sich den Arsch auf, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Egal, ob man Four Tet hört mit Omar Suleyman und Marihuana raucht oder nur Omar Suleyman hört und eine Shisha raucht, der soziologische Grund, den man in Neukölln betritt, ist Boden der Wanderarbeiterklasse, der billig und immer noch nicht gentrifziert ist.
Vor fünfzig Jahren kamen Arbeitnehmer aus allen südeuropäischen Staaten nach Deutschland, um die Produktion anzukurbeln und die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Derzeit strömen hochqualifizierte Arbeitskräfte erneut aus dem Süden zur Unterstützung der Wirtschaft nach Deutschland und um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Den einzigen Unterschied, den ich sehe, ist, dass früher die Wanderarbeiter nur die Arbeit mit ihren Körpern und Händen verkaufen konnten, während sie jetzt gut ausgebildete und wohl überqualifizierte Arbeitskräfte sind.
Doch nicht nur die Form und Art der Arbeit hat sich gewandelt, auch „die Kneipe“ hat sich verändert. Damals könnte aus ihr langweilige Volksmusik getönt haben, und paar Songs aus jedem Land waren in der Juke-Box. Heute ist „die Kneipe“ wahrscheinlich eine hippe moderne Bar oder ein alternativer Künstlerclub mit Aquarien ohne Wasser, voll mit Kunststoff-Fischen und aufblasbaren Haien, seltsamen Postern, zusammengeknüpften Stühlen, mit Samtvorhängen, die die kitschige Tapete verhüllen. Die Musik ist international geworden, alle hören dasselbe.
Es wäre wirklich unfair, von kultureller Globalisierung zu sprechen. Nennen wir es einfach „moderne westliche Weltkultur“ und lasst uns damit durchkommen. Am Ende der Nacht isst jeder Döner oder Falafel-Sandwiches, und am Ende des Wochenendes schläft jeder den Schlaf der Gerechten, um wieder fit zu werden eine anstrengende Arbeitswoche. Noch immer Migranten, noch immer Arbeiter, aber auch Griechen und noch immer verschuldet.
Es ist Sonntagmorgen, und ich breche mit einem griechischen Freund zu einem langen Spaziergang auf. Wir haben zusammen studiert, unseren Abschluss in Ingenieurswesen an der Technischen Universität gemacht. Aber jetzt machen wir beide etwas ganz anderes, als wir studiert haben. Was ich mache, haben Sie mitbekommen. Er arbeitet für eine große und sehr bekannte Firma aus dem Bereich Digitales, die eine Filiale in Berlin hat.
Wir beschließen, den sonntäglichen Flohmarkt am Boxhagener Platz in Friedrichshain zu besuchen und in einem der kleinen Cafés rund um den Platz zu frühstücken.
An der Kreuzung Krossener und Gabriel-Max-Straße zieht ein Musiker in skurriler Kleidung eine erstaunliche Show ab. Er hat einen Synthesizer, ein Mikrofon und einen Verstärker und spielt einige techno-inspirierte Melodien mit ekstatischen Texten. Mein Freund schaut auf die kleine Gruppe, die immer größer wird, ihm zujubelt, ihm Geld gibt. Einige tanzen sogar. Jedes Mal wenn ein Euro fällt in seinen Becher fällt, stoppt das Delirium eine Sekunde, und ein “Dankeschön” wird zurückgerufen. “In Griechenland ist es so elend, niemand würde das tun. Spielen oder anfeuern”, sagt mein Freund. Wir machen uns auf zum Frühstück.
In dem kleinen Café gibt es nur Platz an einem Tisch, an dem eine Spätdreißigerin sitzt und ihren Kaffee in kleinen Schlückchen trinkt. Sie sieht, dass wir einen Tisch suchen, und lädt uns freundlich ein, uns zu ihr zu setzen. Wir sprechen Griechisch, wir haben uns lange nicht gesehen, es gibt eine Menge zu erzählen. Irgendwann fragen wir sie, welche Sprache wir sprechen. Sie denkt, wir sprechen Tunesisch! Als wir ihr sagen, dass wir Griechen sind, fragt sie als erstes nach der Lage in Griechenland. Sie ist eine hochbezahlte und sehr elegante Innenarchitektin - und radikale Linke. Ihrer Überzeugung nach hätte sich Tsipras für den Grexit entscheiden sollen, und dass nur die Menschen in Griechenland über ihr Schicksal entscheiden sollten und niemand anderes. Sie wünscht uns viel Glück und lässt uns mit unserem Frühstück allein.
Wir spazieren durch Friedrichshain. Mein Freund besucht einen Typen, um ein paar seltene Vinylschallplatten zu kaufen. Ich schaue einem langen Konvoi aus Zirkus-Wagen auf der Proskauer Straße nach.
Auf der Warschauer Straße vor der Oberbaumbrücke sitzt ein Mann auf der Fahrbahn und zeigt den Autofahrern den Mittelfinger. Die Polizei trifft ein und entfernt ihn von der Straße. Ein rotes Wasserflugzeug fliegt über unsere Köpfe.
Von Friedrichshain wechseln wir nach Kreuzberg und durchqueren den Stadtteil. Plötzlich sind wir wieder in Neukölln, und mein Freund findet drei weitere Vinylschallplatten auf einer Fensterbank.
“Du gehst durch die Straßen und du findest Vinylschallplatten. Das ist Berlin, du findest überall Zeug. Vielleicht kannst du sogar einen Job daraus machen”, sagt mein Freund. Wir sprechen über steigende Mieten, über Leute, die Flaschen für acht Cent das Stück sammeln oder PET-Flaschen und Aluminium-Dosen, die 25 Cent pro Stück bringen.
Wir organisieren ein paar Bier auf dem Weg aufs Tempelhofer Feld. “Dahin gehe ich, wenn ich traurig und müde bin.” Was ist mit dem Schnee im Winter? „Mit Schnee ist es sogar noch schöner“, antwortet er. Die vier Flaschen geben wir einem Mann, den sie besonders glücklich zu machen scheinen. Und sie sind nicht einmal halb voll, sie sind völlig leer.
Die zweitlustigste Sache, die ich in Berlin entdeckt habe: den Karl-Marx-Grill in der gleichnamigen Straße. Wenn das Lokal in Griechenland wäre, würde dort die gesamte Linke Souvlaki essen gehen.
Ich treffe Andreas Ianetta einen Italiener, der Filmemachen in Indien studiert hat. Er ist sehr betroffen und auch besorgt über die Zukunft des europäischen Südens und Europas insgesamt. Er ist “gerade in einer Zwickmühle”. Er will nicht nach Italien zurück, das er nicht mag, weil die Menschen dort keinen Respekt haben. “Sie halten keine Regeln ein, das System ist schlecht, ineffizient, es mangelt an Gerechtigkeit, Verdienste werden nicht ernst genommen. Und andererseits kann ich mich hier nicht wirklich zu Hause fühlen, wegen der Sprache, der Kultur, und des Systems, das für jemanden von außen gänzlich unergründlich ist”, sagt er. Nach drei Jahren, und obwohl er wirtschaftlich gesichert ist und auch eine deutsche Freundin hat, fühlt er sich hier nicht wirklich integriert.
Wohl deshalb erzählt er mir, dass er der erste wäre, der nach Griechenland zöge, wenn das Land die Eurozone verlassen würde. „Ich als Grieche hätte mit ‘Ja’ gestimmt, und zwar aus dem Grund, dass es besser ist, in der Eurozone zu bleiben und von innen heraus für einen Wechsel zu kämpfen. Das wäre aus meiner Sicht besser gewesen als herauszugehen.“
Doch dann bringt er ein philosophisches Dilemma mit dem Grexit zur Sprache. „Du befindest dich in einem Heißluftballon, der an Höhe verliert, und du musst dich von einem dieser Schwergewichte trennen: entweder vom Euro oder von der Demokratie. Was wirst du wählen? Ich bin Italiener und du Grieche, ich denke, wir können uns bei diesem Thema verstehen. Die Demokratie wurde in deinem Land erfunden, autoritäre Regierungssysteme kennen wir beide aus schlechten Zeiten. Wenn du mich fragst: Ich hätte den Euro abgeworfen und wäre mit der Demokratie weitergeflogen. Das wäre eine mutige Wahl gewesen. Ich mag mutige Entscheidungen. Wenn Griechenland die Kraft gehabt hätte, eine mutige Entscheidung zu treffen, wäre ich nach Griechenland gezogen statt meine Zeit in Berlin zu verplempern, indem ich auf ein europäisches Projekt dringe, das niemand wirklich haben will.“ Das wollte er also mit dem Satz ausdrücken, er wolle nach Griechenland ziehen.
„Aber es ist völlig schiefgegangen, dass ein Grieche das Schicksal in seine Hände nimmt. Am Ende zeigten die Griechen wieder ihre ganze mentale Schwäche. Tsipras unterzeichnete einen antidemokratischen Pakt, der noch schlimmer war als derjenige, den die Griechen bereits abgelehnt hatten. Was für ein Chaos! Indem er das tat, zeigte Tsipras, dass seine Liebe für die Demokratie nur ein großer Bluff war. Das Abkommen wurde unterzeichnet und damit die demokratische Stimme Griechenlands zum Schweigen gebracht. Der Euro gewann, aber nur vorübergehend, denn wir haben keine dauerhafte Lösung bekommen. In einigen Monaten werden wahrscheinlich wieder darüber diskutieren, ob Griechenland in der Eurozone bleibt oder nicht. Es ist eine echte Katastrophe“, sagt Ianetti.
Dann sprechen wir darüber, dass Italien als nächstes dran ist. „In Italien liegt die politische Partei, die aus dem Euro raus will, bei 26 Prozent und wächst weiter und weiter, während die wirtschaftliche Gesamtsituation weiter ziemlich schlecht bleibt. Wenn du weiter fragst, ob Deutschland an einen Punkt kommt, wo es auch Italien helfen muss, dann denke ich, dass das Thema hier in Deutschland nicht richtig kommuniziert wurde. Tatsächlich ist die Frage nicht, ob man faulen und korrupten Menschen im Süden helfen will. Es geht um einen regelrechten Aufruf, ob es den Willen gibt oder nicht, wirklich in das europäische Projekt zu investieren (und damit in echtes Stabilitätssystem, das die wirtschaftlichen Unterschiede der Länder der Eurozone berücksichtigt), inklusive der Übertragung von Souveränität, die diese Investition bedeutet. In diesem Fall sollte das Referendum besser in Deutschland gehalten werden als anderswo, aber auch in ganz Europa. Wenn es ein “Ja” gibt, dann fange an, an einem echten integrierten Europa zu bauen und sperre den Euro für immer ein. Bei einem “Nein”, gehe einen Schritt zurück, demontiere die Eurozone (nicht die Europäische Union), lerne aus dem Fehler und widme dich einem anderen Plan.”
Es ist der 28. Juli und ich fliege heute nach Athen zurück. Die erste Benachrichtigung auf meinem Handy ist, dass Alexis Tsipras heute Geburtstag hat. Er wird 41. Aber nichts mehr von Tsipras, Schäuble, Syriza, Merkel, Grexit.
Ich könnte Tausende von Unterschieden zwischen Athen und Berlin aufschreiben, aber ich konzentriere mich auf zwei, in denen man viele andere wiederfindet: die Straßenmusik und die Cafés. In Berlin spielen die Straßenmusikanten einige lustige Melodien oft aus Spaß; in Athen spielen sie diese deprimierende Musik und fordern Geld. In Berlin sind die Cafés voll von entspannten Menschen, die lachen; in Athen sind sie voll von Menschen mit Angst, rauchend, die dich anschauen und überprüfen, wer du bist und was du trägst.
Aber in beiden Städten sind die Cafés voll. Wahrscheinlich, weil es Sommer ist. Wahrscheinlich, weil, egal was mit der Währung oder den Schulden geschieht, die Menschen immer in den Straßen singen oder Kaffee an einem netten Ort trinken werden. Wahrscheinlich, weil nichts passieren wird. Wahrscheinlich, weil jetzt die Ruhe vor dem Herbststurm ist. Wahrscheinlich weiß ich nicht einmal, worüber ich rede.
Da weckt mich die Stewardess auf und sagt, ich solle mich anschnallen. Wir seien im Landeanflug und würden in fünf Minuten in Athen landen.
Als sich die Flugzeugtür öffnet, kommt eine Hitze wie in der Hölle herein. Zurück in Athen, fühlen sich die sechs Tage in Berlin wie eine erfrischende Pause an. Jetzt bin ich gespannt, wie sich mein deutscher Kollege fühlen wird, wenn er im September von Athen zurück nach Berlin fliegt.